
Rocksängerin Catz hat einen schrägen Ruf, aber sie steht für
ihre Freunde ein. Dazu gehört Clubbesitzer Stu Cole, der in San
Francisco als einer der Letzten der Mafia trotzt und seinen Club
unabhängig zu halten versucht. Eines Nachts taucht bei Catz'
Konzert ein unheimlicher Mann auf. Während er durch die
Menge geht, ändert sich seine Kleidung, seine Hautfarbe, seine
Statur, nur eines nicht: die undurchsichtige Spiegelbrille, die
ihm direkt aus den Schläfen wächst ...
Er ist die fleischgewordene Persönlichkeit der Stadt. Und er hat
die allgegenwärtige Korruption satt. Für Stu und Catz beginnt
eine höllische Achterbahnfahrt durch die Halbweltmilieus der
siechen Metropole: Stadt räumt auf!
Der große Vorreiter der Cyberpunk-Literatur in Neufassung,
von John Shirley überarbeitet, dann vollständig neu übersetzt,
mit einem Vorwort von William Gibson: ein radikaler Roman,
hart, rhythmisch, provokant.
»Die protoplasmische Mutter
aller Cyberpunkromane«
William Gibson

John Shirley
Stadt geht los
Mit einem Vorwort von William Gibson
Deutsch von Hannes Riffel
SF Social Fantasies 2054
ariadne

SF Social Fantasies
Herausgegeben von Else Laudan und Hannes Riffel
www.socialfantasies.de
Titel der amerikanischen Originalausgabe: City Come A-Walkin'
Copyright © 1996 by John Shirley
Vorwort © 1996 by William Gibson
Von John Shirley bei ariadne erschienen
Es werde Licht
Social Fantasies 2046; ISBN 3-88619-946-0
John Shirley, Stadt geht los
Social Fantasies 2054; ISBN 3-88619-954-1
Deutsche Erstausgabe der vom Autor überarbeiteten Neufassung
Alle Rechte vorbehalten
© Argument Verlag 2000
Eppendorfer Weg 95a, 20259 Hamburg
Telefon 040 / 4018000 Fax 040 / 40180020
www.argument.de
Lektorat: Else Laudan
Texterfassung durch den Übersetzer
Umschlaggestaltung & Satz: Martin Grundmann
Belichtung: Satzwerk, Göttingen
Druck: Alfa Druck, Göttingen
Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier
ISBN 3-88619-954-1
Für jede Frau, die sich je mit mir abplagen musste
Vorwort
von William Gibson
John Shirley war der prototypische Patient des Cyberpunk,
die erste Manifestation des Virus, erwiesenermaßen hochgradig
ansteckend. Ein Überträger. Stadt geht los ist Beweis dafür und
mehr. (Als ich es kürzlich nochmals las, stieß mir schon ein
wenig auf, wie sehr all meine frühen Texte diesen Roman nach-
ahmen.)
Aufgepasst, Bildung winkt: Die Stadt-Avatare in Stadt sind
wahrscheinlich die Vorläufer sowohl des vernunftbegabten
Cyberspace als auch der KIs1 in Neuromancer, und ja, es sieht
eindeutig so aus, als wäre Mollys chirurgisch eingepflanzte
Spiegelbrille der nachempfunden, die City an den Schläfen
direkt in Haut und Schädelknochen wächst. (Shirley selbst
wurde bald stolzer Besitzer eines Kassengestells von Bausch &
Lomb: eine Ur-Spiegelbrille.) Die Atmosphäre des Buches, nahe
Zukunft im Post-Punk-Milieu, ist auf die Spitze getriebener
Cyberpunk, satte zwei Jahre vor Bladerunner2.
So ist dies also und zwar in jedem Sinn ein zukunftswei-
sendes Werk; fast alle Elemente der noch ungeborenen Bewe-
gung treiben hier in den schimmernden Wirbeln von Shirleys
literarischer Verve.
Dieser Junge aus Oregon mit seiner Spiegelbrille.
Der Junge aus Oregon in der Rückschau mit einer strähni-
gen, schmutzigblonden Locke in der Stirn, um seinen Hals ein
Gürtel aus Zeiten einer längst ausgestorbenen Lackglanz-Mode:
orangefarbene Schweinshaut, zünftig verrottet, um die rohen
Glieder einer sich hindurchziehenden Metallfeder zu zeigen:
>Johnny Paranoid<3 zuckte wie ein galvanisierter Frosch auf der
Sperrholzbühne einer Kellerkneipe in Portland herum. Wirk-
lich außergewöhnlich. Und, sagte er, er hatte bei Clarion4 mit-
gemacht. Ob ich beeindruckt war? Und wie!
Ich lernte Shirley kennen, als ich mich erstmals am Schreiben
versuchte. Oder besser gesagt, ich hatte angefangen und das
ganze Projekt dann hingeschmissen, aber dieser Mensch aus
Portland beschämte mich derart, dass ich wieder anfing dieser
Frontmann einer Punkband, der tagsüber Sciencefiction
schrieb. Zu diesem Zeitpunkt auf Shirley zu treffen war absolut
entscheidend, wurde zum Dreh- und Angelpunkt meiner
Karriere. Er glich einem Totem: Er war einfach da, zimmerte
diese Geschichten zusammen und montierte sie mitten in der
Wüste der Norm, wo ihre hastig gestalteten, doch oft atembe-
raubend wild wachsenden Gliedmaßen den Weg in Andere
Welten wiesen.
Allein die Tatsache, dass ein Autor wie Shirley überhaupt
verlegt wurde, wie unangemessen auch immer, war ein unüber-
treffliches Gegengift für das flaue Gefühl, das mich überkam,
wann immer ich im Laden an der Ecke George Scithers' Asi-
mov's SF5 durchblätterte. Die Erstausgabe von Stadt geht los war
im Juli 1980 als Taschenbuch bei Dell erschienen und unterlief
damit den Radar der Genreleser. Angesiedelt in einer >nahen
Zukunft<, die sich beunruhigend wie die Gegenwart anfühlte
(eine Wirkung, die ich seither zu erzielen suche), gespickt mit
für Shirley typischen Obsessionen (die Gegenkultur des Punk,
faschistische Bürgerwehrler, panoptische Überwachungssyste-
me, ekstatische Bewusstseinszustände) entspricht Stadt weniger
einem Sciencefictionroman, der in einer Rock-Halbwelt spielt,
als vielmehr einer Rock-Gebärde, die zufällig in Gestalt eines
Taschenbuchs daherkommt.
Shirley ließ das mit Plastikfolie verhüllte Sofa, das für die
Sciencefiction der Siebziger steht, aufs Schönste in der Versen-
kung verschwinden. Seine Schreibe zu entdecken war wie zum
ersten Mal Patti Smiths Horses zu hören: die archetypische
Form mit großer Leidenschaft neu eingenommen von verdor-
benen und doch eigentümlich unschuldigen Machern, deren
Fähigkeit an sich, dies überhaupt zu tun, unablässig in Frage
gestellt wurde durch die Anforderungen dessen, was im Grunde
eine schamanische Handlung war. Beiden ist eine unbändige
zerlumpte Verwegenheit gemeinsam, ein Gefühl, als suche der
Künstler Verbindung zum Jenseits. Sie beschwören ihre jeweili-
gen Götter herauf (die sich gelegentlich überschneiden, tatsäch-
lich gehörte sie zu den seinen) und stürzen sich aus unterprivi-
legierten Teenager-Schlafzimmern, in der hoch erhobenen
Hand zersplitterte Metaphern, so eigentümlich geformt wie
Gefängnisbesteck.
Mr. Shirley, der mich so lässig auf das Schreiben von Geschich-
ten stieß wie einen Partygast in den Swimmingpool. Rings um
ihn herrschte ein gewisses Chaos, ein Gefühl, als gäbe es zu viele
Möglichkeiten einige davon immer gefährlich: wie als jene
Freundin, die Alice in Tenniels6 Zeichnungen lächerlich ähnlich
sah, sich umdrehte und die puertorikanischen Quartalssäufer
übel und gänzlich unverdient beschimpfte, lange nach Mitter-
nacht in Alphabet City7, während der Besuch aus Vancouver
schreckgelähmt dabeistand und seinen Ohren nicht traute.
»Ignorier sie, Mann«, empfahl J. S. den Puertorikanern, »sie
ist eben aufgedreht.«
Und ja, das war sie. Dazu neigten sie, die Shirleyschen Mä-
dels.
Ich schaue mir Shirley heute an, den erwachsenen Mann, der
sich selbst zum Trotz noch lebt und weiß, dass das keine leichte
Sache war. Eine Katze mit noch ein paar zusätzlichen Leben.
Was mich heute verwundert, ist, wie schnell ich etwas wie
Stadt geht los als gegeben hinnahm. Es gab nichts, was diesem
Roman auch nur im Entferntesten gleichkam, aber ich ging
wohl einfach davon aus, dass es eben Johns Buch war, und John
kam schließlich auch niemand gleich. Stadt zischte und knister-
te, mit einer gottlosen, elektrisch auberginefarben glühenden
Aura, irgendwo zwischen Neon und einem einen Tag alten
Bluterguss Stadt war Beweismaterial für gewisse Möglichkei-
ten, die bis dahin noch niemals benannt worden waren.
Es sollte noch ein paar Jahre dauern, bevor das, was später
Cyberpunk genannt wurde, aus Städten wie Austin und Van-
couver sickerte. Shirley hatte es zu diesem Zeitpunkt irgendwie
in seiner Abfolge von Beziehungen (na ja, eigentlich Ehen
unser Junge war der Typ, der sich kopfüber hineinstürzt) von
New York nach Paris verschlagen, von Paris nach Los Angeles
(wo er heute lebt) und weiter nach San Francisco (hallo, City).
Er machte mir Höhenangst. Ich glaube, mit der Zeit erwarteten
wir genau das von ihm als dem magnetisch anziehenden Ver-
rückten unseres Stammes, und wir blinzelten überrascht, als er
allmählich sein Leben in sichere Bahnen lenkte. Heute lebt er
im Valley8 und schreibt für Film und Fernsehen, doch es gibt
Gerüchte, dass er ein neues Buch9 in Arbeit hat. Darauf freue
ich mich sehr. Unterdessen können wir uns bei dem Verlag
bedanken, der die protoplasmische Mutter aller Cyberpunk-
Romane neu herausbringt: Stadt geht los.
Vancouver, 31. März 1996
1 »Künstliche Intelligenzen«, vernunftbegabte Computer
2 bahnbrechender SF-Film (1982, Literaturvorlage: Philip K. Dick) mit
Harrison Ford, Rudger Flauer; Regie: Ridley Scott
3 kurz darauf schreibt William Gibson seine Erzählung Johnny Mnemonic
(1981 erschienen)
4 Clarion Writers Workshop: angesehener Autoren-Workshop für Science-
fiction in den USA
5 Asimov's SF: einflussreiches SF-Magazin im Digest-Format, unter Schirm-
herrschaft des gleichnamigen Autors gegründet
6 John Tenniel, der klassische Illustrator von Alice in Wonderland
7 Stadtteil von New York, wo die Straßen mit Buchstaben bezeichnet sind
8 in der Gegend um Hollywood
9 Silicon Embrace, deutsch: Es werde Licht (Argument/Ariadne 1999)
Intro
In einem Aufnahmestudio rückte eine junge Frau ihren
Kopfhörer zurecht und gab dem Mann am Mischer ein Zeichen.
Der Tontechniker auf der anderen Seite der Glasscheibe nickte
und drückte auf einen Knopf, der die Instrumentalbegleitung
abspielte. Sie bevorzugte Kopfhörer.
Das erste Stück, harter improvisierter Rock ein Stil, der
manchmal seltsamerweise als Angstrock bezeichnet wird , war
bereits vor einigen Wochen aufgenommen worden. Die junge
Frau war die Sängerin der Band. Es war das erste Mal, dass
jemand diese Aufnahmen zu hören bekam; sie hatten das Geld
für das Tonstudio selbst auftreiben müssen. Sie hatte noch
keinen Plattenvertrag. Vielleicht würde sie nie einen bekom-
men.
Ihr Name war Sonja Pflug, doch ihr Künstlername lautete
Catz Wailen. Inzwischen wurde sie von allen nur noch Catz
genannt, sogar von ihrer Familie. Während Catz den Aufzeich-
nungen zwei Minuten lang zuhörte, sanken ihre Mundwinkel
langsam herab und ihre Stirn legte sich in Falten. Sie rutschte
auf ihrem Stuhl hin und her. Sie schien es sich auf dem harten
Plastikstuhl im Aufnahmestudio nicht bequem machen zu
können. Sie wurde zusehends angespannter. Sie konzentrierte
sich auf die Aufnahmen und schüttelte den Kopf. Sie klopfte
gegen die Scheibe, die den Aufnahmeraum vom Mischraum
trennte, und der Techniker schaltete das Band ab. Sie legte
einen Kippschalter um und sprach über die Gegensprechanlage.
»Da ist eine Stimme im Hintergrund. Die stammt nicht von
uns. Klingt nicht nach jemand aus der Band. Ich kann auch
nichts verstehen. Was zum Teufel ist das? Diese Stimme ... Was
soll das Schulterzucken, Mann? Was? Komm schon. Ähm das
muss irgendein Sprechfunkkanal sein oder so `n Scheiß, der
durch die Isolierung dringt. Wenn wir das, ähm, aus unseren
Aufnahmen rausmischen wollen, weißt du, sollten wir besser
rauskriegen, was das ist. Was für eine Frequenz. Warum schüt-
telst du den Kopf hör zu, die verdammte Luft wird von Über-
tragungen nur so durchdrungen, Radio und Fernsehen und
Mikrowelle, alles zischt unablässig durch uns hindurch, un-
merklich ... So eine Art Äther, so haben es die Wissenschaftler
früher genannt, ein Medium für den angesagten geistlosen
Kommerz. Stimmt's? Ich nehme an, wir haben uns irgend so
eine bescheuerte Nachrichtensendung eingefangen oder eine
Bierreklame. Verdammt, ich kann es hören. Es ist da, jawohl.
Also filter das mal misch es neu ab, damit ich es deutlicher
hören kann und rauskriege, was es ist, ein Radiosender oder so,
vielleicht sagen sie ihre Telefonnummer durch ... Das versaut
uns wirklich die ganzen Aufnahmen oh, schon klar? Du hast
es rausgefiltert? Gut ... ich ...«
Sie setzte den Kopfhörer wieder auf und gab dem Tontechni-
ker das Startzeichen.
Und die Stimme auf dem Band, die sich jetzt klar und deut-
lich von der Musik abhob, sagte: »Hallo, Catz.« Dann lachte sie.
Ein ziemlich verrücktes Lachen. »Ich hoffe, du kannst mich gut
verstehen. Die anderen hier haben mit äußerst gemischtem
Erfolg versucht, ihre Stimmen bis in deine Welt dringen zu
lassen. Tote haben keinen Kehlkopf. Zumindest nicht aus eurer
Perspektive, denn aus eurer « Die Stimme unterbrach sich und
lachte. Es klang eindeutig hysterisch.
Sie kannte diese Stimme.
» Tut mir Leid. Immer wenn ich an Perspektive denke,
muss ich lachen, wegen allem, was passiert ist. Wie ich die
Dinge jetzt sehe. Und wie ich sie früher sah. Vor dem Großen
Kehraus. Bevor ich das große Bewusstsein gesehen habe. Das
große Bewusstsein ist das Bewusstsein aller. Aber ich sollte dir
besser eins nach dem anderen erzählen. Ich bin herumgelaufen
gelaufen? und ob, denn ich habe einen Körper, im Dort, wo
ich mich jetzt befinde. Aus deiner Perspektive betrachtet natür-
lich nicht. Halt, eins nach dem anderen. Ich muss mich erst in
die richtige Bewusstseinsstufe versetzen, um dir diese Geschich-
te zu erzählen, denn ... ich muss sie dir ja aus der, hihi, Per-
spektive deiner Welt erzählen. Ich laufe seit Tagen herum und
denke darüber nach, verknüpfe alles in Gedanken miteinander,
kehre zurück, um mich zu beobachten zurück in die Vergan-
genheit, will ich damit sagen, wozu sich um klare Worte drük-
ken um mich zu beobachten, wie ich alles durchlebe. Um
endlich zu begreifen. Ich habe genügend Zeit, alles zu verstehen,
denn ich werde deiner Welt noch weitere vierzig relative Jahre
erhalten bleiben. Ich befinde mich fast in deiner Welt, nur eben
nicht ganz. Nur eine Phasenverschiebung entfernt. Ich harre
hier aus wegen City, und wegen der anderen. Ich bin ihnen
behilflich. Sie sind alle miteinander verbunden, unmittelbar
oder mittelbar. Der herrschende Geist jeder Stadt mündet in
einen gemeinsamen Strang ... New York, San Francisco, Los
Angeles auch wenn die Verbindung zu L. A. eher diffus ist,
bruchstückhaft und gefährlich. All diese Städte sind auf einer
psychischen Ebene miteinander verknüpft. Ein gewaltiger
Bewusstseinsspeicher, so hässlich und zugleich schön. Du bist
wirklich schön, Catz. Das habe ich dir glaube ich noch nie
gesagt. Du bist schön. Ich wollte dir das immer schon sagen. Ich
hatte befürchtet, du würdest mich auslachen und behaupten,
ich wäre übermäßig sentimental oder blind. Du hättest mich
verspottet. Doch jetzt ist alles anders. Ich kann dir sagen, dass
ich dich liebe.
Und ich kann dir erklären, warum ich das alles getan habe.
Warum ich dich nach Chicago habe gehen lassen ich wusste,
du würdest Verbindung mit dem Bewusstsein aufnehmen, das
Chicago ist. Irgendwie wusste ich schon die ganze Zeit, was alles
passieren würde. Catz, ich erfülle jetzt eine Funktion.
Jesus Maria, Catz, du bist so schön. Ich kann in dein Inner-
stes hineinsehen, in dein Energiefeld, bis in den Brennpunkt
deines Feldes, wo sich dein wie haben sie es genannt? der
Sitz deines Bewusstseins befindet. Ich sehe es in dir leuchten wie
ein Lichtbogen in einer Vakuumröhre.
Hoffentlich erkennst du meine Stimme. Ich wende eine Art
Psychokinese an, um die entsprechenden Schallwellen zu erzeu-
gen. Hoffentlich erkennst du meine Stimme überhaupt. Das
alles ließe sich vielleicht als interdimensionales Bauchreden
beschreiben. Hörst du mich? Ich bin's, Stu! Wer auch sonst,
was?«
Catz nahm den Kopfhörer ab. Sie gab dem Tontechniker ein
Zeichen. Er hielt das Bandgerät an. Sie blieb sitzen und starrte
mit bleichem Gesicht das Mischpult an. Dann stand sie auf,
ging zu ihrer Tasche und holte ein Medikamentenfläschchen
heraus. Sie nahm ein Beruhigungsmittel und atmete tief durch.
Er ist es wirklich, dachte sie.
Sie kehrte an ihren Platz zurück, nahm den Kopfhörer in die
Hand und setzte ihn wieder auf. Sie zögerte, blieb eine Weile
reglos sitzen und nahm schließlich ihren ganzen Mut zusam-
men. Sie gab dem Techniker ein Zeichen und hörte weiter zu.
»Catz, ich möchte, dass du mich verstehst. Warum ich dich
nicht begleiten konnte. Weshalb ich zugelassen habe, dass City
das alles getan hat.
Seltsamerweise hat die Zeit keine Bedeutung mehr für mich.
Wenn du das Labyrinth erst einmal durchschaut hast, kannst
du dich in jede Richtung fortbewegen. Wir können aus uns
heraus treten und zuschauen, wie wir geboren werden. Ich habe
unsichtbar neben dem Krankenhausbett meiner Mutter
gestanden und meiner Geburt zugesehen! Ich habe mich auf-
wachsen sehen. Ich bin zurückgereist und habe mir alles noch
einmal angeschaut. Um Zeugnis abzulegen, als objektiver
Beobachter. Ich werde dir die ganze Geschichte erzählen, ob-
wohl du das Meiste selbst miterlebt hast. Ich hoffe, es passt alles
auf dein Band. Ich will mit jener Nacht im Club anfangen, am
zweiten Abend deiner San Francisco-Tour. Da warst du gerade
aus Chicago zurück. Dieser Abend, an dem ich dich gebeten
habe, den Kerl auszuchecken, den ich als Rausschmeißer ein-
stellen wollte. Ich betrete jetzt die entsprechende Bewusstseins-
ebene. Ich kann es fühlen. In der dritten Person. Ich bin die
dritte Person, ganz klar.«
Er lachte. Catz verzog das Gesicht. Nur ein kleines bisschen
verrückt.
»Das war so um den 10. Mai des Jahres 2008. Im guten alten
San Francisco ... dem San Francisco von damals, vor den
Veränderungen, dem großen Kehraus, und na, egal. Ist schon
komisch nach meinem Zeitgefühl stand ich erst vor Kurzem
mitten im Zentrum einer Explosion, ein Teil des Kehraus. Um
mich herum flog ein Haus in die Luft. Ich bin nicht verletzt
worden. Es hat mir Spaß gemacht. Ich schlenderte davon und
fühlte mich, als hätte ich bei hohem Wellengang im Meer
gebadet.
So, jetzt eins nach dem anderen. Ich gehe zurück. In die Ellis
Street. Der Club Anesthesia. Mein Club, und es ist mir egal, was
für Gerüchte im Umlauf waren. Die Bewertung im Chronicle
lautete: >... ein Stern, wenn Sie auf eine angenehme und
menschliche Atmosphäre Wert legen; vier Sterne, wenn Sie auf
pausenlosen Lärm, Schlägereien, Exzentriker, Huren und
bewaffnete Überfälle aus sind.< Scheiß auf den Chronicle. Das
war mein Club und ich mochte ihn ...«
Catz hörte zu und hatte das Gefühl, innerlich zu zerlaufen.
Auf ihrer Stirn perlte Schweiß. Im Hintergrund, unter der
körperlosen Stimme, heulte und dröhnte und tobte der Angst-
rock ihrer Band, nackter, abgespeckter Metal, schnelle und
wütende Musik wie das Echo einer U-Bahn, die in einen Bahn-
hof donnert.
Die Stimme auf dem Band erzählte eine Geschichte.
EINSSS!
Samstagabend, zehn Uhr, und der Club war randvoll.
Nicht einfach nur voll, er platzte fast. Die Leute quollen aus den
Fenstern. Stuart Cole war das nur recht. Der Club war auf die
zusätzlichen Einnahmen angewiesen, die die überfüllten Sams-
tagabende brachten. Allerdings bedeutete das auch, dass er in
dieser einen Nacht drei, zählt ruhig nach, drei Rausschmeißer
anheuern und, was schlimmer war, bezahlen musste. Und Cole
hatte nur einen Rausschmeißer auftreiben können, der völlig
überlastet war. Der arme Kerl hatte schon wunde Fingerknö-
chel. Cole war auf der Suche nach zwei weiteren und hatte sich
schon bei zwei Schwarzgurten, einem ehemaligen Green Beret
und einer riesigen Lederlesbe einen Korb geholt. Sie schienen
alle keinen Wert auf zerschlagene Gesichter zu legen. Das
Anesthesia hatte so seinen Ruf.
Cole mixte sich einen Rusty Nail und machte sich Gedanken
über Rausschmeißer, als ihm der Mann mit der Sonnenbrille
auffiel. Der Mann fiel ihm auf, wie der Blick von einer Boje in
den Wellen angezogen wird, weil sich die Boje nicht von der
Stelle bewegt: ein verankerter Gegenstand im fließenden Trei-
ben. Menschenmassen verhalten sich wie Wasser, sie sind voller
Strömungen und Strudel. Menschen sind weich, sie bestehen
fast ausschließlich aus Wasser und ihre Bewegungen sind eher
fließend als ruckartig. Dieser Mann dagegen bewegte sich wie
ein Eisbrecher hart und unerbittlich, doch mit einer ganz
eigenen beharrlichen Anmut. Er war nicht wuchtig oder steif,
aber er strahlte eine gewisse Unbeugsamkeit aus. Beständigkeit.
Der ideale Rausschmeißer.
Cole musterte den Mann eingehend und kam zu dem
Schluss, dass er nicht gut bei Kasse war: der lange schwarze
Trenchcoat des Fremden war an zwei Stellen eingerissen, der
Gürtel fehlte und der braune breitrandige Hut, den er sich tief
ins Gesicht gezogen hatte, war zerbeult. Die Spiegelbrille sah
neu aus und ihre Gläser versprühten die wirbelnden Lichtrefle-
xe der altmodischen Facettenkugel über der Tanzfläche. Viel-
leicht ein Polizist in Zivil, dachte Cole. Oder schlimmer, ein
Vigilant, ein Auftragskiller einer rechtsradikalen Bürgerwehr.
Die Vigs drohten immer wieder damit, die Prostituierten mit
weiteren Blitzüberfällen auszuräuchern, und hier im Club gab
es jede Menge Huren.
Er hatte ein kantiges Gesicht, blass und makellos, dabei grob
wie ein Eckstein aus Marmor, der sich zur Gestalt eines Mannes
abgenutzt hatte. Sein gespaltenes Kinn ragte weiter vor als seine
Knollennase. Seine Haar war kurz, lockig, mit blauschwarz
metallischem Schimmer. Er war knapp einsachtzig und mittel-
gewichtig. Aber er hielt sich kerzengerade, ragte auf wie ein
Wolkenkratzer, und das wirkte auf selbstgefällige Art bedroh-
lich.
Cole beobachtete ihn und dachte: Pass auf, wen du einstellst
... In San Francisco ließ man sich nicht mit jedem beliebigen
Irren ein es musste schon die richtige Sorte Irrer sein.
Daher behielt Cole den Mann im Auge, ohne es sich anmer-
ken zu lassen. Er überließ Bill Wallach das Getränkemixen und
gab vor, die Anlage auf der Bühne überprüfen zu wollen. Von
der Bühne aus hatte er bessere Sicht.
Also stellte er Mikro-Ständer fest und verzurrte Kabel, an
denen es nichts zu verzurren gab, und beobachtete. Der Mann
mit der Spiegelbrille war im Schatten neben dem Zigarettenau-
tomaten stehen geblieben, am Rand der Menge, ein regloser
Zuschauer. Cole hätte zu gern seine Augen gesehen. Doch sein
Blick blieb ständig an den Lippen des Mannes hängen. Seine
Lippen waren farblos, zusammengepresst, eingezogen und sie
bewegten sich nicht. Nicht das kleinste Zucken. Catz kam auf
die Bühne und wollte wissen, ob mit der Anlage alles in Ord-
nung war und warum Cole an einem Gitarrengurt herumspielte
...?
»Ich, äh, stell ihn nur ein, Catz. Hey könntest du mal den
Kerl da neben dem Zigarettenautomaten unter die Lupe neh-
men? Mit der Spiegelbrille. Der ist entweder gefährlich oder der
ideale Rausschmeißer. So oder so wüsste ich es gern. Ich möchte
ihm keinen Job anbieten, bevor ich nicht weiß, ob er Ärger
macht, ich kann keinen Spion der Vigs gebrauchen ...«
Catz zuckte die Achseln und nickte. Ihr kurzes silbrig ge-
flecktes Haar wippte wie ein Plastikvorhang um ihr wölfisches
Gesicht. Ihre goldenen Augen wurden schmal wie immer,
wenn sie eine Frage stellen wollte. Cole schüttelte den Kopf und
kehrte an die Bar zurück, um auf »Catz' Bericht« zu warten.
Die Mitglieder von Catz' Band folgten ihr auf die Bühne, und
als sie ihre Instrumente gestimmt und eingestöpselt hatten,
legte Cole den Schalter um, der die Dosenmusik abschaltete,
und brüllte ins Barmikrophon: »Verehrte Samen und Huren
CATZ WAILEN!« Die Hälfte der Leute auf der Tanzfläche
stöhnte und die andere Hälfte jubelte. Alles raunte erwartungs-
voll. Selbst diejenigen, die Catz nicht mochten, hatten Ge-
schichten über sie gehört.
Während sie ihre Gitarre stimmte, beugte sich Catz vor und
flüsterte einer Kellnerin etwas zu, die nickte und sich durch die
grabschende Menge zu Cole durchschlängelte.
»Catz lässt dir ausrichten, ihr >Bericht steckt im Songtext<.
Was zum Teufel redet sie da?«
»Erklär ich später«, antwortete Cole, obwohl er das keines-
wegs vorhatte. Sie belud ihr Tablett mit Gläsern und ging die
Schweine tränken. Cole wartete. Der Bericht steckt im Songtext?
Ein Schauer überlief ihn. Er gehörte zu den wenigen Menschen,
die bei Catz' Songs die Texte verstanden. Weil er sie seit Jahren
kannte? Vielleicht. Aber es gab auch eine gewisse Nähe zwi-
schen ihnen. Kaum jemand wusste, dass Catz ihre Texte impro-
visierte. Sie spontan erdichtete. Sie änderten sich von Abend zu
Abend. Manchmal reimten sie sich sogar.
Die Band war eingestimmt, gestimmt, eingestöpselt und war-
tete eine fünfköpfige Angstrock-Band mit Catz im Brenn-
punkt. Sie blinzelte, als die Bühnenbeleuchtung aufflammte,
dann klopfte sie gegen das Mikrophon, um zu sehen, ob es
funktionierte und bellte ins Publikum: »MAUL HALTEN!«
Cole hatte noch keine andere Figur auf der Bühne gesehen,
die damit durchkam.
Das Publikum war heute besonders lärmig, Gläser splitterten
und Plastikflaschen flogen herum, alles lachte und kreischte. Im
Lauf des Abends nahm das hemmungslos zu: Um Mitternacht
würde sich die Menge völlig gehen lassen, die Wände würden
unter ihrem Ansturm erbeben. Nur Catz, eine dürre, schlaksi-
ge kleine Frau, hatte gerade Maul halten gesagt.
Und sie hielten das Maul.
Es war ein Wunder: Es war still. Hier hustete, dort kicherte
jemand, Feuerzeuge klickten. Der verqualmte Raum leuchtete
hier und dort auf, als einige Zuschauer in Erwartung des Auf-
tritts einen Joint anzündeten. Die Menschen auf der Tanzfläche
standen still, ließen ihre Muskeln spielen und warteten auf den
Rhythmus der Musik.
Die Stille schien unnatürlich und alle warteten darauf, dass
sie endete. Die Erwartung wurde mehr als erfüllt, als die Band
mit der Eröffnungsnummer loslegte. Es gab eine Explosion aus
Rauschen und Feedbacks und die Leadgitarre fegte durch ein
wildes Solo wie das Quietschen einer ungeölten Winde, die
unter einer Tonne losen Altmetalls stöhnt.
Das Donnern des Basses zwang das Mahlen des Heavy Metal
zu einer zusammenhängenden vorwärts preschenden Einheit,
wie Schrauben einen rasenden Panzer zusammenhalten. Catz
schob ihre Rhythmusgitarre beiseite und fing zu singen an. Cole
entschlüsselte stirnrunzelnd ihr Kreischen.
All ihr miesen Wichser und all ihr miesen Schlampen
seid abgesagt, ihr seid abgesagt
ihr winselnden Weiber und dumpfgeilen Deppen
du Stricher, dein einziger Freund ist das Neppen
ihr seid abgesagt, seid abgesagt
weil die Straße euch zum Teufel jagt
ihr seid jetzt abgesagt
Denn die Straße hat das satt, die Straße hat euch über
Schluss mit Pisse auf Asphalt und Autoreifen drüber
Weiß wird die Nacht und schwarz wird der Tag
Denn die City geht jetzt los
Stadt geht los und räumt ab ...
Die Leadgitarre spielte ein langes Solo, definierte Jugend in der
Sprache der Elektrizität. Catz tanzte Hunderte von Permutatio-
nen der letzten Zuckungen einer Motte durch, die in der Flam-
me einer Kerze brannte. Catz trat den Bassisten in den Arsch
und lachte, schlug Räder mit ihren Armen und sprang einen
Meter in die Luft, warf sich herum, versetzte der Leadgitarre
noch in der Luft einen Tritt, schlug sich auf die Knie, klatschte
in die Hände, landete mitten auf der Bühne, schlängelte ihren
Hals, wackelte mit Arsch und Schultern in doppelter Provokati-
on, ohne je aus dem Takt zu geraten.
Schlagzeug und Bass wurden leiser, ein dramatisches Vor-
spiel, und ihre übergroßen Augen wurden noch größer, ihr
koboldgleich geschnittenes platinfarbenes Haar klebte schweiß-
nass an ihrem Kopf. Ihr Gesicht verlor jede Ungewissheit und
sie nickte dem Mann mit der Spiegelbrille zu; sie sang:
Stadt geht los um aufzuräumen
Hindus und ihre Avatare
Catz und ihre E-Gitarre
Zeus beschwant Leda
manchmal kommt die Welt in Göttergestalt
manchmal kommen Götter in Menschengestalt
manchmal gehn Götter wie Sterbliche um
und heut Nacht geht die Stadt los
und wir sind abgesagt ...
Catz kreischte das knapp an der Tonart vorbei und gerade noch
im Rhythmus und die Menge hatte keinen Schimmer, was sie
sang. Aber sie waren hingerissen. Denn sie gab ihnen das Ge-
fühl, dass sie wirklich ernst meinte, was auch immer sie da sang.
Das Stück eskalierte, so wie ein Krieg, die Facettenkugel
drehte sich und warf Lichtgarben in den Raum, Plastikflaschen
flogen umher, Rauch wirbelte empor und Catz blickte Cole
direkt in die Augen (Cole wünschte, er wäre keine zweiundvier-
zig mit einem Hang zur Dickleibigkeit) und sprach ins Mikro-
phon: »Dieser Teil des Songs hey, ihr Wichser, HÖRT ihr mir
ZU « Die Menge brüllte mit fröhlicher Wut zurück. »Na also!
Ihr Wichsratten, dieser Abschnitt des Songs erzählt eine Ge-
schichte in zehn Teilen, wie zehn Kapitel in einem Buch. Ich
werde jedem Kapitel einen Namen geben und ihr müsst selber
rausfinden, was passiert, indem ihr euch die unsichtbare Archi-
tektur der Musik vorstellt (wenn ihr Dummköpfe mir so weit
folgen könnt), also PASST VERDAMMT NOCH MAL AUF!«
Sie holte tief Luft, die Band hielt inne, der Lärm der Menge
flaute ab, und sie schrie:
»EINSSS!« Die Leadgitarre erwürgt ein sich windendes
Schlangenriff und Cole hat den Eindruck, sich und den Mann
mit der Spiegelbrille zusammen auf der Straße zu sehen.
» ZWO!« Der Bass stimmt dröhnend mit ein und erzeugt
Bilder des Mannes mit der Spiegelbrille auf einem Fernseh-
schirm.
»Drr-EIII!« Das Schlagzeug entwirft ein Bild von Vigilanten,
die bei einem Rockkonzert wild in die Zuschauermassen feuern.
»VIE-jah!« Der Synthesizer schüttelt die Hirnrinde durch mit
Unterschall- und Überschall-Klangbildern, Bilder von Catz und
Cole, die auf einem Holzboden verbluten, umgeben von la-
chenden Männern.
»FÜÜÜ-hünf!« Die Rhythmusgitarre schafft eine Vision von
Cole und Catz, wie sie miteinander schlafen.
»Uuh-SEX!« Die Rhythmusgruppe arbeitet Hand in Hand
mit den Leadinstrumenten, bildet einen Kontrast wie schwarz
und weiß und zeigt Cole, der auf einem Bett liegt, daneben Catz,
die einen Koffer packt.
»SIE-bähn!« Das Schlagzeug beschwört ein Bild von Cole
herauf, der einen Schritt zurücktritt, als ihm ein guter Freund
die Tür vor der Nase zuschlägt.
»A-A-acht!« Die Keyboards zeigen Cole einen Schnapp-
schuss, er in einer Gefängniszelle.
»NEU-ihn!« Cole sieht sich selbst, wie er nackt vor einem
Spiegel steht und sich die Augen reibt.
»ZEHNNN!« Alle Instrumente verschmelzen zu einem einzi-
gen Akkord, beschwören eine Vision von Cole herauf, der sich
im Zentrum einer Explosion befindet ...
Plötzlich war der Song zuende. Cole rannte auf die Toilette,
er konnte nicht anders.
Nachdem er sich übergeben hatte, fühlte er sich etwas besser.
Er mixte sich einen Drink, um das anhaltende Gefühl der
Desorientiertheit zu vertreiben. Warum hat sie mir das alles
gezeigt?
Cole begab sich hinter die Bar und ging an die Arbeit, zur
Beruhigung, wie eine Art Yoga. Catz und die Band stimmten
einen neuen Song an.
Der Mann mit der Spiegelbrille betrachtete nachdenklich die
Bühne er war der einzige Mensch im ganzen Raum, der sich
nicht im Rhythmus bewegte. Selbst die Barkeeper klopften mit
den Fingern auf die Theke. Der fremde Mann starrte einfach
nur hin. Und rührte sich nicht.
Cole nahm Bestellungen entgegen und fütterte die tausend
Mäuler des Monsters, das kaum von der hölzernen Theke in
Schach gehalten wurde goss ihm Drinks in den Rachen und
die Mäuler schrien nach mehr ... Entlang der Bar standen in
regelmäßigen Abständen Intercash-Automaten und nahmen
von den Gästen Karten entgegen, zeigten an, ob das Guthaben
den Verzehr deckte, transferierte blitzartig entsprechende
Beträge vom Konto des Inhabers auf das Konto des Empfän-
gers, bestätigte den Vorgang auf seinem digitalen Zahlendisplay
...
Mindestens einmal pro Abend knallte jemand anstatt der In-
tercash-Karte Bargeld auf den Tresen. Heute war es ein alter
Mann mit einer schmutzig weißen Haarmähne und nässenden
blauen Augen. »Wo hast du dein Geld, Opa?«, sagte Cole.
»Richtiges Geld, verstehst du? IC-Karte.«
»Gottverdammt noch mal, das hier ist richtiges Geld, die be-
schissenen Karten sind die Fälschung «
»Ja, ja, ich weiß, was du meinst, aber für Bargeld bekommst
du hier nichts, Schlamper, und sonst auch nirgends. Nicht mal
Erdnüsse. Kaffee oder Schnaps, egal was du brauchst für alles
eine IC-Karte ... ich weiß wirklich nicht, wie ihr mit diesem
Zeug klarkommt. In der ganzen City gibt es noch höchstens
drei Läden, die Bargeld akzeptieren. Blitzüberweisung «
»SCHEISSDRAUF!«, knurrte der alte Mann, leckte sich die
trockenen Lippen und kramte seine Scheine zusammen. »Die
Musik hier drin ist eh für 'n Arsch!«
Dann ging er hinaus. »Tut mir Leid, Opa«, rief ihm Cole
traurig hinterher. Manche Leute können sich einfach nicht
anpassen.
Der Rest des Auftritts schien an ihm vorbei zu rasen, so be-
schäftigt war er. Catz kündigte eine Pause an und stapfte von
der Bühne. Cole schaltete wieder auf Dosenmusik um und
mixte Catz einen Drink. Sie kippte ihren trockenen doppelten
Martini auf Ex und Cole stellte ihr zwei weitere hin. Catz war
überdreht und zitterte wie immer nach einem Auftritt aufge-
heizt bis zum Siedepunkt.
»Hast du's gehört?«, fragte sie.
Cole beugte sich über die Bar, pflanzte seine Ellbogen auf das
Holz und fragte: »Wie zum Teufel soll ich das verstehen?«
»Warst du am College nicht auf Lyrik spezialisiert, Stu?«,
fragte sie halb spöttisch zurück.
»Und? Ich bitte dich um einen Bericht über einen Kerl, ob
ich ihm trauen und ihn als Rausschmeißer anstellen kann, und
du erzählst mir irgendwelchen Scheiß, von wegen >heute Nacht
geht die Stadt los< oder so was.«
»Hast du die Psi-Bilder empfangen, die ich dir geschickt ha-
be?«
»Ja, aber so richtig verstanden hab ich sie nicht.«
»Na ja ich auch nicht. Du willst wissen, ob du dem Kerl
trauen kannst?« Sie lachte. »Du sprichst von einem >Kerl<. Ob
du ihm >trauen< kannst. Himmel noch mal! Ja, klar, du könntest
diesem Kerl deine Kinder anvertrauen, wenn du welche hättest,
oder dein Geld, oder einen Job als Rausschmeißer. Wenn er sich
drauf einlassen würde, könntest du auf ihn bauen. Aber er
würde sich nie darauf einlassen. Er hat für so was keine Zeit er
muss was erledigen und ihm bleibt nur eine Nacht ... Und
überhaupt, das ist nicht eine Person. Verstehst du das nicht?
Das ist die City. Höchstpersönlich. Die schlafenden Bestandtei-
le, die erwacht sind und sich einen Echtkörper träumen,
Schlamper. Kapiert? Das ist die Fleisch gewordene Gestalt von
all dem hier, dieser ganzen verdammten City, in einen Mann
gebannt. Manchmal kommt die Welt in Göttergestalt und
manchmal kommen Götter in Menschengestalt. Manchmal.
Jetzt. Das ist eine ganze Stadt, dieser Mann, und ich meine das
nicht metaphorisch.«
Das sagte sie, ohne eine Miene zu verziehen. Bei jedem ande-
ren hätte Cole nur die Augen verdreht. Niemand kann einen
Fremden ansehen und ihn begreifen, als würde er ihn ein Leben
lang kennen. Niemand außer Catz. Catz hatte eine besondere
Fähigkeit. Ein Mann von der Duke-Universität hatte ihr mal
einen Haufen Geld angeboten, damit sie mit in den Osten kam
und sich einem Esper-Test unterzog. Doch Catz hatte abge-
lehnt. Catz hat ihre Visionen, wenn sie es sagt, wenn ihre Intui-
tion meldet, dass etwas kommt. Cole wusste, dass er sich auf
Catz' Urteil verlassen konnte es war das Urteil ihrer besonde-
ren Fähigkeit. Also wusste Cole nun, wer der Fremde war. Und
hatte Angst.
Catz ging wieder auf die Bühne. Mit einem Mal schien es im
Club Anesthesia sehr stickig zu sein. Der Qualm von Dope und
Zigarettensmog und der vielfältige menschliche Gestank drück-
ten Cole die Kehle zu fast musste er würgen. Er ließ sich von
Bill ablösen und ging nach draußen.
Auf dem Bürgersteig blieb er stehen und atmete die frische
Frühlingsluft ein.
Cole konnte nicht still stehen. Er lief vor dem Club auf und
ab, um überschüssige Energie abzubauen.
Er war nicht nur der frischen Luft wegen hier raus gekom-
men. Er wollte sich von etwas überzeugen.
Er betrachtete die City.
Es herrschte starker Verkehr, größtenteils Freier auf der
Pirsch nach billigen Mösen und Jugendliche, die in der Gegend
herumfuhren. Die Autos hupten und knurrten, Scheinwerfer
duellierten sich, Kids brüllten unzusammenhängende Wörter
aus den Wagenfenstern. Jemand warf beiläufig eine Flasche
nach Cole. Sie prallte neben ihm gegen die Wand. »Arschlö-
cher«, murmelte er geistesabwesend. Die Betonadern waren mit
Leuchtpunkten bedeckt fahlblaue Lichtflecke von Fernseh-
schirmen in finsteren Wohnzimmern, helle weiße Lichtflecke
von Badezimmern, bunte Lichter von Partys. Pornoschuppen
glommen in lüsternem Neonpink und ein schwacher Wind
spielte müßig mit Konfetti im Rinnstein.
»Bruder, kannst du mir vielleicht was abgeben «
Cole warf dem Penner einen kurzen Blick zu, ging die zwei
Schritte zum IC-Automaten an der Ecke und tippte eine Freiga-
be für zwei Dollar ein. Die schmutzige Karte des Penners jede
Karte, die als nächstes in den Schlitz gesteckt wurde war nun
für einen halben Liter Wein gut.
Der Penner lud sich den Betrag herunter und stolperte da-
von. Cole schob die Hände in die Hosentaschen und machte ein
missmutiges Gesicht. Seine Schürze flatterte im Wind. Es roch
nach Abgasen und schalem Wein und noch schalerer Pizza aus
dem Laden an der Ecke, der eine Viertelpizza für einen Viertel-
dollar verkaufte. Der Gehweg wimmelte von Huren, dazwi-
schen ein paar Designer-Punks, Geldverleiher und eine Frau,
die ihren Pudel spazieren führte, eine Hand in der Tasche, wo
wahrscheinlich eine Waffe steckte.
Aus dem Club dröhnte immer noch Dosenmusik. Catz hatte
noch nicht mit ihrem zweiten Set angefangen. Er lächelte, als er
sich an ihre Debatten über Mainstreampop erinnerte. Sie be-
stand darauf, dass das Zeug inzwischen ausschließlich per
Computer gemacht wurde, basierend auf Umfragen, psycholo-
gischen Trendprofilen, immer der neueste Stand nach gerade
gültigem gesellschaftlichen Status Quo. So war Mainstreampop
zu einem Mittel der Repression geworden, einem Betäubungs-
mittel, das dazu beitrug, dass ja alles blieb, wie es war. Der
Rock'n'Roll der herrschenden Verhältnisse. Cole lachte darüber
und hielt dagegen, dass jede populäre Musik den bestehenden
Status Quo widerspiegelte oder doch die Sehnsucht danach, in
die bestehenden Verhältnisse hineinzupassen, und er führte
seinen Club nach Möglichkeit entsprechend der Vorlieben
seiner Gäste er ließ die Kellnerinnen zweimal im Jahr Umfra-
gen durchführen, was für Musik seine Gäste zwischen den
Liveauftritten am liebsten hören wollten, und größtenteils
wollten sie handelsüblichen Mainstreampop. Das gab Cole die
Möglichkeit, von Zeit zu Zeit ungewöhnlichere Bands zu bu-
chen, radikalere Bands wie Catz Wailen weil er auf anderen
Gebieten Kompromisse einging. Eben weil die meisten Bands,
die er buchte, konventionelle Barmusiker waren und spielten,
was gerade angesagt war. Catz fauchte nur, dass er sich der
faschistischen Mentalität anpasste, und fügte hinzu: »Unterm
Strich, Cole mein Freund, bist du eben doch nur ein Kollekti-
vist. Du machst die Hure für Volkes Wille. Ich bin Individuali-
stin.« Und Cole widersprach ihr, und so drehten sich ihre
Debatten im Kreis und kamen nicht von der Stelle, wie Main-
streampop.
Die Dosenmusik brach abrupt ab, als Catz ins Mikrophon
kreischte ihre Stimme hallte über die Anlage die Straße hinauf
und hinunter, die Huren mussten lachen und die Streuner
erschraken: »Macht das hirnlose Gedudel AUS!«
Catz' Musik dröhnte auf die Straße, dass die Laternenpfähle
bebten Cole lehnte mit der Hand an einem und spürte, wie die
Bässe in der Stahlsäule vibrierten. Ihm war danach, den Krach
eine Weile hinter sich zu lassen und dem Beigeschmack von
Anklage in Catz' Gesang zu entkommen, der sich heute Nacht
unterschwellig gegen ihn zu richten schien. Er schlenderte
Richtung Süden, die Hände in den Taschen, blieb von Zeit zu
Zeit stehen und flachste mit den Dealern und Streunern, auf-
gemotzt sinnloses Gewäsch unter Straßenlampen ... Cole nickte
und sagte: »Echt wahr? Klingt gut, wenn du das nötige Kapital
zusammenkratzen kannst«, als Mario ihm erzählte, er würde in
der Modewelt »fett Kohle« machen, denn seine Alte hatte sich
Jeans ohne Hosenboden ausgedacht, mit durchsichtigem Mate-
rial über dem Hintern, er musste jetzt nur noch einen Geldge-
ber auftreiben, dann würde er wirklich abzocken. Und Cole
sagte: »Na, Mario, du hast schon immer jedem Arsch nachge-
schaut.« Alle lachten Filipinos aus dem benachbarten Viertel,
die auf Abenteuer aus waren. Cole spendierte ein paar Zigaret-
ten, lehnte Marios Angebot ab, seinen Sturmangriff auf die
Bekleidungsindustrie zu finanzieren, mimte einen Zug an
einem Zelluloid-Stäbchen und ging seiner Wege.
Er unterhielt sich mit dem schwarzen Klumpfuß in der
Hardcore-3D-Videothek, sah sich höflich die neuesten Live-
Abspielgeräte an, betrachtete mit zurückhaltendem Interesse
die Regale all die Leiber, in der Vielzahl menschlicher Paa-
rungen zu Fleischknoten verschmolzen. Bei näherer Überle-
gung kam ihm der Verdacht, dass er den Pornohändler auf-
suchte, weil er sich eine Kostprobe der Erregung erhoffte, und
sei es nur ein winziges Zucken beim Betrachten der holographi-
schen Fruchtbarkeitsriten. Bloß um sich zu überprüfen, ob sich
nicht doch etwas geändert hatte. Aber nein, keine Erregung,
nicht einmal eine halbe Erektion ... Er lachte höflich über den
Stapel alter Bücher, die ihm der Verkäufer im Hinterzimmer
zeigte. Niemand las mehr Pornoromane. Die Leute wollten
Magazine und 3D-Videos und Filme und Multisimulatoren.
»Die schlappen Teile liegen jetzt schon fünf Jahre hier rum und
keiner kauft sie«, sagte der Verkäufer und stampfte wieder nach
vorne. »Vergisses. Ich verbrenn den ganzen Scheiß, wenn sie
mir dieses Jahr das Gas abdrehen. Gottverdammte Gasrationie-
rung.«
Cole pflichtete ihm bei und kehrte auf die Straße zurück. Er
kam an einer Gruppe von drei schwarzen Huren vorbei. Die
eine, die ihn noch nicht kannte, machte ihm das obligatorische
Angebot: »Wie wär's mit uns?« Die anderen beiden taten aus
Spaß so, als würden sie ihn anmachen, und Cole spielte den
interessierten Freier. »Ihr verkauft euch aber unter Wert, meine
Damen. Für so wunderschöne Beine würde ich glatt 737.000
Dollar abbuchen. Das könnte ich euch allerdings nicht antun.
Die Jungs von der Steuer würden euch auseinander nehmen.«
»Scheiße, ich mach's für einen kostenlosen Drink in deinem
Rattenloch, Cole.«
»In einem Rattenloch gibt's nichts zu trinken, Miststück.«
»Ich hab natürlich das vornehme stadtbekannte Lokal ge-
meint, das du da betreibst, Schätzchen.«
»Schätzchen, ja? Vornehmes stadtbekanntes Lokal, ja?
Komm mal nach Mitternacht vorbei, und ich spendier dir einen
Brandy mit Seven-Up.«
Die anderen beeilten sich, seinen Club zu loben: »Ich hab
über den Laden im Bon Appetit gelesen. He, ich hab dein Bild
sogar in einer Zeitschrift gesehen, Mann.«
»Was?«
»Im Überblick, Mann.«
»Schon wahr, die liest die ganze Zeit so 'n Kram«, sagte eine
der anderen Frauen und zündete sich einen Joint an.
»In dem Artikel stand, was du doch für ein Alleskönner bist,
Cole. Du hast gesagt, dass ein paar Dinge in deinem Club die
Vigilantenwichser ganz schön auf die Palme bringen werden.«
»Wie bitte? Davon weiß ich gar nichts. Der Kerl hat mir ein
paar Fragen gestellt, ich hab sie beantwortet und gleich wieder
vergessen. Ich hätte mich da nicht drauf einlassen sollen.«
»Du hast gesagt, dass die Vigs für die Schläger des Viertels
arbeiten, die die Huren organisieren wollen, doch die Huren-
gewerkschaft hat das nicht zugelassen, also haben sie diese
Typen angeheuert, die die Huren und Stricher belästigen und so
tun, als wären sie moralisch entrüstet, dabei geht es ihnen nur
um Schutzgelder ...«
»Genau so läuft's«, sagte jemand, doch Cole schenkte dem
keine Aufmerksamkeit. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich
Sorgen zu machen. Die Vigs hatten einen Club in Oakland in
die Luft gejagt, weil er Huren reinließ ...
Er sagte: »Bis später, die Damen«, und setzte seinen Spazier-
gang fort. Als er durch den Inhalt einer umgestoßenen Abfall-
tonne stapfte, rannte eine Kakerlake von der Größe einer Maus
über seinen Stiefel. Wütend trat er nach dem Insekt und es
klatschte auf die Windschutzscheibe eines parkenden Mini-
Dampfcad.
Er suchte sich eine Kombination aus Telefonzelle und Zei-
tungskiosk, setzte sich auf den Stahlhocker, steckte seine IC-
Karte in den Schlitz und tippte den Code für die Zeitschriften
ein. Eine Übersicht der verfügbaren Blätter erschien auf dem
Bildschirm über dem Telefon. Er wählte den Überblick vom Mai
2008. Das Inhaltsverzeichnis erschien; er klickte die entspre-
chende Seite an:
DREI MÄNNER UND DREI NACHTCLUBS
Ich habe drei Abende lang mit drei Nachtclubbesitzern
gesprochen, und ich habe drei unterschiedliche Facetten
unserer City kennen gelernt. Am Freitag habe ich mich
mit Billy Russiter getroffen, dem Besitzer des renommier-
ten Carlton an der ...
Cole verzog das Gesicht und klickte weiter, bis er zu dem Ab-
schnitt kam, der sich um den Club Anesthesia drehte.
... Stuart Coles eigentümlicher Sinn für Humor zeigt sich
einerseits im Namen seines Clubs, andererseits in der Aus-
stattung der Räumlichkeiten. Natürlich gehen wir alle in
eine Bar, um uns zu betäuben, um den Schmerz mit Alko-
hol zu lindern und uns von der Show ablenken zu lassen
eine Gelegenheit, sich in der Menge zu verlieren. Dieser
Club ist oder war, bevor der größte Teil des Mobiliars
zerschlagen und die Dekoration verwüstet wurde wie die
Station eines Krankenhauses gestrichen und eingerichtet.
Die mittlere Tischreihe besteht aus Krankenhausbetten,
deren Matratzen durch Tischplatten ersetzt sind, hier und
dort stehen Ständer für IV-Flaschen und Medikamenten-
schränkchen, an den Wänden hängen Patientenberichte.
Natürlich geht der größte Teil der Wirkung verloren, ein-
schließlich der gedämpft weißen Wandfarbe, wenn die
Beleuchtung heruntergedreht wird und die Band auf der
kleinen Bühne durchstartet.
Stu Cole ist ein Mann mittleren Alters, jünger vielleicht als
er aussieht, von harten Jahren und einer Vielfalt harter
Arbeiten gezeichnet. Seine Haare werden dünner und sein
wohlwollender Gesichtsausdruck kann die tiefen Sorgen-
falten nicht verbergen.
Cole machte ein finsteres Gesicht und sprang weiter zum Inter-
view.
Überblick: Sie sind vor zehn Jahren aus New York hierher
gekommen ?
Cole: Richtig, in New York habe ich acht Jahre gelebt, aber
eigentlich bin ich hier in der Gegend aufgewachsen, größten-
teils in Oakland und Berkeley. Früher habe ich von San Fran-
cisco geträumt äußerst lebhaft! , sogar noch, als ich bereits
sechs Jahre in New York wohnte. Vielleicht bin ich deshalb
hierher zurückgekehrt.
Überblick: Was haben Sie denn in New York so getan?
Cole: Das ist eine sehr allgemeine Frage. Wenn Sie wissen
möchten, wovon ich gelebt habe, nun ja ... ich habe als Stri-
cher angefangen.
Überblick: Eine männliche Prostituierte?
Cole: Ja, klar. Sie wollten doch ehrliche Antworten, oder? Mei-
stens hatte ich es mit schwulen älteren Männern zu tun,
manchmal auch mit Heteropärchen. Ich war nicht unbedingt
schwul, aber wenn ich dafür bezahlt wurde, konnte ich da
schon mit. Allerdings war es auch eine harte Zeit. Ich habe
aufgehört, nachdem mich ein Widerling draußen in Queens
in einem Rangierbahnhof im Regen zurückgelassen hat. Er
hat mich einfach aus dem Auto gestoßen, als ich mich anzog.
Also habe ich mich um ein Stipendium beworben und bin
wieder zur Schule gegangen.
Überblick: Und Sie haben Ihr Examen mit Auszeichnung be-
standen, wenn ich mich nicht irre, doch dann haben Sie Ih-
ren Titel ausgeschlagen. Warum?
Cole: Ich fand die Examenstitel elitär und bedeutungslos mit
ihrem ausschließlichen Zweck, einen aus der Masse hervor-
zuheben. Ich wollte nie aus der Masse hervorgehoben wer-
den. Ich habe mich immer ein bisschen, na ja, wie ein Au-
ßenseiter gefühlt, und umso mehr habe ich mir gewünscht,
dazuzugehören. Also kann man sagen, ich habe mein ganzes
Leben nach einem Umfeld gesucht, wo ich hingehöre. Ich
habe wohl irgendeine Art von Familie gebraucht. Mit meinen
Eltern habe ich mich nie besonders gut verstanden. Meine
Schwester ist seit längerer Zeit verschwunden. Alles, was ich
habe, ist mein Club und meine ... na, im Grunde die ganze
verdammte City.
Überblick: Es ist schon erstaunlich, wie sehr sich langjährige
Bewohner von San Francisco in ihrer Stadt zu Hause fühlen.
Manche werden dabei richtiggehend fanatisch.
Cole: Das geht mir ähnlich. Ich bin wohl auch ein Fanatiker,
allerdings kein Bekehrer oder Eiferer. Viele Leute regen sich
über die Touristen auf, die über die City herfallen. Für mich
gehören Touristen zum Mobiliar. Die Stadt ist auf sie ange-
wiesen. Diese City ist auch deswegen so ungewöhnlich, weil
sie so dicht bevölkert ist. Was ich damit sagen will das Zen-
trum ist völlig überlaufen, alles passiert auf dieser kleinen
Halbinsel und an den Steilhängen der Hügel. Die Latinos
und die schwarze Bevölkerung und die Filipinos und die
Chinesen und die Japaner und die Schwulen, all die Homos
hier, und die Araber und die Inder und die weiße Mittelklas-
se alles lebt hier dicht an dicht, von morgens bis abends,
und die diversen »Ghettos« haben fließende Grenzen. So hat
sich ein starkes Gemeinschaftsgefühl entwickelt, glaube ich.
Überblick: In Ihrer Ausdrucksweise liegt eine starke Spannung,
Stu. Sie schwanken zwischen Straßenslang und der Wortwahl
eines gebildeten Mannes.
Cole: (lacht) Nun ja, es gibt Bildung und Bildung. Mir hat das,
was ich auf der Straße gelernt habe, mehr gebracht. Aber
klar, es ist eine seltsame Mischung. Ich habe etliche Leute
kennen gelernt, die von den Medien wohl eher der »Unter-
welt« zugeordnet werden, und viele Künstler und Fotografen
... ich suche wohl immer nach dem alles umfassenden Be-
greifen dieser Stadt. All die verschiedenen Bruchstücke. Als
ich vor zehn Jahren diesen Haufen Kredite aufgenommen
und mich bis zum Arsch verschuldet habe, um den Club auf
die Beine zu stellen, ging es mir wohl auch darum, neutralen
Boden zu schaffen, um mit der City als Ganzes Kontakt auf-
zunehmen. Eine Zeit lang sah der Club genauso aus wie alle
anderen. Aber mir schwebte etwas anderes vor. Sie würden
sich wundern, wie viele verschiedene Leute zu uns kommen.
Modezombies, Neopunks, Transen, Künstler, Mechaniker,
eine ganze Reihe superkonventionelle Gestalten und haufen-
weise Durchgeknallte ...
Überblick: Mit ihrem Programm scheinen Sie es ja genau darauf
anzulegen. Multimedia-Shows, Stegreifkomiker, Soulmusi-
ker, Rockbands, Jazzformationen, Popgruppen ... und jetzt
Catz Wailen ...
Cole: Nun, ich kenne Catz schon recht lange. So jemanden wie
sie muss es am Anfang jedes Jahrzehnts geben. Um reinen
Tisch zu machen. In den Sechzigern waren das Bob Dylan
und Lou Reed und Hendrix, in den Siebzigern Patti Smith, in
den Achtzigern John Lydon ...
Überblick: Damit heben Sie sie aber in erlauchte Gesellschaft.
»Du verdammter Rotzbengel«, murmelte Cole. Er zwang sich
zum Weiterlesen.
Cole: Das hat sie mehr als verdient, mein Freund. Sie
Überblick: Vor einigen Jahren haben Sie sich in der Stadtpolitik
engagiert, inzwischen haben Sie sich allerdings wieder
zurückgezogen.
Cole: Ach, ich habe Unterschriften gesammelt, ein paar Volks-
entscheide angeregt, ein paar Artikel geschrieben, einen
Kandidaten unterstützt ... nichts Besonderes ...
Überblick: Immerhin gab es Gerüchte, Sie würden für das Amt
des Polizeipräsidenten kandidieren.
Cole: Ich habe das in Erwägung gezogen. Und bin zu dem
Schluss gekommen, dass meine Chancen nicht gut standen.
Aber klar, mich interessiert stadtinterne Politik, Verwaltung,
Fragen, die über die Interessen der Unterhaltungsindustrie
hinausgehen. Ich identifiziere mich mit der City. Also sind
ihre Probleme auch meine.
Überblick: Sie haben einige Leute ziemlich auf die Palme ge-
bracht, als Sie sich um einen Gesetzesentwurf bemühten, der
es kleinen Geschäften erlauben sollte, weiterhin Bargeld zu
verwenden.
Cole: Der Siegeszug der AEA-Lobby hat die Leute verängstigt.
Überblick: Wovor haben sie Angst?
Cole: Die schiere Macht dieser Organisation. Sie hat uns alle in
der Hand, denn sie kontrolliert unsere finanziellen Transak-
tionen. Das ist eine gefährliche Situation. Stellen Sie sich nur
mal vor, das organisierte Verbrechen bloß als Beispiel
würde über Intercash die Kontrolle über die AEA erlangen.
Da alle Transaktionen elektronisch durchgeführt werden und
dies einen Zugriff aus der Ferne ermöglicht, könnte das zu
einer Veruntreuung ... nun, vielleicht sollte ich das nicht zu
weit ausführen.
Überblick: Ich habe gehört, dass auch Ihr Club eine Drohung
aus den Reihen der Vigilanten erhalten hat.
Cole: Stimmt. Sie haben sie an die Tür geklebt. Ich habe zwei
Stunden gebraucht, um sie wieder runterzukriegen. Aber sie
liegen falsch ich »rechtfertige« die Prostitution nicht. Al-
lerdings verurteile ich sie auch nicht. Die Menschen sind, wie
sie sind, es wird immer Prostituierte geben. Seit es jetzt halb
legal ist, wie Kiffen, mit einer eigenen Gewerkschaft, ist alles
viel sicherer geworden. Dieser neue Puritanismus ist absurd,
Mann. Er ist verdächtig.
Überblick: Was meinen Sie mit verdächtig?
Cole: Diese Typen sind viel zu gut organisiert. Sie nehmen die
Laster ins Visier, mit denen das große Geld verdient wird
Geldspiele, Prostitution , lassen andererseits das neue, von
der Regierung subventionierte Drogenprogramm unangeta-
stet die Ausgabe von H an Junkies und Speed an Speed-
freaks, um alle im Visier zu behalten. Ich glaube, dass die für
jemanden arbeiten, der an all dem verdient und noch mehr
verdienen möchte ...
Der Bildschirm wurde schwarz bis auf die Wörter ZAHLEN SIE
NOCHMALS $1 FÜR WEITERE ZEHN MINUTEN. Cole
zuckte die Achseln und wandte sich ab. In Gedanken versunken
schlenderte er zum Club zurück. Der Lärm aus den Kneipen
schwoll an und ab, während er vorüberging.
Die Nacht war angenehm mild. Er näherte sich dem Anes-
thesia. Catz' verstärkte Stimme hallte von den umliegenden
Gebäuden wider. Er musste an die Psi-Bilder denken, die sie
ihm übermittelt hatte. Etwas Kaltes kroch seinen Rücken hinab.
Er blieb vor dem Eingang des Clubs stehen, als die Band eine
Pause einlegte, damit Catz eins ihrer Gedichte vortragen konn-
te. Cole lauschte der City, filterte Geräusche. Er schaute um
sich, sortierte Eindrücke. Und fand, was er gesucht hatte. Die
Präsenz der City, das alle Schattierungen einbeziehende Ge-
staltmuster, die unsichtbare Beziehung zwischen den Glas-
scherben im Rinnstein und der Antenne einer Limousine, die
unmerkliche Verbindung zwischen dem Geruch erbrochenen
Weines und dem Duft der Blumenstände ... diese Präsenz, nach
der nur ein Narr nicht suchen würde. Denn war man erst
empfänglich für die Präsenz, dann spürte man für gewöhnlich,
ob um die Ecke eine gefährliche Gang auf der Lauer lag oder ob
im eigenen Mietshaus ein Brand auszubrechen drohte. Man
verließ aus einer Eingebung heraus unvermittelt das Gebäude,
ohne den Grund zu kennen bis man ihn am nächsten Tag aus
der Zeitung erfuhr. Und diese Präsenz war jetzt hier. Doch
wenn der fremde Mann war, was Catz behauptete ...
Dann verstand Cole. Die Präsenz war da, hier draußen. Doch
ihre Persönlichkeit, dieser Faktor aus eigensinniger Intelligenz,
der das geschäftige Summen der City begleitete war fast
verschwunden. Er hatte sich materialisiert. Hier draußen auf
der Straße war er gedämpft. Denn die Persönlichkeit der City
befand sich drinnen, verkörpert von einem Mann, der in Coles
Club wartete. Dort drinnen, und er trug einen zerbeulten brau-
nen Hut und eine Spiegelbrille.
Cole nickte nachdenklich.
Es ging mir darum, neutralen Boden zu schaffen, um mit der
City als Ganzes Kontakt aufzunehmen ...
Cole betrat seinen Club.
Da stand er. Cole entdeckte den Mann mit der Spiegelbrille
auf Anhieb.
Catz sprach mit ihm, sie standen beisammen wie alte Freun-
de. Cole schob sich durch die Menge, den Blick auf den Frem-
den geheftet. Er wollte unbedingt mit ihm sprechen. Er hatte
keine Ahnung, was er ihm sagen würde.
Cole blieb einen Meter entfernt stehen und betrachte sein
doppeltes Spiegelbild in den Brillengläsern. Catz sprach leise,
dicht am Ohr des Mannes; die endlos stereotypen Schnörkel des
Konservenpops überlagerten ihre Stimme. Ein Dutzend Fragen
lagen Cole auf der Zunge. Alle kamen ihm völlig blödsinnig vor.
Er hätte gern gefragt: >City, wo hast du meine Schwester Perle
versteckt? Sie ist Alkoholikerin und ich habe seit acht Monaten
nichts von ihr gehört. Sie muss tot sein oder in Oakland. Oak-
land ist nicht der Tod, aber es ist schon eine Art Koma.< Und:
>City, gibt es für mich nicht eine schönere Wohnung als diese
Zweizimmerbude im Mission-Viertel?< Und: >City, warum
musste mein bester Freund auf der Autobahn unter den Rädern
eines Sattelschleppers sterben? Hast du was gegen Tramper?<
Doch er behielt all diese Fragen für sich. Er starrte in die ver-
spiegelten Gläser und verspürte den Drang, in Tränen auszu-
brechen. Er zog die Schürze aus und warf sie auf den Boden.
Für heute Nacht hatte er genug.
Eine Kellnerin sagte etwas zu City. Die Dosenmusik wurde
für einen Augenblick leiser, und Cole hörte: »Sir, die Gäste an
Tisch Fünf würden Sie gerne zu einem Drink einladen.« City
nickte und folgte ihr durch einen Wald aus durchsichtigen
Plastikmänteln und Sträflingshaut-Leggings zu Tisch Fünf, wo
ein paar Modezombies mit ausdruckslosen Gesichtern saßen
und sich verzweifelt amüsieren wollten. Sie prunkten in durch-
sichtigen Kunststoffanzügen mit Bordüren in dezentem Blau
und Neonrot. City war noch gut zehn Meter von den vier
Zombies entfernt, als Cole ihn vorübergehend aus den Augen
verlor. Als er im Gewühl der Menge verschwand, trug er seinen
Hut und den abgetragenen Trenchcoat. Zehn Sekunden später
tauchte er wieder auf und trug eine glitzernde Maschendraht-
Weste, ein durchsichtiges Webplastik-Jackett und gelbe Satin-
leggings, keinen Hut und an den Füßen Sträflingshautstiefel
(negro) mit Spikes und noch dieselbe stahlgerahmte Spiegel-
brille.
Catz hatte Recht. Eine Stadt wandelte unter Menschen.
Catz stand im Hintergrund und hörte zu, wie City mit den
Leuten am Tisch redete. Cole konnte das Gesicht von City nicht
sehen, konnte aber an der angewiderten Faszination der vier
Spießer ablesen, dass er etwas zu ihnen sagte. Catz lachte. Cole
kämpfte sich zu dem Tisch durch. Je näher er kam, desto lauter
wurde die Musik, obwohl er sich immer weiter von den Boxen
entfernte ...
Wenn er sonst an der Bar arbeitete, hörte er die Musik aus
den 2-Meter-Boxen, die um die Tanzfläche herum standen, gar
nicht mehr. Er hatte gelernt sie auszublenden. Ein Mensch, der
immer wieder die gleichen Nummern von einem neunzigminü-
tigen Endlosband hört, wird entweder hysterisch oder teil-
nahmslos. Die maschinelle Perfektion ununterbrochener Beats,
die gefühllose Beschwörung von Gefühlen, die hypnotische
Unerbittlichkeit von tausend Varianten erotischer Zuckungen
der verschlungene Stoff, aus dem Alpträume wuchern und
Paranoia sich nährt.
Aber jetzt hörte Cole hin. Die Musik brachte ihn City näher.
Je dichter er an Tisch fünf herankam die Zombies waren
aufgestanden und brüllten herum , desto lauter gellte die
Musik in seinen Ohren, und die Stimme vom Band intonierte:
IMMER IM KREIS BIS ZU ALLERLETZT / HORCH WIE DER
MANN DAS RASIERMESSER WETZT / IMMER IM KREIS
BIS ZU ALLERLETZT / HORCH WIE DER MANN DAS
RASIERMESSER WETZT / IMMER IM KREIS ...
Das war der ganze Text, computergeneriert wie die Musik,
und er wiederholte sich bis zum Fadeout.
Cole erreichte den Tisch. City schwieg jetzt. Er sah zu, wie
einer der kunstvoll gekleideten Zombies einen Nadeldolch aus
einem seiner kniehohen Sträflingshautstiefel zog und einem
anderen Glitzerzombie zwischen die Rippen stach. Der Emp-
fänger dieses eisigen, spitz zulaufenden Geschenkes fiel hinten-
über und stieß gegen einen anderen Zombie, der offenbar im
Begriff war, die Frau des Messerstechers zu vergewaltigen. Die
Frau schlug mit einer Gummiflasche auf Kopf und Schultern
des Vergewaltigers ein. Catz und die Menge sahen zu. Rich, der
Rausschmeißer, ging leicht ärgerlich dazwischen und schleifte
die Beteiligten nach draußen.
City wandte sich Cole zu. City trug keine Plastikklamotten
mehr. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd, eine
blaue Spiralkrawatte wie Cole. City machte sich auf den Weg
zur Tür. Cole folgte ihm, ohne irgendetwas in Frage zu stellen.
Catz gab ihrer Band ein Zeichen, den Abend mit einer Instru-
mentalsession zu beenden, und schloss sich an.
Als City den Bürgersteig betrat, krachten auf der Straße fünf
Autos ineinander, als wolle sich der Verkehr vor ihm demüti-
gen, ein Kniefall aus zerknautschtem Blech. Ein Stück ver-
chromte Stoßstange zischte an Coles Kopf vorbei und blieb im
Mauerwerk stecken. Die urbane Spannung der Großstadt lag
fast greifbar in der Nacht. City warf einen Blick auf die Auto-
wracks, nickte und wandte sich ab. Catz und Cole stiegen über
die Modezombies, die noch auf dem Gehweg zappelten und
bluteten, und folgten City, knapp links hinter ihm, sodass sie
ihn aus den Augenwinkeln beobachten konnten.
Zurück blieben ein blauer gasoholbetriebener Ford Stampfer
Lieferwagen, ein gelber VW Schuft Elektro, ein goldener 69er
Ford Falke, ein weißer dampfbetriebener Lincoln Continental
und ein roter VW Käfer, mit zerknautschten Schnauzen inein-
ander verschlungen, aus fünf Richtungen miteinander verheira-
tet, ein Pentagramm aus verbogenem Stahl, zerfetztem Gummi,
loderndem Treibstoff, Glasscherben und rot triefendem Fleisch.
Das Dosenmusik-Endlosband schien City auf die Straße ge-
folgt zu sein, ja aus seinem Körper zu dringen. Zielstrebig,
unablässig, die vertonte Blaupause des Stadtplans einer Groß-
stadt.
Die Computermusik hallte von den Mauern, rüttelte an
Schaufenstern und entlockte Cole einen Seufzer. Catz pfiff mit,
hüpfte fröhlich umher und trat nach Abfalleimern.
»Was hat er den Zombies erzählt, dass sie übereinander her-
gefallen sind?«, flüsterte Cole Catz zu, die vor sich hin summte
und den Reißverschluss ihrer schwarzen Lederjacke zuzog.
Sie lachte. »Er hat dem Mann mit dem Messer erzählt, dass
sein bester Freund der mit dem Messer zwischen den Rippen
ein Verhältnis mit seiner Frau hat. Daraufhin hat er seinen
besten Freund ermordet, weil der sein Liebhaber war und
soweit ich das mitbekommen habe nur mit ihm schlafen
sollte. Weil er aber mit der Frau des Messerstechers gevögelt
hat, ist er gleichzeitig ihm untreu geworden.«
»Schon gut. Was war mit dem Vergewaltiger?«
»Der Vergewaltiger war der Bruder des Opfers. Er begehrt
seine Schwester schon sein Leben lang. City hat ihm erklärt,
dass seine Schwester ein Verhältnis mit seinem älteren Bruder
hat, ihn aber ziemlich widerlich findet und ihn nur an der Nase
herum führt, weil sie Gefallen an seiner Lüsternheit gefunden
hat, ihn aber nie an sich heranlassen würde.«
»Und sie wussten, dass er die Wahrheit sagt. Sie haben keine
Sekunde an seinen Worten gezweifelt.«
»Nein, das haben sie nicht. Er ist ungefähr so überzeugend
wie ein Dreißigtonner mit Höchstgeschwindigkeit. Hast du
vielleicht Zweifel?«
»Nein. Schließlich bin ich hier, oder? Wohin gehen wir ei-
gentlich? Warum ist er heute Abend hier? Warum zeigt er sich
unter uns? Und wie?«
»Er möchte sich selbst in- und auswendig kennen lernen. Ei-
ne nur zu verständliche Motivation. Er klopft sich selbst ab,
überprüft seine Reflexe, forscht und schmeckt, sucht nach
Selbstbestätigung. Wie? Das kollektive Unterbewusstsein hat
von einem Menschen Besitz ergriffen und ihn verwandelt. Er
lässt Dinge wahr werden, er löst Spannungen, er rechtfertigt die
Dramen des Lebens, indem er unser Schicksal erfüllt.«
»Du sprichst absichtlich in Rätseln, um mich auf die Folter
zu spannen. Catz, dir macht es Spaß, mich zu verwirren.«
»>Please allow me to introduce myself ... ahnt Ihr endlich,
wer ich bin? Was euch so verwirrt, ist mein Spiel im besten
Sinn.<«
Die Nacht hatte ihren Höhepunkt erreicht. Alle Leute ver-
folgten irgendwelche persönlichen Ziele und waren ganz auf
diese Ziele fixiert, nahmen sonst nicht viel wahr, Ziele wie ein
Knochen für einen Hund. Niemand bemerkte, dass City Pop-
musik verströmte, obwohl er keinerlei Abspielgerät bei sich
hatte.
In der Ferne überlappten sich die strengen Gesichtszüge der
City in einer Patina betörender Schuppen, brach sich das Licht
der Neonröhren, Autoscheinwerfer, Straßenlaternen und Me-
talloberflächen; funkelte durch Wolken von Zigarettenqualm,
Dampf aus Kanaldeckeln und Kohlenmonoxyd.
Die warme Brise vermischte Gerüche von gekochtem Fleisch
und Abfällen. Cole wurde übel.
Und er war nervös. Die City kam ihm unnatürlich energiege-
laden vor; die Geräusche, pfeifende Knaben, knirschende Kol-
ben, einrastende Gänge alles zu laut.
Kopfschmerz und Brechreiz drückten ihn nieder, Elend er-
fasste ihn. Cole wünschte sich nur noch, diese widerliche Pop-
musik möge endlich aufhören. Doch er kam nicht auf den
Gedanken, von Citys Seite zu weichen.
Sie durchquerten Chinatown und die Hälfte der Straßen-
schilder zeigten Ideogramme, Rätsel in Neon; der Hügel wurde
steiler, Coles Kopfschmerz pochte stärker. Auf dem Kamm des
Hügels blieben sie stehen und bewunderten die Skyline. Das
eckige Diagramm der Lichter der Großstadt spiegelte sich in
Citys gläsernen Augen. Er öffnete leicht den Mund und hauchte
unhörbar einen Namen.
Von links hallte jungenhaftes Gelächter herüber. Diese Rich-
tung schlug City ein, folgte einer finsteren Seitenstraße. Abfall
häufte sich auf dem Gehweg um die Hintertüren chinesischer
Lebensmittelgeschäfte, es roch nach Fisch und verfaultem
Gemüse.
Sie liefen schnell, in aller Stille, fünfzehn Häuserblocks wei-
ter, bis sie Chinatown verließen und zwischen eng aneinander
gedrängten, hochmütigen viktorianischen Häusern einen steil
abfallenden Hügel hinab schlidderten.
Unvermittelt blieb City stehen und betrachtete nachdenklich
die Häuser zu ihrer Rechten. Die ewig gleiche Musik dämpfte
sich zu einem Flüstern.
Die Haustüren dreier nebeneinander stehender Häuser wur-
den aufgestoßen. Fünf Menschen stürzten heraus, zwei Paare
und eine ältere Frau. Mit hochroten Gesichtern stürmten sie
ihre Holztreppen hinunter und hasteten über ihre Vorgarten-
Kieswege auf City, Cole und Catz zu, die unter einer Straßenla-
terne warteten. Cole warf City einen Seitenblick zu. Dann
starrte er ihn an. City trug jetzt einen konservativen grauen
Anzug und auf Hochglanz polierte, teuer aussehende braune
Schuhe.
Beide Paare waren mittleren Alters und obere Mittelschicht.
Einmal Mann und Frau mit eckigen deutschen Gesichtern und
kurz geschnittenen grauschwarzen Haaren; der Mann trug eine
lose schwarze Krawatte, die er eilig zurechtrückte. Das andere
Paar steckte in Schlafanzügen und Morgenmänteln. Der Mann
neigte zu Glatze und Korpulenz, sein Mund unter dem
Schnurrbart stand offen und die behausschuhten Füße rutsch-
ten nervös auf dem Pflaster; seine Frau blinzelte City durch
dicke Brillengläser an, ihr mausbraunes Haar steckte in einem
Haarnetz. Die fünfte Person, eine alte Frau, trug ein weißes
Nachthemd, einen abgewetzten blauen Bademantel, Haus-
schlappen und ein Haarnetz, das über und über mit roten
Plastikrosen bedeckt war. In ihrer rechten Hand hielt sie eine
Taschenlampe, in ihrer Linken eine kleine, vernickelte Pistole.
Ihre dunkel umschatteten Augen waren schwarz mit bitteren
Falten ringsherum. Sie sprach als Erste:
»Was für ein Notfall denn?« Sie wandte sich ihrem Haus zu,
als würde sie jeden Moment damit rechnen, dass es in Flammen
aufging. »Ich habe gehört « Sie runzelte die Stirn.
Die andere Frau im Morgenmantel sprach mit zitternder
Stimme: »Was haben Sie gehört? Wir haben gehört, wie jemand
>Ein Notfall! Gehen Sie sofort nach draußen!< gerufen hat. So
verdammt laut, dass ich dachte, mir platzen die Trommelfelle.
Mein Gott, ich habe schon gedacht, es wäre ein Bombenalarm «
»Ja, ja, genau das habe ich auch gehört«, sagte der ältere
Mann mit leicht deutschem Akzent. »Es klang irgendwie offizi-
ell. >Ein Notfall! Gehen Sie nach draußen!<« Alle starrten City
böse an und warteten auf eine Erklärung.
»Möchten Sie heute Nacht Ihre Kinder sehen?« Das war das
erste Mal, dass Cole City sprechen hörte. Eine kalte, aber klang-
volle Stimme. Citys Gesicht hatte sich erneut verändert. Sein
Kinn war immer noch breit, doch plötzlich hatte er eine Ha-
kennase und seine Lippen bildeten einen misstrauischen
Schnörkel wie bei einem einflussreichen Bürokraten. Dieselbe
undurchsichtige Brille. Mit einer fließenden Handbewegung
zog er eine lange schwarze Brieftasche aus seiner Jacke. Als er
sie aufklappte, kam eine Marke der Polizei von San Francisco
zum Vorschein. Sittendezernat.
»Unsere ... Kinder?«, fragte die alte Frau und versuchte, sich
ihre Wissbegier nicht anmerken zu lassen.
»Ja. Wenn Sie bitte mitkommen wollen. Lassen Sie Pistole
und Taschenlampe in Ihrem Briefkasten und folgen Sie mir.«
»Jetzt? Zu dieser nachtschlafenden Zeit?«, fragte die Matrone
im schwarzen Morgenmantel.
City nickte. Er wies auf die Straße hinter sich.
Cole wandte sich um und bemerkte überrascht zwei Taxen,
die mit leuchtenden Scheinwerfern und offenen Türen auf sie
warteten. Er hatte sie nicht heranfahren hören.
Die Gesichter beider Taxifahrer lagen im Schatten.
Es gab keine weitere Debatte. Alle stiegen in die Taxen. Die
alte Frau saß im selben Fahrzeug wie Cole, auf dem Vordersitz.
Die Ehepaare folgten ihnen mit dem anderen Taxi. Die Musik
von City, der sich neben Cole gezwängt hatte, klang leise, wie
aus weiter Ferne. Cole ahnte, dass die alte Frau sie gar nicht
hörte.
Catz saß rechts neben City. Cole klemmte zwischen City und
der Tür. Sein Arm wurde gegen Citys Körper gepresst ein
Körper, so hart und kalt wie Granit. Citys Ellbogen ruhte mit
dem Gewicht eines Stahlträgers auf Coles Hüfte. City saß reglos
da, den Blick nach vorn gerichtet. Zum ersten Mal sah Cole die
Spiegelbrille aus der Nähe. Die Bügel der Brille lagen nicht auf
seinen Ohren auf. Einen Zentimeter hinter dem Rahmen ver-
schwanden sie in seinen Schläfen, verschmolzen nahtlos mit
Haut und Knochen. Der Rahmen der undurchsichtigen Gläser
schmiegte sich so in die Augenhöhlen, dass Cole die Augen
dahinter nicht sehen konnte. Falls da Augen waren. Zwischen
den Gläsern gab es keinen Steg. Stattdessen war der Rahmen in
Haut und Knorpel des Nasenrückens implantiert. Die Spiegel-
brille war Teil seines Schädels.
Niemand hatte dem Taxifahrer die Richtung angegeben. Er
sprach kein Wort, keine Silbe. Er schien zu wissen, wohin er
wollte. Cole konnte kaum den Umriss seines Kopfes erkennen.
Das Taxameter war nicht eingeschaltet. Es stand auf Null.
Lichtkreise zogen an ihnen vorbei. Das Auto ein brasiliani-
scher Sabo, der mit Alkohol aus Rohrzucker betrieben wurde
schnurrte fast lautlos über den Asphalt. Die alte Frau auf dem
Beifahrersitz schluchzte. Cole hörte ein leises: »Marie ...«
Die Taxen hielten hintereinander am Straßenrand und alle
stiegen aus.
Sie befanden sich auf der Hyde Street, nur wenige Häuser-
blocks vom Anesthesia entfernt, im Bezirk Tenderloin, im
Hurenmekka.
Ohne auf Entlohnung zu warten fuhren die Taxen davon.
Der Mann mit dem dünnen Schnurrbart zog seinen Morgen-
mantel fester um sich und sah den Taxen erstaunt nach. Aus
seiner Überraschung wurde Angst, als er bemerkte, dass der
Polizist mit der Spiegelbrille verschwunden war und ihn um
Mitternacht an einer Straßenecke zurückgelassen hatte, im
Schlafanzug und umgeben von Huren und Zuhältern und Catz
und Cole.
Cole tippte ihm auf die Schulter und lächelte ihn an beru-
higend, wie er hoffte. Cole hätte ihm gerne eine Erklärung
gegeben. Aber es war sinnlos, ihm zu erklären, dass der Schwar-
ze mit der umgedrehten Baseballmütze und der Spiegelbrille,
der da mit dem schwarzen Zuhälter sprach, der Polizist war, der
sie hierher gebracht hatte und der gar kein >Polizist< war, son-
dern ein Mann, der gar kein Mann war, sondern von Catz mit
der Stadt gleichgesetzt wurde. Sinnlos.
Stattdessen also: »Ihr Name, Sir?«, fragte Cole freundlich.
»Chester Jones, und ich warne Sie, ich bin Anwalt, und wenn
das hier «
»Warum um Himmels willen sind wir hier?«, fuhr der ältere
Mann im dunklen Anzug dazwischen.
Cole drehte sich um und sah, wie City mit dem Zuhälter in
dem alten Mietshaus verschwand.
Cole war auf sich gestellt. »Ich bin, äh, Dubois von der Kri-
po«, improvisierte er. »Ich ich ermittle verdeckt. Was wir hier
machen « Er zögerte. Warum waren sie hier? »Wir möchten
Sie wieder mit ihren Kindern zusammenbringen«, sagte er
hastig.
»Mein Roy? Haben Sie ihn gesehen? Roy Jones? Er ist «, leg-
te Mrs. Jones los. »Er ist groß, ein etwas blässlicher Junge «
»Mein Roy! Mein Roy!«, kreischten die Huren und kicherten
los. Eine schwarze Frau mit blonder Perücke und Sternenstaub
auf den Augenlidern und ein weißes Mädchen mit schwarzer
Perücke und Mitternachtsstaub auf den Augenlidern klatschten
schallend die Hände aneinander im Wechselspiel äfften sie
Mrs. Jones nach, rangen die Hände und sangen im Chor: »Mein
Royie! Mein kleiner Royie!«
Die Dame im schwarzen Nachthemd ignorierte die Huren
und fragte Cole: »Lucille Schmidt?« Sie beugte sich mit flehen-
dem Blick vor. »Sie haben sie gesehen?«
»Ähm, wir werden uns um sie kümmern, Ma'am«, sagte Co-
le, da ihm nichts Besseres einfiel. Er zog Catz beiseite. »Hey,
Catz, kannst du mal deine Antennen befragen: Irgendeinen
Schimmer, was er mit ihnen vorhat? Ich weiß nicht, wenn die
Kinder auf den Strich gehen, was bringt das alles «
»Er wird sie miteinander aussöhnen, so oder so. Entweder
gehen sie mit ihren Eltern und sie suchen gemeinsam einen
Weg, oder sie beenden ihre Beziehung zu ihren Eltern auf
andere Art sie zerstören sie. Das ist ihm gleichgültig, wenn die
Sache damit nur erledigt ist, auf die eine oder andere Art. Er
überprüft Schaltkreise. Darin liegt keine Wertung. Huren sind
ein Teil der City, er hat nichts gegen sie.«
»Hey, hast du schon mal erlebt, dass jemand vom Strich weg
einfach nach Hause gegangen ist, so einfach über Nacht? Be-
sonders wenn alle anderen zuschauen? Als ich damals «
»Verdammt, weißt du nicht mehr, wie du mit diesen Idioten
in New York in der Dreiundfünfzigsten Straße gehaust hast?
Gab es da nicht Zeiten, wo du dich so fertig und beschissen
gefühlt hast, wenn deine Eltern genau dann aufgetaucht wären,
vielleicht warst du zehn Minuten lang so einsam, dass du mit
ihnen gegangen wärst ... oder? War es nicht so?«
»Ja. Klar. Immer mal wieder ein paar Minuten lang. Wenn
mein alter Herr den richtigen Zeitpunkt erwischt hätte ... Ich
versteh schon. City wird am besten wissen, wann die Zeit reif
ist.«
Catz deutete in ein Treppenhaus: City schob einen Teenager
vor sich her.
»Mama, was zum Henker machst du denn hier?«, rief das
Mädchen und kam die Stufen herunter. Sie war klein, mollig
und blond. Sie trug Leggings und ein eng anliegendes Sweat-
shirt, die Haare in Zöpfen und fast keine Schminke. Der Schüle-
rinnen-Look darauf flogen die Freier.
Sie warf ihrem Vater einen wütenden Blick zu. Ihre Mutter
rannte zu ihr und Lucille ließ sich widerstrebend umarmen,
schaute entschuldigend zu den anderen Huren hinüber und
rollte mit den Augen ... Doch zwei Minuten später wollte sie
ihre Mutter nicht mehr loslassen. Sie heulte. Und zischte die
feixenden Stricherinnen wütend an: »Verpiss dich, Fotze!« Ihr
Vater stand steif daneben und wollte seiner Tochter gerade die
Leviten lesen, als City der sich wieder in den Zivilpolizisten
zurückverwandelt hatte zu ihm sagte: »Ihre selbstgerechte
Einstellung ist unangemessen, Herr Schmidt. Im Juni des Jahres
2002 haben sie einem jungen Mann in einem blauen Chevrolet
fünftausend Dollar gezahlt. Wissen Sie noch, wofür?«
Schmidt schaute City an. Angesichts der Unerbittlichkeit der
Stadt San Francisco, die dieser Mann ausstrahlte, war Leugnen
zwecklos.
Schmidts Gesicht, bis dahin der Inbegriff der Missbilligung,
ein steinernes Mahnmal seiner Verachtung für seine Tochter,
fiel zusammen, und er brach in Tränen aus. Er warf die Arme
um seine Frau und seine Tochter.
Mr. und Mrs. Chester Jones warteten Hand in Hand unter
einer Laterne.
»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, unser Junge sei hier
«, setzte Jones an.
»Die Bar dort«, sagte City ruhig und zeigte auf den Back
Door Club, einen Block weiter nördlich. »Dort verkauft er
seinen Arsch für Drogen. Auch jetzt. Suchen Sie ihn ...« City
streckte eine Hand aus und berührte Jones an der Schulter.
Jones schauderte und zog seine Frau an sich. »Ich fühle mich
komisch«, murmelte er und rieb sich die Schulter. »Als ob etwas
in mir ist ...«
»Roy wird sich Ihnen nicht widersetzen: Meine Autorität be-
gleitet Sie. Nehmen Sie ihn einfach in die Arme, und er wird mit
Ihnen kommen. Er ist reif. Berühren Sie ihn, aber sagen Sie
nichts und verurteilen Sie ihn mit keinem Wort.«
»Ich kann da nicht einfach so reingehen«, widersprach Jones.
»Schon gar nicht in diesem Aufzug. Ich bin Anwalt, ich bin der
Hausanwalt von Ivory Meats und mit dieser Tätigkeit ist eine
gewisse Verantwortung für das Image der Firma verbunden
und wenn sich da drin Männer treffen, die auf die Straße gehen,
also damit will ich nichts zu tun haben «
»Wir alle gehen auf diesen Straßen«, erwiderte City. »Oder
können Sie fliegen? Los, gehen Sie.«
Langsam gingen Mr. und Mrs. Chester Jones die Straße ent-
lang, zogen ihre Morgenmäntel enger um sich und verschwan-
den durch die Vordertür des Back Door Club.
Es war ein Uhr morgens. Es waren kaum noch Autos unter-
wegs, die Straße war fast leer, ihre Stimmen hallten über den
Asphalt. Dann:
»Marie!«, schrie die alte Frau, die sich auf die Stufen vor ei-
nem Hauseingang gesetzt hatte. Sie sprang auf und drängte sich
durch eine Gruppe erstaunter Huren. Ein Stück die Straße
hinunter blieb eine abgemagerte Silhouette stehen und starrte
sie an. »Marie!«, rief die alte Frau und rannte unbeholfen auf
die verschwommene Gestalt zu.
Marie drehte sich um und rannte in die entgegengesetzte
Richtung davon. »Verpiss dich, lass mich in Ruhe!«, drang es
leise durch das Knurren der Stadt.
Sie hatte einen halben Block Vorsprung vor ihrer Mutter und
entfernte sich immer schneller. City senkte kaum merklich den
Kopf. Der Boden erbebte kurz. Marie stolperte. Sie fiel aufs
Gesicht und blieb eine halbe Minute lang benommen liegen, bis
ihre Mutter sie eingeholt hatte.
Der Zuhälter kam in großen Sprüngen die Treppe herunter
und rammte City einen Finger in die Brust. »Für wen zum
Teufel hältst du dich, Arschloch? Na? Wo ist der Bruder von
vorhin? Der Typ mit der weißen Mütze?« Als City nicht ant-
wortete, rückte er seine eigene Brille zurecht, Spiegelbrille
starrte in Spiegelbrille und reflektierte die gläsernen Masken bis
in die Unendlichkeit. »Willst du dich mit mir anlegen, oder
was? Du bist kein verdammter Bulle, du Arschloch. Mit denen
hab ich andere Absprachen. Hee, ich spreche mit dir, Arsch-
loch, wenn ich diese Mösen verliere, kostet mich das jeden Tag
« Er hielt inne.
City streckte einen Arm aus, die Handfläche nach unten, und
überschwemmte den Gehweg mit altmodischem Bargeld.
Hundertdollarscheine regneten aus seiner Handfläche, tauchten
aus dem Nichts zwischen seinen Fingern auf und segelten
brandneu und grün auf Bürgersteig und Straße. Reflexe über-
nahmen die Kontrolle; niemand stellte das Phänomen in Frage.
Der Zuhälter und die Huren krochen auf Händen und Knien
herum und ernteten Bargeld. Catz mischte sich lachend unter
sie. Cole hob einen Schein auf und begutachtete ihn. Er war
echt. Er steckte ihn in die Tasche. Mindestens zehntausend
Dollar bedeckten den Gehweg, als City seine Arme senkte und
den Geldsegen einstellte. ITC hatte dafür gesorgt, dass Papier-
geld bei den meisten Transaktionen überflüssig geworden war,
aber man konnte es in der Intercash-Zentrale für Kartenkredit
eintauschen. Eine der Huren, eine Chicana mit leuchtend rotem
Lippenstift und einer riesigen blonden Perücke, beschloss sich
der Quelle des Reichtums an den Hals zu werfen. Sie legte ihre
Arme um City und ließ eine Hand zwischen seine Beine gleiten.
Cole beobachtete ihre tastenden Finger. City bewegte sich nicht.
Die Frau packte ihn im Schritt. Und fuhr entsetzt zurück. »Er
äh als ob « stotterte sie. »Er ist total ...« Sie presste sich eine
Hand auf den Mund, rannte die Stufen hinauf und verschwand
im Gebäude.
Mr. und Mrs. Jones kehrten zurück, einen ausgemergelten
jungen Mann zwischen sich.
Alle drei heulten. Aus drei unterschiedlichen Gründen. Mr.
Jones heulte, weil er der Hausanwalt einer Fleischverpackungs-
firma war, die der Mafia gehörte und hinter der sich ein Vertei-
lerring für Drogen verbarg. Sein Sohn ging auf den Strich, und
so sehr sich Mr. Jones auch bemühte, konnte er eigentlich
keinen Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Be-
schäftigung erkennen. Seine Frau heulte um ihren Sohn, ihr
Sohn heulte um seinen Stoff.
Ein ganzes Stück die Straße runter kämpfte Marie mit ihrer
Mutter. Sie rollten über den Gehweg, traten und kratzten, beide
in Tränen aufgelöst. Ohne nachzudenken ging Cole auf sie zu.
Die Popmusik begleitete ihn wie die elektronische Parodie eines
Grabgesangs, wurde lauter, je näher Cole ihnen kam. Als er
Marie und ihre Mutter fast erreicht hatte, donnerte der Rhyth-
mus in seinen Ohren und eine der beiden schattenhaften Ge-
stalten auf dem Gehweg rührte sich nicht mehr. Die andere
schwang einen Arm hoch über ihren Kopf und ließ ihn mit aller
Gewalt auf den reglosen Körper der Mutter herabsausen. »Ma-
rie ...« murmelte Cole.
Hinter sich hörte er verängstige Rufe.
Die Popmusik brach schlagartig ab.
Cole fuhr herum und rannte auf City und Catz zu.
Drei gelbe Mittelklassewagen bildeten ein U um die Stufen
vor dem Eingang des Mietsgebäudes, wo der Zuhälter, die
Frauen und Catz sich immer noch die Taschen mit Scheinen
voll stopften. City stand breitbeinig da, den Blick auf die
Scheinwerfer gerichtet.
Ein Taxi fuhr vorbei, schattengleich wie das, welches Cole
hierher gebracht hatte. Darin saßen die Jones, die Schmidts und
ihre Kinder. Das Taxi glitt an ihnen vorüber und verschwand
um eine Ecke.
Catz richtete sich auf und blinzelte in das Scheinwerferlicht,
als Cole die letzte Straße überquerte, die sich noch zwischen
ihnen befand.
Ein Mann mit glänzendem Waffenstahl in der Hand stieg aus
einem der Fahrzeuge.
»Catz, runter mit dir!«, brüllte Cole. »Das sind Vigilanten,
Dummkopf!«
Sechs Männer, die Gesichter von Nylonstrümpfen zu rosa
schimmernden Wasserspeiern verflacht, stießen die Huren und
ihren Aufpasser gegen die Wand. Der Zuhälter versuchte sich
rauszureden und wedelte mit Geldbündeln; einer der Vigilanten
trat ihm in den Bauch; als er sich krümmte, schlug ihm ein
anderer den Kolben seiner Waffe über den Schädel. Er blieb mit
dem Gesicht nach unten liegen.
Eine der Huren schrie: »Hee, uns macht ihr keine Angst,
Arschloch!«
Ein Schuss aus der Waffe, roter Qualm und grollende Echos.
Das rechte Knie der Hure explodierte. Sie stürzte, ihre Freun-
dinnen beugten sich über sie, Fluchen, Weinen, Schreien.
Cole bremste ab, er war noch zehn Meter entfernt und
drückte sich in den Schatten. Die Vigilanten hatten ihn noch
nicht bemerkt sie machten selbst zu viel Lärm, begrabschten
die kreischenden Stricherinnen und lachten. Vier weitere be-
waffnete Männer waren in das Mietshaus eingedrungen, um
den Rest der Huren aufzustöbern. Sie würden sie alle auf einmal
umbringen. Ein Polizeifahrzeug wollte gerade in die Straße
einbiegen, doch beim Anblick der wohlbekannten gelben Fahr-
zeuge der Vigs ohne Nummernschilder zog es sich rasch
zurück. Die Streife konnte immer behaupten, von einem ande-
ren Notfall abgelenkt worden zu sein und nichts gesehen zu
haben.
Zwei der Männer in Strumpfmasken brüllten City an, einer
stieß ihn drohend zur Seite. Oder versuchte es vielmehr er
hielt sich die verletzte Hand, während ein anderer City seinen
Gewehrlauf über das Gesicht zog. City stand da, als hätte er
Wurzeln geschlagen. Er trug wieder seinen Trenchcoat und
seinen Filzhut. Und die Spiegelbrille.
Der Kleinere der beiden Männer feuerte seine Waffe aus
nächster Nähe auf Citys Solarplexus ab. Drei Mal. City zuckte
leicht, zeigte aber sonst keine Reaktion. Er blieb einfach stehen
und ließ die Arme herabhängen. Dann öffnete er den Mund ...
Eine Sirene heulte aus seinem offenen Mund.
Cole schlug sich die Hände auf die Ohren. Die Fenster neben
ihm erzitterten und der Schmutz, der sie bedeckte, löste sich in
Wolken von ihrer Oberfläche. Eine Alarmsirene heulte mit
fünfzigfacher Lautstärke aus Citys Hals. Darauf musste die
Polizei reagieren. Sie konnten nicht vorgeben, eine Sirene von
dieser Lautstärke nicht zu hören.
Die Vigilanten quetschten sich in ihre Autos, die Hände über
den Ohren.
Der Wagen, der vor City parkte, fuhr rückwärts bis an den
gegenüberliegenden Randstein, ging in die Knie, ließ seine
Räder durchdrehen und preschte los. Er rammte City mit voller
Wucht. Das Fahrzeug bockte und prallte mit heulendem Motor
ab. City blieb stehen. Immerhin schüttelte er den Kopf, als
müsse er einen bösen Traum verscheuchen. Blut floss unter
seinen Hosenaufschlägen hervor auf seine Schuhe und aus
einem Winkel seines offenen Mundes. Das Heulen der Sirene
bekam einen gurgelnden Unterton, stockte aber nicht. Die
Huren nutzten die Gunst der Stunde. Sie rannten an Cole
vorbei, die Straße hinunter und um die nächste Ecke. Catz hielt
sich nahe an der Wand, das Gesicht wegen des Lärms verzogen,
und schlich zu Cole hinüber. Sic behielt den Wagen der Vigil-
anten im Auge, während Cole sie in einen finsteren Hausein-
gang zog.
Der Wagen fuhr erneut ein Stück rückwärts. Sein Motor hu-
stete und wurde abgewürgt. Ein anderes gelbes Fahrzeug fuhr
bereits rückwärts die Straße hinunter, links an Cole vorbei. Er
sah sich nach etwas um, das er hätte werfen, mit dem er es hätte
aufhalten können. Doch es holte einen ganzen Wohnblock lang
Schwung, bevor es City rammte. Dieses Mal wurde er umgeris-
sen und das Auto fuhr über ihn hinweg und knallte in eine
Ecke, zwischen Betontreppe und Gebäudewand ... Sein Kotflü-
gel schlitterte seitlich weg und kollidierte mit der Mauer. Be-
tonstaub rieselte herab, eine Dampfwolke zischte empor. Dann
war es still bis auf das leise Ticken des Motors.
Alles war still fünf Sekunden lang. Bis die Polizeisirenen
ertönten und näher kamen.
Dem abgewürgten Fahrzeug gelang es, den Motor wieder an-
zuwerfen. Es fegte dem verbliebenen Wagen nach, der bereits
einen halben Block entfernt war und weiterraste.
Cole sah sich nach City um. City war ein triefender Haufen
Kleider und Fleisch auf dem Gehweg, keine zehn Meter ent-
fernt. Die zerfetzte Leiche war kaum noch als Mensch zu erken-
nen. Cole blickte zur Skyline von San Francisco empor. Würde
sie sich nicht im nächsten Augenblick aufbäumen und zusam-
menstürzen? Die City stand so unerschütterlich da wie immer.
Also war jede Trauer unangebracht.
Cole betrachtete die spiegelnde, samtrote Blutlache, die eilig
ihre nassen Finger nach der Bordsteinkante ausstreckte.
In diesem Moment erreichten die beiden gelben Wagen die
nächste Kreuzung.
Cole betrachtete den zielgerichteten Fluss von Citys Blut auf
die Straße zu und wusste, dass die Vigilanten es nicht schaffen
würden.
Catz wusste es auch und lachte laut los.
Die Straßenlampen, die sich den Fahrzeugen in den Weg
warfen, bogen sich nicht wie Gummi: Sie schossen herab und
schmetterten ihre Leuchtkörper mit berstendem Knall aufs
Pflaster. Sie riegelten die Straße beiderseits der Fahrzeuge ab.
Sechs der verbliebenen acht Vigilanten sprangen aus den Autos
und flohen in wilder Panik, fluchten dabei und rissen sich die
Masken runter. Zwei, die Seite an Seite Richtung Süden rann-
ten, prallten in Sekundenschnelle gegen stählerne Klauen, die
aus dem Asphalt wucherten zuerst glaubte Cole riesige Finger
aus schwarzem Stahl zu sehen, schaute genauer hin und erkann-
te vier dicke Versorgungsrohre, die auf die beiden Männer
herabklatschten wie eine riesige Mausefalle. Und sie augenblick-
lich zerquetschten. Bis Cole sich nach den anderen Männern
umschaute, waren auch sie tot. Dicke blaue Funken tanzten
noch um die abgerissenen Starkstromleitungen, die die zucken-
den Leichen fesselten.
Der Boden bebte, als direkt unter dem letzten noch rollenden
gelben Fahrzeug zwei weitere dreißig Zentimeter dicke Rohre
den Asphalt durchstießen, schwarze Steinbrocken und blauen
Staub in alle Richtungen verteilten, sich mit einem schreckli-
chen Quietschen durch die Ölpfanne bohrten, beiderseits des
Motorblocks und durch die Stoßstangen hindurch den Motor
halb aus der Motorhaube drückten. Verdrehte Metallsplitter
flogen durch die Luft, gefolgt von Dampf und Rauch, die aus
der durch die Mangel gedrehten Front des Wagens schossen.
Das Auto ruhte leicht schief auf den aufgespießten Deichseln,
die Vorderreifen drehten sich hilflos in einem Meter Höhe.
Dann explodierte der Benzintank und der Wagen verschwand
in züngelndem Rot und Schwarz.
Einer der Männer war zerfetzt worden, der andere war beim
Aufprall durch die Windschutzscheibe geflogen und umarmte
die brennende Maschinerie, die von keiner Haube mehr ver-
deckt wurde. Gekrümmte Stahlstacheln ragten aus seinem
Rücken.
Öliger schwarzer Rauch wand sich empor und verzerrte die
Gesichter der Menschen, die aus den Fenstern gafften, zu
dämonischen Fratzen. Das Heulen der Sirenen kam näher und
mischte sich mit dem Getöse der Feuerwehrlöschzüge. Cole fiel
in Catz' Gelächter ein.
Kinder rannten vorbei und bewunderten das Wrack. Cole
verstummte und dachte daran, nach Hause zu gehen.
»Kann ich bei dir übernachten?«, fragte Catz. Sie schlender-
ten ohne große Eile davon, fädelten sich durch die Menschen-
menge, die aus Wohnungen und Häusern strömte.
»Was zum Teufel ist hier los?«, fragte ein Chicano auf einem
Motorrad. Cole zuckte die Achseln.
»Klar kannst du bei mir übernachten, Catz«, sagte Cole. »Ich
habe ein Sofa, dass sich ausklappen lässt.«
»Mann, hier liegt ein total zermatschter Kerl!«, brüllte je-
mand von hinten.
Cole warf einen Blick über die Schulter; die Spiegelbrille von
City glitzerte unversehrt auf dem Bordstein und blickte ihnen
nach.
»Ja, das wäre klasse«, fuhr Catz fort. »Wir könnten fernsehen
oder so.«
Cole drängte sich durch eine Menschenansammlung, die je-
manden auf dem Bürgersteig begaffte, stieg über Maries Mutter
hinweg und ging weiter, ohne sich umzusehen.
»Klar«, sagte Cole. »Ich kriege InterSat. Da kommt sicher
irgendwas.« Er zuckte mit den Schultern. »Es ist noch nicht zu
spät, um fernzusehen.«
Das taten sie dann auch. Sie sahen sich in PT-109 so ein
Dreckschwein an, das Kennedy darstellen sollte. Danach saßen
sie schweigend am Fenster und betrachteten die Lichter der
City, bis sie im Morgengrauen eins nach dem anderen ausgin-
gen; trostlos wuchs die Großstadtlandschaft dem Tag entgegen.
= ZWO!
Cole starrte ungläubig auf das Formular. Er stand an
einem grässlichen, nassen und windigen Montagmorgen im
Mai am Fenster seines Hausflurs und las wieder und wieder,
was der öffentliche PC ausgespuckt hatte. »Das musste ja an
einem Montag kommen.« Er strich mit der Hand über die
herrisch roten, elektronisch geprägten Buchstaben: BITTE
ÜBERWEISEN SIE DEN BETRAG VON $3.000,00 AN DIE
INTERCASH ERFASSUNG. ZU HÄNDEN J. SALMON, AB-
TEILUNG ELEKTRONISCHE AUSZAHLUNGEN: ÜBER-
FÄLLIGE BEARBEITUNGSSTEUERN ...
»Überfällige Bearbeitungssteuern«, wiederholte Cole. Der
Kaffee in seinem Mund (sein Magen brannte, er hätte keinen
Kaffee auf leeren Magen trinken sollen) hatte einen säuerlichen
Geschmack angenommen. Den Geschmack von Korruption,
dachte er und spuckte in den Mülleimer im Treppenflur.
Mit dem Ausdruck in der Hand ging er in seine Wohnung
und schloss die Tür hinter sich. Nachdenklich legte er ihn auf
das verstaubte Fernsehgerät. Dann wandte er sich der Nachrich-
tenbox an der Seite des Apparates zu, drückte auf den Knopf
und überflog die Titelseite, die auf dem Bildschirm erschien. ...
Präsident unterzeichnet ITC-Frist ... Er ließ seinen Blick weiter
gleiten, schnappte ein paar Datenfetzen auf ... bis November
muss die Umstellung auf das elektronische Finanztransfersystem
abgeschlossen sein. Die Gouverneure von Louisiana und Wa-
shington haben protestiert und um mehr Zeit gebeten ... Senator
Wiley beharrt darauf dass genügend Zeit zur Verfügung stand,
namentlich eingedenk der langen Liste von Städten, die Instant
Transfer bereits einsetzen. ... Eine UN-Resolution fordert Fonds
zur Realisierung des weltweiten Einsatzes des elektronischen
Finanztransfersystems ...
Da verschwand die Nachrichtenanzeige. Cole blinzelte ver-
wirrt. Er warf einen Blick auf die Stecker. Das Gerät war ange-
schlossen. Ein anderes Programm erschien, ein Zeichentrick-
film, Fucky Graffiti, ein Grundkurs in Pornographie für Kinder:
Ein grob skizziertes männliches Geschlechtsorgan ohne
Körper, dafür mit kleinen Beinchen verfolgte eine flüchtende
Vagina. Er drückte auf den Aus-Schalter und die hektischen
Genitalien verblassten. Was sollte das? Er drückte wieder auf
den An-Schalter und schaltete die Nachrichtenbox zu. »Was
zum Teufel ist mit den Nachrichten los?«, murmelte er. Keine
Nachrichten. Dafür Buchstaben, wie elektronisch geprägt:
DER NACHRICHTENSERVICE IST BIS ZUR ZAHLUNG
DER AEA-BEARBEITUNGSSTEUER EINGESTELLT ...
»Schweinepriester!«, brüllte er und drosch auf den Aus-
Schalter, bevor Fucky Graffiti erneut übernehmen konnte.
Er ging zum Telefon. Seine Finger drückten die Tasten fast
automatisch, und voller Ungeduld betrachtete er den kleinen
Bildschirm. Er kochte innerlich, während er darauf wartete,
dass sein Anwalt auf dem Bildschirm auftauchte.
»Büro Arthur Topp. Was kann ich für Sie tun?«, hörte er die
Stimme eines jungen Mannes; vermutlich Arts Sekretär. Und
Liebhaber.
»Tja ...«, fing Cole an und starrte dann mit wachsendem
Argwohn auf seinen leeren Teleschirm. »Ich muss ihn sprechen.
Stu Cole hier.«
»Legen Sie Wert darauf, ohne Bild zu sprechen, mein Herr?«
Der Junge klang verärgert. Es war sehr unhöflich, jemanden
ohne Bildfunktion anzurufen, auch wenn der Empfänger die
Möglichkeit hatte, ohne Bild zu antworten.
Ȁh, nein mein Monitor funktioniert nicht. Muss wohl re-
pariert werden oder so.«
»Ich verstehe.«
Pause, ein Klicken. »Stu? Was ist mit deinem Bild los? Hast
du etwa Angst, dass dich jemand am Montagmorgen zu sehen
bekommt?« Topps Stimme. Kein Bild.
»Der Bildschirm funktioniert nicht die AEA hat ihn abge-
schaltet. Meine Nachrichtenbox haben sie auch abgeschaltet. Sie
wollen mich unter Druck setzen, damit ich zahle. Die Tonver-
bindung werden sie auch bald kappen.«
»Ist Mama AEA hinter dir her?«
»Glaubst du, dass zwischen der Telekom und ITC konzernin-
terne Verbindungen bestehen? Ich bin mir fast sicher ...«
»Gut. Du schuldest ihnen also Geld ...?«
»Ja, ich nein! Nein, das behaupten sie nur. Deshalb rufe ich
dich an.«
»Bei mir hast du auch noch Schulden«, sagte Topp, eher a-
müsiert als vorwurfsvoll.
»Mhmm. Die werde ich umgehend begleichen, und dein hal-
bes Honorar im Voraus. Aber hör zu, es geht um eine Bearbei-
tungssteuer.«
»Ach.« Topps Stimme hatte plötzlich einen resignierten Un-
terton. »Das.«
»Komm schon, dagegen kann man doch wohl angehen «
»Nur wenn du bis vors Bundesgericht gehst. Das dauert al-
lerdings. Ziemlich lange sogar. Die Gerichte sind im Augenblick
ziemlich lahm gelegt durch die ganzen Verfahren um den
Nuklearterroranschlag in Oregon.«
»Was? Gegen wen haben die denn Anklage erhoben? Sie ha-
ben den Kerl doch nicht einmal erwischt, wie können sie «
»Die Regierung wird verklagt, weil das FBI ihn angeblich hat
entwischen lassen. Die Anklage lautet auf Fahrlässigkeit. Will
sagen, die Familien von zweihunderttausend Menschen, ver-
stehst du Familien im ganzen Land, die ganze Verwandt-
schaft. Es ist dumm von den Gerichten, es überhaupt zur Ver-
handlung kommen zu lassen, sie wissen doch, dass sie einen
Präzedenzfall schaffen, wenn sie jemandem etwas zusprechen,
und sie wissen, dass der Kerl oder ein anderer es wieder tun
wird. Eine weitere Stadt unsere vielleicht verdampft in
einem Atompilz, weil irgendein Kerl mit ein paar Semestern
Physik so ein Ding zusammenbastelt und Erpresser spielt «
»Ja, klar wahrscheinlich werden sie alles niederschlagen.
Jedenfalls müssen wir irgendwo anfangen «
»Im Ernst«, unterbrach ihn Topp hastig, »die ganze ver-
dammte Stadt, Salem in Oregon, ist weg, ausgelöscht, nur noch
ein Krater, und verflucht, es könnte genauso gut hier passie-
ren.«
»Du erzählst mir das, weil du nicht über die Bearbeitungs-
steuer sprechen willst. Komm schon.«
»Wie du meinst.«
Für eine Weile herrschte Stille bis auf ein Knistern aus dem
Lautsprecher unter dem kleinen rechteckigen Bildschirm. Der
Monitor war oberhalb einer roten Plastikgabel angebracht.
Schließlich sagte Topp: »Ich kann dir da nicht helfen. Wir
wissen beide, dass die Bearbeitungssteuer Schwachsinn ist, die
Jungs von der AEA sahnen noch mal so richtig ab «
»Schön und gut. Das kann ich ja verstehen. Ich bin daran
gewöhnt, Schutzgelder zu bezahlen. Aber ich soll diese angeb-
lich überfällige Zahlung jetzt auf einen Schlag begleichen
verstehst du, alle anderen fangen bei Null an. Nur ich soll
rückwirkend zahlungspflichtig sein für die ganzen Jahre, die ich
ITC-Einrichtungen in Anspruch genommen habe ... und weißt
du warum?«
»Warum?«, fragte Topp, obwohl er es wusste. Cole hörte ihn
an seiner Zigarette saugen.
»Weil ich die Huren in meinen Club lasse und sie um diese
ganzen Steuer- und Schutzgeldgeschichten herumkommen. Die
AEA will sie organisieren, und genau das wollen sie nicht.«
»Du redest leichtfertig über gefährlichen Kram hörst dich
an, als wären sie die Mafia.« Eine klare Warnung, dass die AEA-
Scheißer sehr wahrscheinlich mithörten.
»Nenn es, wie du willst«, sagte Cole. »Deswegen sind sie hin-
ter mir her sie haben mich gewarnt und sie wissen, dass ich
den Unterschriften-Aufruf verfasst habe, damit kleinere Läden
weiterhin Bargeld verwenden können, und sie wissen, dass ich «
»Cole, verdammt noch mal!«
»Hör auf mit dem Gedruckse, Topp! Sie wissen Bescheid.
Wenn sie mithören, erfahren sie nichts Neues, Mann.«
»Gut. Sie wissen, dass du die Initiative gegen die Umstellung
auf rein elektronische Transfers verfasst hast.« Topps Stimme
klang müde.
Cole zögerte. Ihm war ein neuer Gedanke gekommen.
»Topp, haben sie ?«
»Nur Drohungen.«
»Also du wirst mich in dieser Sache nicht vertreten?«
»Nur wenn ich unbedingt aus der Anwaltskammer fliegen
will.«
»Erzähl mir jetzt bloß, das wäre alles legal, Mann. Sie können
doch nicht «
»Hör zu, die hiesigen Richter haben auch ihre Bankkonten,
und die AEA findet immer einen Grund, jemandem das Kredit-
limit zu streichen, wenn er nicht brav ist. Du wirst hier in der
Gegend niemanden finden, der zu deinen Gunsten entscheidet.
Und wie ich dir bereits erklärt habe, die Bundesgerichte sind für
Monate beschäftigt. Du könntest zu, hm « Er zögerte; dann,
etwas zurückhaltender: »Tja, weißt du ... ähm «
»Ach, möchtest du mir doch lieber keinen Rat geben?«, fragte
Cole erbittert.
»Ich muss zu einem Mittagessen. Geschäftlich, äußerst wich-
tig «
»Und ob du das musst. Hoffentlich beißt er ihn dir ab«,
knurrte Cole und stach mit seinem Daumen auf den Trenn-
knopf.
Geistesabwesend nahm er eine Zigarre aus einem Schränk-
chen neben dem Telefon, zündete sie an, steckte sie sich zwi-
schen die Zähne und paffte nachdenklich, die Hände tief in den
Hosentaschen vergraben. Er ging zum Sofa hinüber, setzte sich
hin und starrte ins Leere.
Das niedrige rote Sofa mit seinen schief liegenden, abgewetz-
ten Kissen stand schräg in einer Ecke des Wohnzimmers. Er saß
dem leeren Bildschirm des tragbaren Fernsehgerätes direkt
gegenüber. Das Zimmer war ganz in gebrochenem Weiß gestri-
chen, die Leuchten direkt in der weißen Decke versenkt. Coles
Fotografien waren die einzige Dekoration: Stadtansichten. Die
City. Cole war Amateur-Fotograf.
»Ich werde meine Kamera nicht verkaufen«, murmelte er,
während er die Fotos betrachtete. »Nicht meine Nikon. Eher
verkaufe ich den Club.« Er zog an der Zigarre und sagte: »Hör
auf, Selbstgespräche zu führen, du Idiot.« Dann lachte er.
Über dreißig mattierte Schwarzweißfotografien waren über
die Wände verteilt, so angeordnet, dass sie die Grenzen von
Wohnblocks andeuteten. Die meisten zeigten detailgenaue
Luftaufnahmen, aus dem Stadtrundflug-Hubschrauber fotogra-
fiert.
Die City in Gestalt von Halbleiter-Schaltkreisen.
»Ich werde den Club nicht verkaufen. Die Arschlöcher kön-
nen mich mal«, sagte er laut. Er rieb sich seine größer werdende
kahle Stelle und runzelte die Stirn, als er einen Pickel bemerkte.
Er verzog seinen ausgeprägten, breiten Mund. Für einen flüch-
tigen Moment machte er sich Sorgen um sein Alter, um seinen
Bauch, um seine Angewohnheit, Selbstgespräche zu führen, um
Perle, ob er einen Privatdetektiv anheuern sollte, um sie zu
finden, und ob er sich das leisten konnte. Und um den Schrieb
von der AEA. »Wann?«, fragte er niemand Bestimmten.
Er stand auf, ging zum Fernseher und nahm das Schreiben in
die Hand ... IM FALLE UNTERLASSENER ODER UNVOLL-
STÄNDIGER ZAHLUNG BIS ZUM 24. APRIL WERDEN
ALLE DIENSTLEISTUNGEN AN DEN CLUB ANESTHESIA
EINGESTELLT. »Vierundzwanzigster April. Die wissen genau,
dass ich nicht so viel Geld auftreiben kann«, murmelte er. »Und
sie kontrollieren das Kreditwesen.« Hör auf, Selbstgespräche zu
führen, dachte er.
»Du bemühst dich nach Kräften, nicht an mich zu denken,
und mit beträchtlichem Erfolg«, sagte jemand, obwohl niemand
da war.
»Was ? Au Scheiße!«, entfuhr es Cole. Sein Rücken wurde
steif, ruckartig verschränkte er die Arme über der Brust. Er sah
sich um. Niemand da. Bis sein Blick an dem Gesicht auf dem
Fernsehschirm hängen blieb.
Der Fernseher war aus. Aber jemand war darauf zu sehen.
Eine blinzelnde Linie flimmerte über den Bildschirm und
kräuselte das Bild. Dann war er wieder da. Kopf und Schultern
eines Mannes. Ein sprechender Kopf.
»City ...«
»Wäre es dir lieber, mich zu vergessen?«, forschte das Ge-
sicht auf dem Fernsehschirm. Es war schwarzweiß.
»Ja ... jedenfalls, was passiert ist. Nicht dich«, sagte Cole, die
Knie hochgezogen und aneinander gepresst, die Arme drum-
herum geschlungen. Er starrte das ernste Gesicht auf dem
Bildschirm an. Spiegelbrille, harte Kanten. Eine unvollendete
Büste aus Stein. Das kalte Gesicht des Mannes, der vor seinen
Augen von einem Auto zerquetscht worden war. Der herr-
schende Geist der Stadt.
»Es wird dir schwer fallen, das zu vergessen, sobald du raus-
gehst«, sagte City. »Die Leute reden davon. Wenn du bis zum
letzten Beitrag der Nachrichtenseiten gekommen wärst, hättest
du eine Meldung über die polizeiliche >Ermittlung< bezüglich
der Todesfälle von Samstagabend gesehen. Die Männer, die ich
getötet habe.«
»Psst!«, zischte Cole entsetzt.
»Sie hören nicht mit«, entgegnete City. »Sie können es
nicht.« Seine Lippen schienen sich einen Sekundenbruchteil
später zu bewegen, als Cole die Wörter hörte. »Ich bin hier ein
Bestandteil von allem«, fuhr City fort. »Mit Ausnahme der
AEA. Die fühlt sich an wie Krebszellen.« Die harten Gesichts-
züge verzogen sich einen Augenblick lang sorgenvoll. »Ich lasse
sie nicht mithören ...«
»Sag mal « Cole entspannte sich etwas, legte seine Zigarre
an den Rand des Aschenbechers und beugte sich vor. »Wenn
hier jemand reinkommen würde, während du mit mir sprichst
... ähm könnte er dich sehen?«
»Klar. Du hast keine Halluzinationen. Aber mach dir nicht
die Mühe, jemanden zu holen. Ich würde verschwinden und
niemand könnte mich mehr sehen. Ich möchte nur mit dir und
Catz sprechen.«
»In Ordnung«, sagte Cole, und seine eigene Stimme klang
mechanisch in seinen Ohren. »Soll ich Catz holen?«
»Nein. Sie hört später von mir ... Jetzt möchte ich dir etwas
zeigen.« Das Fernsehbild veränderte sich. Es zeigte jetzt eine
Schwarzweißaufnahme von der Decke aus aufgenommen, aus
einer Ecke von vier Männern, die in einem vornehmen Büro
vor einem Tafelglasfenster um einen Tisch herum saßen. »Er-
kennst du den Mann am oberen Tischende, Cole?« Citys Bild
war verschwunden, aber Cole hörte deutlich seine Stimme, voll
der herzlichen Freundlichkeit eines Zeitansagers, der am Tele-
fon die Minuten runterzählt.
Cole betrachtete den Mann am oberen Tischende. Eine breit
gebaute Gestalt mit kräftiger Gesichtsfarbe, dicken Brillenglä-
sern, weißen Haaren (eine Perücke vermutlich) und langen
weißen Koteletten. »Rufe Roscoe. Der Mafioso.«
»Richtig. Und die anderen?«
Der Bursche mit dem karottenroten Flaum auf dem Kopf
und den Sommersprossen und dem dümmlichen Blick
»Salmon. Der Anwalt von Intercash.«
»Richtig. Die anderen kennst du nicht?«
»Nein.«
»Dann horche mal ...«
Neue Stimmen drangen aus dem Lautsprechergitter des
Fernsehers. Salmon sagte gerade: » ... Rusk hat uns seinen
Anteil zum Einkaufspreis überlassen, aus steuerlichen Gründen!
Boswell hat Gewinn gemacht, vier Prozent; damit sind wir bei
zweiundvierzig, also haben wir als Nächstes «
»Schon gut«, unterbrach ihn Roscoe ungeduldig. »Wo stehen
wir jetzt?«
Salmon lächelte. »Dreiundfünfzig Prozent.«
»Wunderschön!«, sagte Roscoe, obgleich seine Miene keiner-
lei Entzücken spiegelte. Er sah aus, als hätte er gerade etwas
getötet und dabei leidlich Spaß gehabt.
»Aber ...«, nahm Salmon zögerlich den Faden wieder auf.
Roscoe beugte sich vor.
Salmon sagte: » ... da wäre noch dieser Topp, er und der Be-
zirksstaatsanwalt wollen Anklage erheben wegen illegaler Akti-
enaneignung, vielleicht sogar die Gewinne einfrieren «
»Der Bezirksstaatsanwalt«, ging Roscoe dazwischen. Er
sprach leise, doch Salmon unterbrach sich sofort. Roscoe lehnte
sich zurück. »Der Bezirksstaatsanwalt ist ein alter Mann. Sollte
er einem Herzinfarkt erliegen, würde sich niemand wundern.
Ich kenne da einen Arzt ... Nun gut, vergessen Sie ihn einfach.
Und Topp eventuell auch.«
»Es wäre besser, Topp nur einen Schrecken einzujagen.
Wenn zu viele Leute verschwinden, die mit dieser Sache zu tun
haben ...«
»Nun gut. Wenn er erfährt, dass wir über die Mehrheit der
Anteile von ITC verfügen, schleicht er mit dem Schwanz zwi-
schen den Beinen nach Hause ...« Roscoe lächelte süffisant und
blickte gedankenverloren zum Fenster hinaus.
Das Bild verging in Dunkelheit, wurde von City abgelöst.
»Woher hast du das?«, fragte Cole heftig.
»Roscoe hat die exzentrische Neigung, alles aufzuzeichnen,
wie bei Nixon und den Aufnahmen im Weißen Haus, nur hat er
aus Nixons Fehlern nichts gelernt. Er besteht darauf, weil die
Jungs aus seinem Umfeld einander nur ans Messer liefern,
wenn sie ihre eigenen kleinen rosa Schwänze in Sicherheit
gebracht haben. Also hat er sich ein Archiv mit unwiderlegba-
ren audiovisuellen Aufzeichnungen angelegt, so dass er jeden,
der unter FBI-Schutz gegen ihn aussagt, mit reinreiten kann.
Diese Aufnahmen führen in jedem Fall zur Anklage. Die Mit-
glieder des Ausschusses wissen Bescheid ein gutes Abschrek-
kungsmittel gegen Verrat. Er richtet die Kameras selbst aus und
kümmert sich persönlich um die Filme, die dann in einen
Tresor wandern.«
»Ziemlich dumm von ihm. Wahrscheinlich ist das Risiko
größer, dass die Bullen ohne sein Einverständnis an sie ran-
kommen, als die Gefahr, die er abwenden möchte. Es ist wirk-
lich äußerst blöd, diese Filme aufzubewahren. Wenn die FBIler
je einen Durchsuchungsbefehl für diesen Tresor bekommen ...«
»Stimmt«, sagte City. »Zum Glück ist ihm das nicht bewusst.
Er kennt nur seine Sicht der Dinge und ist ziemlich dickköpfig.
Hält sich für unfehlbar.«
»Warum zeigst du das dann nicht dem Polizeipräsidenten,
auf seinem Fernseher?«
»Er steckt mit der AEA unter einer Decke. Außerdem kann
ich mit ihm keinen Kontakt aufnehmen. Jedenfalls nicht so
leicht. Er wäre überzeugt, den Verstand zu verlieren. Du bei
dir habe ich das Gefühl, als würdest du mich heraufbeschwören.
Ich dringe zu dir durch. Jedenfalls, als einziges Beweismaterial
würden die Aufzeichnungen nicht genügen, da unser Zugang zu
ihnen illegal ist. Gesetzeswidrige Aneignung von Beweisen.«
»Ich verstehe. Weil wir sie stehlen müssten. Und beim der-
zeitigen Stand der Dinge würde sich das FBI kaum überzeugen
lassen, einen Durchsuchungsbefehl zu organisieren ... Moment
mal wie kannst du mir Aufnahmen zeigen, die in seinem
Tresor liegen?«
»Das Band befindet sich in seiner Schneidemaschine. Er hat
es gerade eben durchgesehen, die Gesichter seiner Komplizen
nach verräterischem Mienenspiel abgesucht, als er unterbro-
chen wurde. Er hat das Schneidegerät im Tresorraum angelas-
sen. Ich habe die Aufzeichnungen zurückgespult und abgespielt
und gleichzeitig durch eine elektronische Verbindung hierher
übertragen. Die Stromquelle «
»Aber das hier ist ein Fernseher!«
»Nein, das ist ein Teil von mir. Ein Fernsehgerät ist ein me-
diales Ventil der Stadt. Ein Neuron in meinem Gehirn. Ich
übertrage die Bilder vom Band auf elektrische Muster, schicke
sie die Kabel entlang und speise sie in deinen Fernseher
mittels einer Art Telekinese. Manipulation von Elektronik
durch Gedanken. Nachts verfüge ich über sämtliche zerebralen
Batterien der City. Das Gehirn speichert Elektrizität. Ich kann
jeden anzapfen, der schläft ... Über Tag stehen mir nur die zur
Verfügung, die tags schlafen weit weniger, also bin ich da
eingeschränkt. Immerhin unterstützen mich alle, die fernsehen,
denn das ist auch eine Form des Schlafes ... Ich bin die Summe
der unbewussten Erkenntnisse jedes Gehirns in der Stadt. Auch
Rufe Roscoe steckt in mir drin ich bin seine Selbstverach-
tung.«
Er hielte inne, während Cole versuchte, das alles zu verdau-
en.
Dann fragte City: »Warum, glaubst du, habe ich dich heraus-
gegriffen, Cole?«
»Warum?«
»Weil ... du nicht vor Angst zu schreien anfängst. Du bist
nervös, aber du bist nicht desorientiert. Die meisten Leute
wären entsetzt, wenn ich so vor ihnen auftauchen, unmittelbar
mit ihnen sprechen, ihnen all dies erzählen würde. Du verstehst
die übergeordnete städtische Wirklichkeit instinktiv. Die ge-
heimen Geometrien der City.«
»Tja ... wenn du meinst.«
»Außerdem hast du Portraits von mir, Cole, überall an dei-
nen Wänden.«
Cole lächelte.
City blieb ernst.
»Also«, Cole räusperte sich und senkte den Blick. »Ich nehme
mal an, du willst etwas von mir dass ich etwas für dich erledi-
ge. Stimmt's?«
»Jemand muss sie aufhalten.«
»Die Mafia?« Cole warf einen Blick auf die Zahlungsauffor-
derung und nickte. »Mein Club bedeutet mir alles.«
»Ja. Die Mafia ...«
Nur die Mafia?, fragte sich Cole. »Vielleicht«, fuhr er fort,
»könnte ich jemanden anheuern, der in den Tresorraum ein-
bricht, die Bänder klaut und sie als Beweismaterial an die Zei-
tungen gibt, wenn die FBIler schon nicht «
City schüttelte den Kopf. »Nein, ohne meine Hilfe kommen
sie da nicht rein. Du vielleicht aber sie würden dich umbrin-
gen, wenn du die Bänder erst hast. Lass uns als Erstes in ihrer
Organisation Zwist stiften. Sie sollen einander an die Gurgel
gehen; die Videos sparen wir uns auf, bis sie schwach sind, und
zaubern sie hervor, wenn wir die AEA vor Gericht gebracht
haben. Dann spielen wir sie den Zeitungen zu, damit die Ge-
schworenen sich auf sie stürzen. Langfristig kann ich dir Zu-
gang zum Tresorraum verschaffen. Aber es gibt noch einiges
Andere, was du zuerst tun musst. Du und niemand sonst.«
Cole schüttelte den Kopf.
City nickte grimmig.
Cole schüttelte wild den Kopf. »Hey ich kann dir bei der
Planung helfen, ich kann dir Leute vermitteln, die die für dich
die Arbeit machen. Aber ich selbst bin dazu nicht imstande. Ich
bin nicht James Bond, Alter. Ich bin ganz schlecht in Form.«
»Du bist der Einzige, mit dem ich zusammenarbeiten kann.
Du und diese Frau. Vielleicht nicht einmal sie. Das wird sich
zeigen.«
»Was zum Teufel kann ich schon tun?«
»Sehr, sehr viel, mit meiner Unterstützung. Du hast gesehen,
wie es den Vigilanten ergangen ist. Wie sie sich nennen.«
Cole dachte nach. Er schnappte sich seine Zigarre aus dem
Aschenbecher, zündete sie wieder an und paffte violette Wol-
ken. »Sie werden mir meinen Club wegnehmen«, sagte er, um
sich selbst zu überzeugen. »Mir bleibt nichts. Sollen sie mich
umbringen, na und?« Doch seine Hand zitterte und die Asche
löste sich von der Glut seiner Zigarre.
»Als ich vor zehn Jahren den Club gekauft habe, dachte ich,
ich hätte es geschafft. Es sah so leicht aus. Jede Woche war es
ein Kampf, schon um die «
»Cole«, unterbrach City ihn, »ich kann dir helfen, sie aufzu-
halten. Ich kann ein paar Dinge in Bewegung setzen, die ganz
nützlich sein dürften. Allerdings nur nachts. Denk daran. Mit
dir sprechen kann ich tagsüber ... manchmal.«
»Das ist mir klar.«
»Bring die Frau heute Abend mit, um sieben.«
»Catz? Und wenn sie einen Auftritt «
»Sie kommt. Zu dir kann ich mit Hilfe technischer Mittel
sprechen doch zu ihr habe ich eine stärkere psychische Ver-
bindung. Sie ist zugänglich. Wir werden sie brauchen können,
zumindest eine Zeit lang.«
»Was soll das heißen, eine Zeit lang?«
City ignorierte die Frage. »Deine Assistentin soll sich heute
Nacht um den Club kümmern. Du und Catz, ihr kauft euch
Masken und Schusswaffen. Ihr geht zum Pyramid Building.
Fahrt rauf zum achtzehnten Stock. Da gibt es Wachmänner. Mit
denen werden wir fertig.«
Angst schnürte Cole die Kehle zu. Das Schwindelgefühl war
verflogen. Sein Herz war bleischwer vor seinem inneren Auge
sah er sich selbst mit der Zielscheibe eines Scharfschützen auf
der Brust. Cole räusperte sich und brachte heraus:
»Hör mal ich glaube nicht, dass ich bereit bin, jemanden
umzubringen. Zumindest noch nicht. Ich kann das nicht ein-
fach so.«
»Das musst du auch nicht noch nicht«, sagte City mit zu-
nehmend heiserer Stimme. Das Fernsehbild flackerte, ver-
schwand ... und erschien wieder, etwas verschwommener. »Ich
kann den Kontakt nicht mehr lange aufrecht erhalten, Cole.
Also hör zu ich werde heute Nacht bei euch sein. Ich kann
keine physische Gestalt mehr annehmen, es sei denn, ich finde
das ideale Gefäß, jemand, von dem ich leicht Besitz ergreifen
kann ...«
Etwas lief kalt und brennend wie Trockeneis Coles Rücken
hinunter. Das ideale Gefäß ...
City (seine Stimme wurde immer leiser) fuhr fort: »Ich muss
jetzt weg ich werde heute Nacht bei euch sein. Sie wird mich
spüren und du wirst es wissen. Aber ich kann die nicht umbrin-
gen, noch nicht. Sie gehören zum Syndikat, also würden einfach
andere ihren Platz einnehmen. Wir müssen das aus der Stadt
schaffen die AEA selbst ist «
»Ich weiß nicht recht«, murmelte Cole. »Ich bin mir nicht
sicher, ob das so erstrebenswert ist, selbst wenn es machbar
wäre «
Die ganze Zeit hatte City gleichbleibend gelassen geklungen.
Jetzt plötzlich verzerrte Wut seine Stimme und mischte sich mit
einem hohen Pfeifton, einem schmerzhaften Kreischen, das
Cole in die Gehörgänge fuhr. »Wir alle sind nichts als Mario-
netten, Cole, und die halten die Fäden in der Hand! ITC ist eine
als Dienstleistung getarnte Seuche! Bring die Frau heute Abend
hierher.«
Und dann erlosch der Bildschirm.
Cole blieb sitzen und starrte auf die Mattscheibe. Er konnte
nicht aufhören, über einen beängstigenden Beiklang in Citys
Stimme nachzugrübeln. Als City über die ITC als Drahtzieher
einer gewaltigen Verschwörung hergezogen war, erinnerte das
Cole an eine andere Stimme bei einem anderen Anlass. Eine
Stimme am Telefon, als Catz und er nur so zum Spaß die Hot-
line der Amerikanischen Nazipartei angerufen und kichernd
dem Gegeifer gelauscht hatten, das sich über die Verschwörung
der Juden, kommunistischen Neger und Homosexuellen aus-
ließ. Die Stimme des Nazis hatte diesen Beiklang absolut uner-
weichbarer Verbohrtheit gehabt ... wie bei City.
Aber irgendwie wusste Cole, dass er tun würde, was City ver-
langte.
Cole schaute auf die Fotos an den Wänden. Er könnte diese
Stadt nie verlassen.
»Wenn er uns hilft, wozu brauchen wir dann Knarren?«, fragte
Catz.
Sie saßen gemeinsam im Fond eines gemieteten Wagens.
Zwischen sich, auf dem geschwungenen Vinylsitz, lag eine
Papiertüte, am offenen Ende säuberlich gefaltet und mehrfach
umgeknickt. Sie enthielt zwei 38er und zwei Gummimasken.
»Du warst dabei und hast genauso viel gehört wie ich«, sagte
Cole und sah auf die Uhr. Bei der Einsatzbesprechung kurz
und äußerst knapp hatten sie keine Zeit gefunden, City Fra-
gen zu stellen. Er hatte vom Bildschirm aus Anweisungen
heruntergeleiert.
»Er hat das eigentlich gar nicht erklärt. Das mit den Waffen.«
»Wahrscheinlich benötigen wir sie wegen der Wachen, und
die Männer im Sitzungssaal könnten auch bewaffnet sein.
Roscoe zumindest. City kann uns nicht alles abnehmen. Also
brauchen wir die Kanonen, um zu bluffen «
»Wir wedeln ihnen damit vor dem Gesicht herum? Ist das
alles?«
»Hoffentlich.« Coles Hände lagen feucht auf dem Fiberglas
des Lenkrads und seine Handflächen verursachten saugende
Geräusche, als er sie herunternahm, um den kalten Schweiß an
der Hose abzureiben.
»Wir stellen ihn nicht in Frage«, bemerkte sie. Diese Feststel-
lung schien sie nicht zu beunruhigen.
Cole nickte. »Das ist schon seltsam. Aber das ist wahr-
scheinlich auch der Grund, warum er uns ausgesucht hat wir
sind, äh wir sind, na ja « Cole rang um Worte.
»Städtische Eingeborene. Wildnis-Eingeborene tragen sich
auch nicht mit Zweifeln, wenn sie von Naturgeistern angespro-
chen werden.«
»Vielleicht ist es das«, räumte Cole ein. Ihm wurde bewusst,
dass sie abstrakte Zusammenhänge besprachen, um sich von
der Gefahr abzulenken, die vor ihnen lag. Er sah erneut auf die
Uhr. Sein Herz sackte. »Es ist so weit«, sagte er.
Catz langte auf den Rücksitz und zerrte eine große Einkaufs-
tasche aus Lederimitat nach vorn, in der ein Aufnahmegerät
steckte. »Hoffentlich stimmt es, das Stimmprofile sich von
Person zu Person unterscheiden. Andernfalls ist der ganze
Aufwand« sie stopfte die Masken in die Einkaufstasche und
ließ den Trageriemen über ihre Schulter gleiten »umsonst.«
Mit fatalistischer Geste stieß Cole den geladenen Revolver in
die Innentasche seiner Jacke, sodass er mit dem Kolben nach
oben gegen seine Brust drückte. Er bedeckte die Wölbung mit
einem Mantel, den er sich über die linke Schulter legte. Catz
schob ihre Waffe in die Handtasche. Dann stieg sie aus dem
Auto. Beide trugen ausgemusterte Militäroveralls über ihrer
gewohnten Kleidung.
Die Autotüren fielen ungewöhnlich laut ins Schloss und Cole
zuckte zusammen. Er holte tief Luft und marschierte durch den
milden Maiabend zum Haupteingang des stiftförmigen Pyra-
mid Building. »Achtzehnter Stock«, murmelte er.
Die Straße war verlassen: Dies war ein Geschäftsviertel und
um diese Zeit fast ausgestorben. Von der Market Street ein paar
Blocks weiter rief leise das Nachtleben. Ein einzelnes Auto fuhr
die Straße entlang und schien langsamer zu werden, als es sich
Cole näherte. Er musste sich zusammennehmen, um nicht
loszulaufen. Doch der Wagen fuhr weiter, bog um eine Ecke
und verschwand.
Und dann waren sie am Eingang. Cole blieb stehen und legte
den Kopf in den Nacken.
Das pyramidenförmige Gebäude war lang, schmal und unbe-
lebt, mit Ausnahme dreier Fenster, die im achtzehnten Stock
leuchteten.
Cole sah Catz an und schluckte. Catz zupfte ihn am Ärmel.
Gemeinsam stießen sie die Glastüren auf.
Ein bewaffneter Wachmann stand neben dem Aufzug. Aller-
dings mit dem Rücken zu ihnen. Cole folgte seiner Blickrich-
tung: Der Mann starrte zwei Feuerlöscher an, die im Korridor
rechts neben dem Aufzug an der Wand hingen. Die Feuerlö-
scher sprühten wild mit Löschschaum um sich, ihre Schläuche
zuckten und peitschten vor Überdruck und die vibrierenden
Chromzylinder schlugen mit monotonem Donnern gegen die
Wand. Der Wachmann er starrte die manischen Feuerlöscher
an, sah Cole und Catz nicht ging den Flur entlang, schüttelte
den Kopf, überlegte, was er tun sollte. Bemüht, dem heraus-
schießenden Schaum auszuweichen, tastete er zaghaft nach der
Düse, suchte einen Schalter, der die Zufuhr unterbrach ...
Cole und Catz liefen mit den Händen am Griff ihrer Waffen
zum Fahrstuhl. Die Türen öffneten sich augenblicklich vor
ihnen. Ein Blick zum Wachmann, doch er wandte ihnen immer
noch den Rücken zu. Sie betraten den Aufzug und Cole meinte
Catz' Herzschlag im Gleichtakt mit seinem zu hören. Sie atme-
ten gleichzeitig aus, als sich die Türen hinter ihnen schlossen.
Sie brauchten keinen Knopf zu drücken die Schaltfläche mit
der 18 leuchtete auf und der Fahrstuhl fuhr aufwärts.
»Danke, City«, hauchte Cole, ohne eine Antwort zu erwarten.
Doch Citys Stimme drang aus der Sprechanlage neben der
Knopfleiste: »Zieht eure Masken über. Oben sind noch mehr.
Zwei reguläre Wachleute und zwei Mietkiller, die einen im Flur
und die anderen im Büro. Die Wachleute oben wissen, dass
jemand ohne Genehmigung das Gebäude betreten hat sie
behalten die Stockwerksanzeige im Auge und der Wachmann
unten hat Anweisung, sie anzurufen, wenn jemand herein-
kommt also haben sie sehr wahrscheinlich ihre Waffen
schussbereit. Ich werde sie ablenken, aber stellt euch darauf ein,
eure Waffen zu gebrauchen versucht sie möglichst leise außer
Gefecht zu setzen.«
Sie holten ihre Gummimasken hervor beides traurige Pen-
nerfratzen und zogen sie über. Cole fing sofort zu schwitzen
an, seine Haut juckte von der Berührung mit dem Gummi.
Es war eng und stickig in diesem unwirklichen Gesicht.
Cole zog seine Waffe, und die Türen des Aufzugs öffneten
sich.
Drr-EIII!
Da lag ein toter Mann und blutete auf den Teppich. Über
ihm stand ein weiterer Mann mit einer rauchenden Waffe in
der Hand. Beide Männer trugen Uniformen; der Stehende
weinte. »Hee das sieht nur so aus, wirklich!«, sagte er und
wandte sich dem Aufzug zu. »Die Knarre ist einfach losgegan-
gen ...« Dann sah er ihre Masken.
Er hob seine Waffe und feuerte.
Cole und Catz hatten sich bereits flach gegen die Seiten des
Aufzugs geworfen. Cole blieb vor Unentschlossenheit wie
angewurzelt stehen: Das Feuer erwidern? Die Aufzugstüren
schließen? Sich ergeben?
Aber Catz feuerte einen Schuss ab und der Wachmann fiel
um, eine Kugel im Leib. Er krümmte sich auf dem Teppich zu
ihren Füßen und rief irgendeinen Namen.
Oh Gott, dachte Cole. Im Fernsehen sind sie immer gleich tot.
Der Mann lag auf dem Bauch, schrie wie ein geohrfeigtes
Kind und versuchte den Fluss des Blutes aus seinem zerfetzten
Bauch aufzuhalten, sein Gesicht war schneeweiß und seine
Mütze eierte neben ihm auf dem Boden, als wiegte sie sich voll
Mitleid.
Cole hob seine Waffe, unterdrückte ein Winseln und feuerte
auf den Kopf des Mannes. Noch mal. Und noch mal. Zwei der
Kugeln gingen fehl. Eine traf den Mann von hinten in die rechte
Schulter.
Catz schlug Coles Waffe nach unten und fragte: »Was machst
du da?«
»Ich hab versucht ihn von seinen ...« stammelte Cole.
»Ich wollte ihn nicht dort treffen: Ich habe auf seine Beine
gezielt. Vielleicht überlebt er es. Gib ihm eine Chance.«
»Glaubst du, öhm, City hat äh, seine Waffe losgehen lassen,
um den anderen zu töten?«
Catz kam nicht zum Antworten. Sie wurden aus zwei Rich-
tungen angegriffen. Von vorn tauchten aus der Empfangshalle
vor dem Konferenzraum zwei untersetzte Männer mit Halb-
glatzen und dunklen Anzügen auf. Die Revolver im Anschlag
kamen sie auf sie zu, drückten ab und ihre Waffen feuerten
nicht. Verblüfft starrten sie darauf hinunter, während von
rechts ein Autosecur heranrumpelte, einer dieser einfältigen
Roboter, die 1979 als Wachen für Warenlager und geschlossene
Kaufhäuser auf den Markt gekommen waren. »Bleiben Sie
stehen und bewegen Sie sich unter keinen Umständen«, erklang
eine gebieterische mütterliche Stimme aus dem runden Chrom-
kopf des Roboters. Seine Arme, dicht segmentiert wie Staubsau-
gerschläuche und mit stumpfen Greifwerkzeugen versehen,
hoben sich und umklammerten die beiden überraschten Si-
cherheitskräfte. Er wiederholte seine »Bleiben Sie stehen und
...« Litanei und dämpfte damit den Protest des Größeren:
»Hee, was soll'n der Scheiß, du Spinner sollst doch « Er brach
ab, als die Befreiungsversuche seines Kumpels ein grelles Blitz-
licht am Kopf des Autosecur auslösten, das aus dieser Nähe
beide Männer vorübergehend blind machte.
Cole und Catz blinzelten die verschwommenen farbigen
Wirbel weg, die der Blitz hinterlassen hatte.
Die Männer in den Armen des Autosecur zappelten, fluchten
und schüttelten die Köpfe, als könnten sie sich so von ihrer
Blindheit befreien. Ein kleines rotes Lämpchen blinkte auf der
zylinderförmigen Brust des Roboters, an und aus, und zugleich
zuckten und zitterten die beiden Wachleute, als der Computer
sie mit kurzen Elektroschocks impfte. Dann erlahmte ihre
Gegenwehr, erschöpft und verwirrt; einer fing zu weinen an;
Gas zischte aus einer Öffnung an der Naht zwischen Kopf und
Brust der Maschine, und die Wachen ließen sich durch das
Lachgas wie hysterische Kinder kichernd abschleppen, den
Flur hinunter ...
Durch die offene Tür der Vorhalle sah Cole, wie sich der
Eingang zum Konferenzraum öffnete. »Was zum Henker ist
hier los?«, fragte eine unsichtbare Gestalt, als die Tür nach
außen schwang. »Wir versuchen hier «
Cole wollte sich umdrehen und weglaufen, doch Catz, die er
im Verdacht hatte, dass sie das Ganze irgendwie genoss, sprang
mit erhobener Waffe vor und zerrte sich dabei die Maske tiefer
übers Gesicht. »Sofort wieder da rein«, brüllte sie mit künstlich
heiserer Stimme.
Cole rannte ihr nach, der Raum tanzte vor den klebrigen Au-
genschlitzen seiner Maske. Durchdringender Gummigeruch
erfüllte seine Nase.
Der Mann hing im Türrahmen wie sein erstaunter Ge-
sichtsausdruck zwischen seinen Hängebacken, dann stolperte er
hektisch rückwärts, verlor das Gleichgewicht und plumpste auf
seinen breiten Arsch. Catz und Cole drängten sich in den Raum
und schwenkten ihre Waffen.
Jemand rief: »Verdammt, die wollen uns entführen!«
Es waren fünf Männer, das entsetzte Knäuel auf dem Boden
eingerechnet, und Cole erkannte nur Rufe Roscoe und seinen
Anwalt Salmon.
Zwei der Männer sahen keine Spur verängstigt aus: Roscoe
und ein Auswärtiger (nach dem New Yorker Schnitt seines
Anzugs zu urteilen), ein blassgesichtiger Mann mit schwarzen
Augenringen und einem höflichen, geschäftsmäßigen Lächeln
auf den fischigen Lippen.
Cole fiel sein Text wieder ein. »Na schön«, sagte er zu Sal-
mon und hoffte, dass es skrupellos genug klang. »Wen soll ich
nun umlegen? Alle oder nur den, von dem die Rede war?«
Der Auswärtige wandte sich gelassen, aber mit fragendem
Blick Salmon zu. Als Cole das Profil des Mannes sah, erkannte
er ihn: Gullardo, der Kurier der Mafia. Sein Profil war auf
einem Foto in einem Zeitschriftenartikel gewesen. Cole lächelte
unter seiner Maske: Den Jungs vom Syndikat würde es nicht
gefallen, dass ein Anschlag stattfand, wenn einer der ihren
zugegen war. Gut.
Cole hob seine Waffe und zielte auf Gullardo. »Soll ich ihn
erledigen oder nicht?«, fragte er Salmon.
»Wa- äh nein!«
»Haben Sie es sich anders überlegt?«, hakte Cole nach. In
diesem Augenblick löste sich ein Schuss aus seiner Waffe.
Er starrte die Waffe entgeistert an.
Er hatte nicht abgedrückt. Aber Gullardo brach zusammen,
würgte an seinem Blut, die Kehle aufgerissen.
»O Scheiße, City!«, sagte Cole und stolperte rückwärts.
Er drehte sich um und rannte los. Catz folgte ihm, rief etwas,
das er nicht verstand. Im Türpfosten zu seiner Rechten erschien
plötzlich ein Loch, als er vorbeirannte, und Splitter stachen ihm
in die Wangen.
Die Aufzugtüren standen offen, schienen zu warten. Catz
und Cole warfen sich in den Aufzug, flach an die Wände ge-
drückt. Eine weitere Kugel fetzte knapp unterhalb der Decke in
die Wand, ein paar Zentimeter über Coles Kopf. »Jesus-Maria-
verdammte-Scheiße«, die Aufzugtüren schlossen sich. Etwas
schlug von der anderen Seite mit einem metallischen Pling eine
leichte Delle hinein. Dann glitten die inneren Türen davor und
sie sanken abwärts. Siebzehnter Stock ... zwölfter ... achter ...
fünfter ...
»City, halt im ersten Stock!«, brüllte Cole. »Lass uns da raus,
wir nehmen die Treppe, sonst nehmen uns die Wachleute im
Parterre «
Doch der Aufzug fuhr am ersten Stock vorbei und öffnete
sich im Erdgeschoss. Catz und Cole duckten sich und Catz
feuerte wild drauflos. Niemand. Eine Kugel durchschlug die
Fensterfront und hinterließ eine Korona feinster Spinnwebrisse
um das Durchschussloch.
Die Wache war nirgends zu sehen. Cole verließ hinter Catz
vorsichtig den Aufzug. Zur Linken, einige Meter den Flur
hinunter, lag der erste Wachmann, den sie gesehen hatten, auf
dem Bauch. Neben ihm stand ein Feuerlöscher. Der Schlauch
führte über den Teppich zu seinem Gesicht und das Ventil
»Durchs Auge!«, zischte Cole angewidert.
Ohne zu überlegen eilte Cole den Korridor entlang und
drückte die Türklinken herunter, bis er die dritte Tür ein
offenes Büro fand. Drinnen auf dem Schreibtisch stand ein
Telefon. Er drückte die Null, um ein Amt zu kriegen, und
schaltete die Bildfunktion ab, um eine visuelle Aufzeichnung zu
vermeiden. »Was machst du da?«, wollte Catz wissen. »Wir
müssen weg, nichts wie raus hier!«
»Ich ruf einen Krankenwagen ...«
Er bekam kein Amt. Stattdessen erklang Citys Stimme: »Haut
ab, Cole, beeilt euch. Ich kann ihre Anrufe zu ihren Kumpanen
nicht mehr lange abblocken «
»Hier liegen halb zerfetzte Leute rum«, sagte Cole, seine
Stimme klang hoch und dünn. »Die müssen «
»Die müssen sterben«, sagte Citys Stimme, eine Stimme so
kalt und hallend wie eine Straße in der Innenstadt um Mitter-
nacht im Winter. »Je weniger Zeugen, desto besser. Die AEA
wird den ganzen Vorfall zu vertuschen wissen, damit ihre
Verbindung zu Gullardo nicht bei einer Untersuchung ans
Licht kommt. Sie werden ihn wegschaffen und behaupten, er
wäre woanders umgebracht worden «
Wutschnaubend hämmerte Cole mit der Hand auf den
Knopf, der die Verbindung unterbrach. Catz wartete unruhig
im Korridor.
Mit steifen Bewegungen folgte Cole ihr zum Auto ...
Ein paar Straßenecken weiter südlich zogen sie die Masken
und die Overalls aus und Cole wischte sich den Schweiß vom
Gesicht. »Ich glaube, ich kriege von diesem Gummizeug einen
Nesselausschlag«, murmelte er.
Catz fuhr schweigend weiter.
Cole fragte (denn er brauchte den Klang ihrer Stimme):
»Meinst du, die Bullen kommen?«
»Nein. City blockiert solche Anrufe. Und ich glaube nicht,
dass sie Bullen dabei haben wollen, bevor sie Gullardo losge-
worden sind. Falls er überhaupt tot ist.«
»Das « Cole drehte sich der Magen um. Er schluckte Säure
hinunter. »Dasselbe hat City ... am Telefon gesagt ... Er hat
mich keinen Krankenwagen rufen lassen.«
Zwischen ihnen lag etwas in der Luft, dass ihnen beiden
Angst machte; eine unausgesprochene Erkenntnis: City hatte sie
belogen.
»Es ist nicht so gelaufen ... wie er gesagt hat ...«, murmelte
Cole schließlich.
Mit einem defensiven Unterton obwohl sie sich nicht zu
verteidigen brauchte sagte Catz: »Hey, Stu niemand ist
unfehlbar. Er kann nicht alles unter Kontrolle haben. Er ist
nicht der Zeitgeist persönlich. Er muss improvisieren, wie es
gerade kommt.« Irgendwie schien es, als verteidigte sie City nur,
um Coles Gefühle zu schonen; damit er nicht durchdrehte.
»Ich habe den Schuss auf Gullardo nicht abgefeuert«, sagte
Cole tonlos. »City hätte nicht «
»Was?« Sie wandte ihm plötzlich ihre Aufmerksamkeit zu
und vergaß darüber fast, dass sie in einem Auto saß. Cole trat
instinktiv auf eine nicht existierende Bremse, als sie fast eine
rote Ampel überfuhren. Halb auf der Kreuzung blieben sie
stehen und Catz legte den Rückwärtsgang ein. Die Straße war
hier fast leer, mit Ausmahne einiger finsterer Gestalten, die sich
hinter dem getönten Glas einer schwach beleuchteten Bar
abzeichneten, den steilen Hügel hinunter auf der rechten Seite.
»Ich habe ihn nicht erschossen. Ich habe nicht abgedrückt.
City hat den Schuss ausgelöst.«
»Na, vielleicht « Sie hielt inne, als die Ampel auf Grün um-
schaltete und sie Gas geben musste. Das Auto fuhr rückwärts.
»City, lass das!« Sie stieg auf die Bremse und der Wagen kam
bockend zum Stehen.
»Du hast noch den Rückwärtsgang drin«, sagte Cole mit ei-
nem schwachen Lächeln. »Als du auf die Kreuzung gefahren
bist und wieder zurück musstest, hast du «
»Oh!« Sie lächelte verlegen, schaltete und entspannte sich, als
der Wagen vorwärts anfuhr. »Richtig.« Sie zögerte. »Jedenfalls
vielleicht wusste City nicht, dass wir auf Gullardo treffen, und
unter den Umständen war das einzig Mögliche, ihn zu töten.
Aber Mann, ich weiß wirklich nicht, warum das nötig sein soll
...«
Cole merkte, dass er stocksteif und mit durchgedrücktem
Kreuz dasaß. Er zitterte. Er versuchte sich bewusst zu entspan-
nen und sein Körper erzitterte. Er ließ sich gegen die Tür sak-
ken, drückte auf den Knopf, der das Fenster öffnete, und atmete
die kühle, frische Luft tief ein. »Ich brauch was zu trinken.«
»Oder vielleicht ...«, fuhr Catz fort und nagte mit den
Schneidezähnen an ihrer Unterlippe, »vielleicht hast du ja
abgedrückt. Da kannst du dir nicht sicher sein, das ist wie bei
einem Unfall. Dein Finger kann gezuckt haben ...«
Coles Stirn legte sich in Falten. Vielleicht hatte er es getan
und nicht City.
Was denn getan?, dachte er wütend. »Getötet«, murmelte er
laut, um sich an den Klang zu gewöhnen.
»Ja, gewöhn dich lieber dran«, sagte Catz.
»Ich mag es nicht, wenn Du meine Gedanken liest, ohne dass
ich dich darum gebeten habe«, sagte er leise.
»Tut mir Leid. Ich habe nur etwas aufgefangen, aus Verse-
hen.«
»Ja. Klar. Sicher. Schwachsinn.«
»Hör mal, mach nicht mir die Hölle heiß, Stu. Du bist doch
nicht auf mich wütend.«
»Woher zum Teufel willst du wissen, auf wen ich wütend
bin?« Seine Stimme bebte. Er starrte geradeaus. »Außer du liest
meine Gedanken.«
»Nein. Ich kann das eh nicht dauernd tun. Ich weiß, worüber
du dich aufregst, weil ich dich kenne. Das merke ich schon an
der Art, wie du deine Hände hältst. Als müsstest du dich daran
hindern, dir selber die Fäuste in die Fresse zu hauen, Schlamper.
Gib's zu: Du hast eine persönliche Schuld zu begleichen. Schieb
das nur nicht mir in die Schuhe. Ich unterschreib deine Schuld-
scheine nicht.«
Cole zitterte. Er versuchte damit aufzuhören und konnte es
nicht. Es fühlte sich an, als müsste er zittern und immer weiter
zittern, bis das Auto auseinanderfiel. Es fühlte sich an, als würde
er zerbrechen oder ersticken. »Lass mich hier raus«, sagte er
plötzlich. »Ich brauch Bewegung. Wir sehen uns im Club. Ich
muss nachdenken.«
Sie bremste hart. »Vielleicht sehen wir uns im Club.«
Er stieg aus. Sie fuhr an, ehe er die Tür zumachen konnte.
Das Auto schoss vorwärts und die Tür knallte zu, als wäre sogar
der Wagen wütend.
Er schaute sich um und stellte fest, dass er keine Ahnung hat-
te, wo er sich befand.
Er stand auf der Polk Street. Er holte tief Luft und zitterte.
Die Nacht schien ungewöhnlich kalt zu sein.
Eine große, flachsblonde Frau, so konservativ gekleidet wie
eine Empfangsdame, hielt einer Gruppe von vier Teenie-
Strichjungen einen Vortrag. »Es ist mir egal, ob ihr mir das
abnehmt ihr werdet von selbst darauf kommen. Glaubt mir.
Die Gewerkschaft ist auf Dauer die einzige wirksame Waffe
gegen die Vigilanten, und gegen die Bullen und alle anderen
Fieslinge, die euch verarschen wollen.« Eine Vertreterin der
Prostituiertengewerkschaft.
Cole ließ sich langsam außer Hörweite treiben. Er ging an
einer Kneipe vorbei, durchschritt den warmen Luftstrom des
Abluftrohres, es roch nach Bier und Wein und Dope und Tabak
und trug den Lärm der Betrunkenen mit sich, die einander zu
übertönen versuchten.
Er kam an einem Video- und CD-Rom-Laden vorbei,
schlenderte durch das bunte Licht, das Dröhnen der Musik. Er
durchquerte eine Gegend, die fast ausschließlich von Homose-
xuellen bewohnt war. Es war eine fröhliche Gegend, voller
Gelächter und Zuneigung. Die Schwulen akzeptierten so ziem-
lich jeden, und manchmal ging er in Schwulen- und Lesben-
bars, um Männer mit Männern und Frauen mit Frauen flirten
zu sehen. Er beobachtete Männer, die Männer streichelten ...
Ihm gefiel das Gemeinschaftsgefühl, das sich in ihren Zärtlich-
keiten ausdrückte, die allgemeine Entspanntheit, die fröhliche
Rebellion. Cole hatte seine Heterosexualität mehr als einmal
bedauert. Manchmal dachte er wehmütig, dass sein erotisches
Feuer wieder auflodern würde, wenn es ihm nur gelänge, so
gemeinschaftlich zu lieben wie die Schwulen, besonders seit sie
endlich über den Impfstoff verfügten.
Er kam an einer Horde Drag Queens vorbei und lauschte von
Weitem ihrer Unterhaltung. ... »Aber Miss Dodo, schau dich
doch an, Schätzchen, mit der Haarfarbe hast du wohl etwas
übertrieben. Heutzutage trägt niemand mehr Grün, das nächste
Auto verwechselt dich mit einer Ampel und fährt dich um.«
Cole lächelte schwach. Es klappte nicht. Er versuchte sich in
der City zu verlieren. Und es klappte nicht. Sein Schmerz
schirmte ihn gegen den Rest der Welt ab.
Und er lief zu schnell. Die bärtigen Männer in Armeestiefeln
und Jeans, schwule Motorradritter in Leder mit herausgetrenn-
tem Hosenboden, Pärchen und Dreier und Gruppen aus bis zu
acht und zehn Leuten, die Joints herumgehen ließen und sich
küssten und sinnlose Witze rissen, auf dem Bürgersteig vor ihm
er musste sich immer wieder zwischen ihnen hindurchdrän-
geln. Eine Drag Queen sah ihn wütend an und sagte: »Latsch
mir bloß nicht auf meine Pumps, Mädel, ich hab mir die Quäl-
geister gerade erst gekauft.«
»Tschuldigung«, murmelte Cole und schob sich verzweifelt
weiter.
Sein Herz hämmerte.
Er versuchte, vor dem Bild wegzulaufen ... es zu unterdrük-
ken ... es blitzte auf:
Da lag ein toter Mann und blutete auf den Teppich. Über ihm
stand ein weiterer Mann mit einer rauchenden Waffe in der
Hand.
Cole steuerte die nächste Bar an, drängte sich grob an die
Theke vor und brüllte den Barkeeper an: »Bourbon pur!« Der
Barkeeper, ein kleines, verhutzeltes Tantchen, das seine Haare
zu oft gefärbt hatte, schürzte die Lippen und schnalzte vor-
wurfsvoll mit der Zunge.
Die Musikbox spielte ein uraltes Stück von den Pet Shop
Boys ... Der Barkeeper schaute Cole in die Augen und es däm-
merte ihm. Er zuckte die Achseln und goss Cole einen Drink
ein. Einen Doppelten. Cole trug sein Glas in eine leere Eckni-
sche und setzte sich, nahm kleine Schlucke, erschauerte von
dem starken Drink und zitterte vor Anstrengung, um endlich
alles zu verdrängen ...
Und scheiterte.
Der Mann lag auf dem Bauch, schrie wie ein geohrfeigtes Kind
und versuchte den Fluss des Blutes aus seinem zerfetzten Bauch
aufzuhalten ...
»City ...«, sagte Cole heiser, zu nichts und niemandem.
Cole hob seine Waffe, unterdrückte ein Winseln und feuerte
auf den Kopf des Mannes. Noch mal. Und noch mal. Zwei der
Kugeln gingen fehl. Eine traf den Mann von hinten in die rechte
Schulter ...
»City!«, sagte Cole, mit zusammengebissen Zähnen, die Au-
gen fest geschlossen.
... Gullardo brach zusammen, würgte an seinem Blut, die
Kehle aufgerissen ...
»CITY!«, brüllte Cole und riss die Augen auf.
»Geht's dir gut, Schätzchen?« Ein kleiner Mann mit einem
gepflegten Ziegenbärtchen und einem Ohrring. Er lächelte ein
wenig. Noch jemand kam an den Tisch ... eine Drag Queen,
stellte Cole dumpf fest. Er schüttete seinen Drink in drei Schlu-
cken hinunter, verzog das Gesicht und stand auf.
»Mädel, du siehst schlimm aus«, sagte die Drag Queen, als
Cole an ihr vorbei schlich, » du solltest besser nach Hause
gehen und «
»Ja«, sagte Cole. »Ja, danke. Das mach ich. Nach Hause ge-
hen.« Blinzelnd ging er zur Tür hinaus.
Cole tappte blind die Straße entlang, murmelte Entschuldi-
gungen, atmete schwer und war sich dunkel bewusst, dass er an
Schwulen-Discos vorbeikam, an Schwulenkinos, schwulen
Polizisten, die auf Streife Händchen hielten, an schwulen Holo-
videotheken. Er marschierte drauflos wie ein Wilder.
Schließlich blieb er stehen und schüttelte sich. Er holte tief
Luft und sah sich um. Er fühlte sich besser. Er befand sich in der
Innenstadt, in der Nähe des Embarcadero Centers. Gasohol-
Autos schnurrten rechts an ihm vorbei, Wolkenkratzer ragten
hart und kalt und scharfkantig in der Straßenbeleuchtung über
ihm auf. Die Gehwege waren fast leer. Links von ihm lag je-
mand zusammengerollt in einem Hauseingang.
Cole verkrampfte sich. Die dunkle Gestalt trug eine Spiegel-
brille, einen verbeulten Hut und einen langen Mantel. Ge-
dämpfte Musik drang leise aus seinem Leib ...
»City?«, flüsterte Cole und ging langsam näher. Er beugte
sich über die schlafende Gestalt. »City?« Der Mann in dem
Hauseingang roch nach Wein und Erbrochenem. Coles Augen
gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Er starrte dem
Mann ins Gesicht. Die Brille saß schief, rutschte ihm fast von
der Nase. Der Mann schlief und schnarchte leicht. Sein Chica-
no-Gesicht war mit Aknenarben überzogen. Die Musik kam aus
einem kleinen tragbaren Radiogerät, dass halb in seiner Arm-
beuge versteckt lag. Ein Rocksender, der leiser und lauter wur-
de, von statischem Rauschen begleitet.
Cole wandte sich bitter enttäuscht ab.
»Wie geht es dir, Cole?«
Citys Stimme, hinter ihm.
Cole wandte sich wieder der finsteren Gestalt zu, die mit
hochgezogenen Knien im Hauseingang schlief. Der Mann
schnarchte immer noch.
»City?«
»Ja, Cole.« Die Stimme kam aus dem Radio, übertönte die
Musik.
Cole ging näher an ihn heran, beugte sich über das Radio
und sprach leise, um den schlafenden Säufer nicht zu wecken.
»City ... ich bin total fertig. Ich leide.«
»Woran? Warum, Cole?«, fragte das Radio. Die Musik
schwoll wieder an, während City auf eine Antwort wartete.
»Es ekelt mich so an. Mir ist richtiggehend übel. Seltsam ...
erst ging es mir gar nicht so schlecht. Ich stand wohl unter
Schock oder so. Und dann habe ich, äh, angefangen zu zittern
und plötzlich erwischte es mich. Ich habe diesen Mann getötet.
Du und ich, wir beide haben ihn getötet. Du hast mich belogen.
Und dieser Wachmann. Mag sein, dass Gullardo sterben muss-
te, vielleicht hat er es verdient, dass jemand ihm die au Schei-
ße! die Gurgel zerschießt ... Aber der Sicherheitsmann, der
wusste von nichts.«
»Er war breit, Cole. Der Wachmann war breit und litt unter
Wahnvorstellungen. Er hätte jeden erschossen, der aus dem
Aufzug kam.«
»Selbst wenn das stimmt, es hätte eine andere Möglichkeit
geben müssen, ihn auszuschalten, als «
»Ja, hätte es, aber gab es nicht.« Citys Stimme wurde lauter,
durchdringender. Der Säufer zuckte und wimmerte im Schlaf.
»Pass auf, ich kann so was nicht. Ich kann ich kann die
Verantwortung dafür nicht ertragen. Ich kann nicht über diese
Leute richten und sie wegpusten. Ich kann diesen Anblick nicht
aushalten, das Gefühl danach ...« Cole brach ab und räusperte
sich. Er schluchzte. Hinter ihm stöhnten die Autos. Er schaute
rechts und links den Gehweg entlang. Es kam niemand.
»Das musste sein, Cole. Dieser Augenblick der Erkenntnis in
dir. Es fängt mit Schmerz an, mit Angst und Desorientierung,
und dann erkennst du dich selbst und deine Rolle, und du
verstehst.«
»Nein, Mann. Ich verstehe überhaupt nichts.«
»Cole du hast diese Männer nicht erschossen. Ich habe das
getan. Möglicherweise habe ich dich dafür benutzt. Als Mittel
zum Zweck. Aber im Ernst, es war meine Entscheidung und
meine Verantwortung «
»Ich muss selbst entscheiden oder ich sollte es zumindest
können , wann ich dein verfluchtes Mittel zum Zweck bin und
wann nicht.«
»Nichts da. Nein, Stu, diese Entscheidung ist vor langer Zeit
gefallen. Du bist auserwählt worden aber du hast dich auch
freiwillig gemeldet. Du hast dich bereit erklärt, ein Teil von mir
zu werden, mein Agent zu sein, lange bevor du mich in deinem
Club getroffen hast. Beantworte mir eine äußerst wichtige
Frage, Stu: Was bin ich? Wofür hältst du mich?«
Cole zögerte. »Du bist das Unterbewusstsein der Stadt. Das
kollektive Unterbewusste. Von uns allen. So hat Catz es be-
schrieben.«
»Das kommt der Wahrheit recht nahe. Aber überleg mal
was heißt das letztlich? Ich erfülle die unerfüllten Wünsche aller
Menschen dieser Stadt. Sie fürchten sich heimlich vor ITC und
der AEA, vor der Computerisierung der Welt und der Dezen-
tralisierung ihrer City. Sie haben Angst vor den Leuten, die sich
dieser Mittel bedienen, um sie langsam aber sicher in ihre
Gewalt zu bekommen. Trotz der Konditionierung, die darauf
hinarbeitet, dass sie das bewusst hinnehmen, möchten sie sich
unterbewusst dagegen wehren. Deswegen haben sie mich er-
schaffen, damit ich ihr verlängerter Arm sein kann. Sie haben
Gullardo erschossen, Stu. Sie haben die Vigs auf der Straße
umgebracht. Schließlich warst auch du immer dafür, die Mehr-
heit regieren zu lassen, den Menschen eine kollektive Stimme
zu geben. Du warst immer auf ihrer Seite. Du bist ihr Kind. Sie
sind deine Familie.«
Cole dachte darüber nach. Es leuchtete ein. Es half ihm. Es
war eine stimmige Erklärung. Es spielte keine Rolle, ob City
moralisch im Recht war. Es kam darauf an, dass Cole für das,
was er in jener Nacht getan hatte, eine Rechtfertigung besaß.
Das Blut klebte nicht mehr an seinen Händen. Er teilte die
Schuld mit allen anderen. Wer durfte über ihn richten? Er
fühlte sich entlastet. Er zitterte, doch dieses Mal aus Erleichte-
rung.
»Na gut«, sagte er.
»Von Zeit zu Zeit«, fuhr City fort, »wirst du an ihnen zwei-
feln, und an mir, und du wirst nichts mehr damit zu tun haben
wollen. Vielleicht sogar schon heute Nacht. Doch jetzt weißt du,
wie du damit fertig werden kannst. Es wird vorübergehen. Cole,
lass keinen Menschen, lass niemanden mit deinem Schuld- und
Unrechtsbewusstsein Ball spielen.«
Wen meinte City damit? Catz?
Das Radio knisterte und maunzte wieder dümmliche Musik.
Citys Stimme war weg.
Doch seine Präsenz war gegenwärtig, deutlich spürbar in all
den aneinander gedrängten Häusern rings um Cole.
Cole ging weiter und lächelte erleichtert vor sich hin. Er fühl-
te sich frei. Die Anspannung war von ihm abgefallen. Er dachte
an seinen Club und bog in eine Straße ein, die ihn dorthin
führte: zum Anesthesia.
Ihm kam der Gedanke, dass er sich seinem Club widmete wie
andere der Verwirklichung einer Idee oder dem Aufrechterhal-
ten einer Erinnerung. Die City glich einem riesigen Gehirn,
einer Matrix aus Gedanken, Projekten, Entwürfen, in Beton und
Asphalt gegossen, und er war der Mittelpunkt des Bewusstseins,
das dieses Gehirn durchstreifte, mal diese Idee kurz berührte
diesen Ort in der Stadt , und mal jene, die Adressen ordentlich
aufgelistet, eine führte zur anderen, wie die Bahnen freier
Assoziation.
Er hatte mehr denn je das Gefühl, ein Teil von Citys Gedan-
ken zu sein.
»Hey, Stu!« Er blickte auf und sah Catz vor dem Club Anes-
thesia stehen. Er lächelte und hob grüßend die Hand. Sie wirkte
erleichtert. Sie kam ihm entgegen, nahm seine Hand und ge-
meinsam traten sie in den Lärm des Nachtclubs. In unausge-
sprochenem Einvernehmen redeten sie über dies und das und
alles Mögliche nur nicht über City und die Toten im Pyramid
Building.
Sie gingen ins Hinterzimmer und Cole schenkte ihnen ein
Bier ein. Sie redeten über Musik, über das Publikum, und fast
wäre es ihnen gelungen zu vergessen.
Aber in Catz' Stimme lag der Hauch einer Anschuldigung.
Sie rang mit sich, um ja nicht davon zu sprechen. Cole spürte,
wie sein Ekel vor sich selbst zurückkehrte. Die Entscheidung
liegt nicht bei mir, sagte er sich. Alle Menschen in der Stadt
haben für mich entschieden.
Er stand auf, reckte sich und gab zu bedenken, dass er sich
jetzt wieder an die Arbeit machen musste. Catz nickte und
blickte zu Boden. Cole ging in den Schankraum.
Zwei Stunden lang verlor er sich in seiner Arbeit. Er mixte
Drinks und fütterte das vielmäulige Ungeheuer; er spülte Glä-
ser, bediente die Kasse und wischte den Tresen; er stellte die
Compudisco neu ein und überprüfte ID-Karten, warf Randalie-
rer hinaus und tat so, als würde er Anekdoten lauschen, die er
über den Lärm hinweg nicht verstehen konnte; er schenkte
Drinks ein, immer wieder.
Manchmal erledigte er all diese Dinge nacheinander,
manchmal fast gleichzeitig, innerhalb von fünf Minuten, in
bester Blitzbar-Manier. Er flitzte hinter dem Tresen hin und her
wie eine Billardkugel, die von den Kanten eines Loches abprallt.
Das tat ihm gut. Er war ein funktionierendes Teilchen der
Maschinerie der nächtlichen City, und er fühlte sich geborgen.
Er mixte Drinks, ölte die Zahnrädchen der samstagabendli-
chen Entspannungsmaschine und behielt sein Reich durch die
von Rauchschwaden gedämpften Lichtblitze im Auge.
Das Summen der Intercash-Geräte, das Klappern des Ge-
schirrspülers, die Dschungelgeräusche der drängelnden Gäste
all das verschmolz zu einem einzigen Meeresbrausen.
Er war der Kapitän des Club Anesthesia. Er war der Ober-
arzt, der Vergessen in mit Alkohol gefüllten Spritzen verab-
reichte, und fast wäre es ihm gelungen, die sich windenden
Wachleute zu vergessen, den Italiener, dessen Kehle zerfetzt
wurde im achtzehnten Stockwerk eines Gebäudes, das Erdbeben
überstehen sollte ... Bis zu einer halben Stunde am Stück konn-
te er das vergessen. Und immer wieder erinnerte er sich daran,
dass die ganze Stadt abgedrückt hat; ich habe nur ihren Befehl
ausgeführt.
Manchmal verwandelte sich das pyramidenförmige Gebäude
vor seinem inneren Auge in die Pyramide auf den alten ge-
druckten Dollarnoten: mit einem großen, starrenden Auge
darauf.
Sie werden nach mir suchen, dachte er, sobald sie herausge-
funden haben, dass nicht Salmon dahinter steckt. Ich gehöre zu
den Hauptverdächtigen: Sie wissen, dass ich Grund habe, sie zu
hassen.
So war er nicht weiter überrascht, als um zehn Uhr, nachdem
Catz' Band eine Stunde lang gespielt hatte, zwei Männer in
grauen Anzügen hereinkamen und zielstrebig die Bar ansteuer-
ten. Der Ältere trug eine gelb getönte Brille und sein schmales
Gesicht wirkte durch Brandnarben, die seine Wangen zusam-
mendrückten, noch schmaler. Der andere war ein kleinerer
junger Mann, dunkel, mit braunen Augen und pechschwarzem
Haar; wahrscheinlich ein Chicano.
Der Mann mit den Narben sagte: »Cole? Drummond«, und
wies mit einem fast unmerklich gekrümmten Daumen auf sich.
Er nickte in Richtung seines Begleiters. »Mein Kollege Hulera.«
Drummond zeigte seine Dienstmarke.
Als Hulera seine Lippen bewegte, verschwand sein leises Lä-
cheln nicht: »Haben Sie uns erwartet? Hat Ihnen jemand was
gesteckt?«
»Was? Äh « Nicht stottern, redete sich Cole zu. »Nein, ver-
dammt, nein. Aber ich erkenne Polizisten, wenn ich sie sehe. Sie
gehören nicht zur regulären Streife, die sonst hier geschäftig
herumläuft.«
Drummond schien das zu genügen, doch Hulera fragte: »Sie
haben keine Ahnung, weshalb wir Sie sprechen möchten?«
»Ach, hör auf mit deinen Spielchen«, sagte Drummond ver-
ärgert zu Hulera. »Der Kerl ist nicht bescheuert ... Cole, haben
Sie irgendetwas über ein paar Jungs gehört, die im Pyramid zu
Schaden gekommen sind?«
»Jungs?«, fragte Cole sorgsam uninteressiert. »Sie meinen
Kinder?«
»Ich meine Wachleute. Einer von ihnen ist auf ziemlich un-
angenehme Art und Weise zu Schaden gekommen.«
»Äußerst unangenehm«, warf Hulera ein und schüttelte den
Kopf. Sein Lächeln war verflogen. »Jemand hat ihm einen
Feuerlöscherschlauch ins Auge getrieben.«
»Äh blöde Art zu sterben.« Cole schluckte, um einen Wür-
gereiz zu unterdrücken. »Wie zum Teufel kam das?«, fragte er
mit einem vermutlich recht dünnen Grinsen.
»Das wollten wir von Ihnen wissen«, antwortete Hulera.
»Warum von mir?«
»Wir haben gehört, dass Sie gewissen Leuten eine Menge
Geld schulden. Eine Menge. Den Leuten im achtzehnten Stock«,
sagte Drummond. »Und dass Ihnen das ziemlich gestunken
hat.«
Cole spürte Drummonds prüfenden Blick. Der Mann beo-
bachtete jede Veränderung in Coles Gesichtsausdruck genaue-
stens.
»Aber Drummond«, erwiderte Cole. »Bestimmt würde es
meine Schulden tilgen, wenn ich in ihr Büro renne und ihren
Wachleuten Gegenstände ins Auge bohre. Aber sicher. Mann,
dass war irgendein verdammter Irrer. Mann, wenn ich wegen
diesen angeblichen Schulden durchdrehen würde und ich will
nicht so tun, als ob ich darüber nicht sauer wäre , äh, wenn ich
deswegen durchknallen und da raufgehen würde, um Leute
auseinander zu nehmen, wäre ich ganz sicher nicht in der
Verfassung, ein paar Stunden später hier meiner Arbeit nach-
zugehen, oder?«
Hulera zuckte mit den Schultern, verzog das Gesicht und
blickte Cole mit zusammengekniffenen Augen an.
»Würde es ihnen etwas ausmachen, uns auf die Wache zu
begleiten?«, wollte Drummond wissen.
»Tut mir Leid«, sagte Cole. »Nicht ohne Haftbefehl.«
»Wir können uns bis morgen früh einen besorgen«, sagte
Hulera.
Die Lichter gingen langsam aus und Catz ging in die nächste
Runde. Sie mussten alle drei brüllen, um den Rock'n'Roar zu
übertönen.
Cole war froh über die funzlige Beleuchtung, so konnte
Drummond sein Gesicht nicht klar erkennen. Er war sicher,
dass das Entsetzen, das in ihm aufstieg vor nichts hatte er
mehr Angst, als davor, eingesperrt zu werden , sich in seinem
Gesicht widerspiegelte. »Sie werden sich einen Haftbefehl
besorgen müssen«, sagte Cole. »Ich muss eine Bar betreiben,
und mit diesen Schulden im Nacken gedenke ich hier zu bleiben
und so viel Geld wie möglich zu verdienen, da können Sie Gift
drauf nehmen «
»Das ist eine ziemlich lahme Entschuldigung, Freundchen«,
sagte Hulera mit gewollt harter Stimme und beugte sich über
den Tresen.
»Verdammt, Hulera, das ist eine ziemlich gute Entschuldi-
gung«, schnauzte Drummond seinen Kollegen an. Er nickte
Cole zu. »Bis morgen.« Dann führte er den missbilligend drein-
schauenden Hulera aus der Bar.
Cole machte sich einen Drink.
»Verdächtiges Verhalten«, murmelte Cole vor sich hin, nahm
einen Schluck aus seinem Glas und sah den Polizisten nach.
»Ich hätte mit ihnen gehen sollen. Vielleicht sollte ich hinter-
herlaufen und ihre Fragen beantworten. Ach, zum Teufel da-
mit.«
Eine Gestalt, die sich im neonfarbenen Schaufenster mit der
blinkenden Bierreklame spiegelte, zog seine Aufmerksamkeit
auf sich eine schattenhafte Gestalt, die das Spiegelbild der
Leute in der Bar überdeckte. Sie war nur sichtbar, wenn die
Reklame von gelb auf rot wechselte. Rot: Da stand City in
Trenchcoat, Schlapphut und Spiegelbrille.
Cole schaute sich um. Kein City weit und breit (außer ma-
krokosmologisch). Das Spiegelbild war alles, was von ihm
anwesend war. Ein Spiegelbild ohne dazugehöriges Original.
City blickte ihn direkt an und schüttelte den Kopf. »Meinst du«,
sagte Cole tonlos, »wegen den Bullen? Soll ich ihnen hinterher
und mit ihnen reden?«
City schüttelte erneut den Kopf und war verschwunden.
Cole wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Als ihr Auftritt
vorbei war, kam Catz an die Bar. »Ich habe Citys Stimme aus
den Monitorboxen gehört«, sagte Catz. »Er hat zu mir gespro-
chen.«
Coles Herz wurde kalt. »Er hat noch einen Auftrag für uns
...«
Sie nickte. »Er hat gesagt, du sollst an das öffentliche Telefon
gehen.«
»Warum?« Cole warf seinen Polierlappen auf den Tresen.
»Für heute Nacht langt es. Ich kann nicht mehr. Ach es hat
für die nächsten zehn Jahre gereicht.«
Aber er ging zum Telefon hinüber.
Er nahm den Hörer des Wandtelefons ohne Bildschirm ab,
blendete den größten Teil der Musik mit einem Finger im
anderen Ohr aus und lauschte. Sofort war über das Freizeichen
hinweg Citys Stimme zu hören: »Vermeide jedes weitere Ge-
spräch mit der Polizei, wenn das möglich ist. Ich werde versu-
chen, den Verdacht auf die Tongs zu lenken, glaube ich. Die
Triaden. Roscoe hat deine Stimme auf Band, von der Kamera.
Es ist mir gelungen, das Bild auszublenden, aber die Tonauf-
nahme lief weiter. Wenn sie dich auf der Wache haben, könnten
sie eine Übereinstimmung feststellen ... Geh jetzt zum First-
Tongue-Konzert im Memorial Auditorium. Vigilanten werden
versuchen, die Veranstaltung zu sprengen, weil die Band sich
nicht der mafiaeigenen Künstlergewerkschaft anschließt. Wir
warten auf eine Gelegenheit und improvisieren dann. Geh zum
Südeingang und ich sorge dafür, dass du reinkommst. Geh
jetzt.«
»Halt, hör mal, ich hab diesen Improvisationskram satt«,
setzte Cole schrill an. »Du hast gesagt, dass niemand verletzt
wird, aber «, er senkte die Stimme und warf einen Blick über
die Schulter, »dann hat es Tote gegeben, und bei mindestens
zwei Leuten war das absolut sinnlos. Mindestens. Es gab keinen
Grund, diesen Kerl mit dem Feuerlöscher umzubringen, City,
du hättest ihm einfach eins überziehen können oder ...« Cole
verstummte. In der Leitung war nur noch das Freizeichen zu
hören. Er hatte das deutliche Gefühl ... »City?«, ... dass City
nicht mehr zuhörte.
Er warf den Plastikhörer nach der Wählscheibe und sah zu,
wie er abprallte, um dann wie ein hässlicher Pendel an der
stählernen Gliederkette zu baumeln.
Catz stand neben ihm und hielt seinen Mantel bereit. Er
konnte drei Schichten der Angst in sich spüren. Die erste
Schicht war Furcht davor, getötet oder ins Gefängnis gesteckt zu
werden. Die zweite Schicht betraf seinen Club, versetzt mit
Angst um Catz. Die dritte Schicht bestand aus dem Grauen, das
er jedes Mal empfand, wenn ihm bewusst wurde, dass er ir-
gendwie keine Wahl hatte, wenn City ihm Anweisungen gab ...
Er zog seinen Mantel an und ging hinter Catz zur Tür hin-
aus.
Der Südeingang des Konzertsaals war mit einer Kette ver-
schlossen und niemand schien auf ihn Acht zu geben. City hatte
die beiden Vorhängeschlösser an den Ketten entriegelt und
Cole musste nur die Ketten von den Türgriffen abwickeln. Die
Tür war auch von innen verschlossen und Cole zog vergebens
daran. Catz sagte: »Geh mal zur Seite.« Cole trat zurück. Er
hörte es zweimal Klicken. Als er die Tür erneut zu öffnen ver-
suchte, war sie nicht mehr verschlossen.
Cole stieß sie ganz auf und sie traten in das warme, verrauch-
te Gebäude. Sie befanden sich im Flur vor den Toiletten. Der
Betonkorridor vibrierte dumpf im Rhythmus von Bass und
Schlagzeug auf der anderen Seite der Wand ... Sie waren nicht
allein. Man hatte sie hereinkommen sehen.
Punks und Angstrocker standen in arrangiertem Durchein-
ander entlang der beiden Wände. Die Punks trugen selbst
gemachte Klamotten, behängt mit Ketten und allem möglichen
Schmuck, Glitzerkram, beliebig zusammengestellten Ansteck-
Buttons; ihre Kleidung vom Stil her einander ähnlich, doch
nie ganz gleich bestand aus einer Ansammlung nicht zuein-
ander passender Kleidungsstücke, die alle ihre Abneigung gegen
Fließbandkleider und von Computern entworfene Mode kund-
taten. Die Angster trugen fast durchgehend Uniformen jede
Art von Uniform erfüllte ihren Zweck, wenn auch Gefängnis-
uniformen am beliebtesten waren oder Krankenhauskluft.
Hier und da zeigten sich Gummiklamotten, schwarzes Leder,
Chromketten, Beschläge aus durchsichtigem Plastik und Mode-
schmuck. Die ganze Horde rauchte Zigaretten, Pot und Alka-
loid-Sticks und starrte Cole und Catz nichts sagend an. Doch in
einigen Blicken las Cole Respekt: »Da sind glatt welche für lau
reingekommen«, kicherte jemand. »Sauber, die Tür mit 'ner
Scheckkarte zu knacken.«
Strohköpfige Punks, die Gesichter unbeholfen mit Tusche
tätowiert Dollarzeichen, Totenschädel und Anarchiesymbole ,
stolzierten auf den Südausgang zu. Die Angster, eher der finste-
re, niedergeschlagene Typ, blieben stehen, die Hände in den
Hosentaschen und mit verdrossenen Augen unter den einför-
mig schwarzen Stirnbändern und Bürstenhaarschnitten. Punk-
frauen mit nackten hüpfenden Brüsten, Bondageringe in den
Brustwarzen, in denen sich das Licht spiegelte, kicherten und
neigten die Köpfe zu Cole hinüber: »Isser nicht was alt für so
was?«, fragten sie einander mit dem tradierten pseudo-
britischen Akzent. Cole zuckte innerlich zusammen.
Mit einem arroganten Lächeln nahm Catz Cole am Arm und
führte ihn nach rechts, zum Eingang des Zuschauerraums, der
der Bühne am nächsten lag. Hinter ihnen riefen Punks ihre
draußen gebliebenen Freunde heran, lockten mit freiem Eintritt
durch die geknackte Tür.
Catz war eine berühmt-berüchtigte Persönlichkeit und wäre
sicher erkannt worden, hätten die Dominomaske aus Plastik
und das diabolische Make-up nicht ihr Gesicht verdeckt. Sie
trug einen hautengen Pullover sie hatte den Stoff über ihrer
rechten Brust herausgeschnitten , eine braune Fliegerjacke und
schwarze gelochte Lederhosen. Ihr Haar stand in Spikes ab, so
glich sie alles in allem einem Porträt, das ein Paranoiker gemalt
haben mochte, wobei der Punk-Look ihr ein etwas altmodisches
Aussehen verlieh. Die Punks waren vorwiegend Überbleibsel
jenseits der Dreißig.
Sie gingen einen gespenstischen, blau erleuchteten Korridor
hinunter, kickten Plastikpillenspender, Zigarettenpackungen
und von den Behörden ausgegebene Einwegspritzen beiseite
und bogen nach links in den Zuschauersaal. Sie standen am
Rand einer lauten, dicht gedrängten Menschenmenge, etwa
zehn Meter entfernt von fünf der monumentalen Lautsprecher-
boxen, von denen jede einzelne so groß war, dass zwei Männer
hätten hineinklettern können. Das Donnern des Heavy Metal
brauste über sie hinweg, erschütterte sie in alle Sinne erfassen-
den Strömungen und zwang ihnen seinen Rhythmus auf ...
Catz glitt durch dieses Element (das dreiste Dröhnen eines
Angstrock-Konzertes ist ein eigenes Element, eine Meeresströ-
mung aus greifbarem Klang; körperlich spürbare Musik, eine
Verführung, die die Gelenke erschüttert und deren Luftdruck
die Haare zaust, die Zähne klappern lässt), als hätte sie das
Selbstvertrauen eines Falken in stürmischen Lüften.
Cole glühte vor Bewunderung.
Die Menge bewegte sich mit der Gleichförmigkeit eines gro-
ßen gestrandeten Drachen, in reptilienartigen Wellen, ein
Mehrzeller von gewaltigen Ausmaßen, der sich unter der herri-
schen Massage des Rock'n'Roll wand und krümmte, mit einer
gescheckten Haut fünfzigtausend Gesichter, die fließend
ineinander übergingen , der vor Lebendigkeit pulsierte, wäh-
rend er sich an der ungeheuren Lautstärke sättigte, die in
rhythmischen Orkanböen von der Band ausging.
Die Musiker waren als gnostische Heilige verkleidet, einge-
weihte Zauberer und Alchemisten in mit magischen Symbolen
übersäten Gewändern aus rotem und schwarzem und silbernem
Stoff. Der Sänger dagegen trug nur einen Lendenschurz aus
Sackleinen und, auf der schweißglänzenden Haut seiner schma-
len Brust, ein Brandmal des Zeichens, des kabbalistischen Sym-
bols für Chaos: ein Kreuz, dessen unteres Ende in einer Sense
auslief. Seine Katzenaugen (grüne Kontaktlinsen mit geschlitz-
ten Pupillen) glühten vor fremdartiger Intelligenz. Er schlängel-
te sich masochistisch zu den rhythmischen Peitschenhieben von
Bass und Schlagzeug, folgte einer bizarren Choreografie, die
spontan wie Peitschenknallen und zugleich elegant arrangiert
wirkte, jeder Schritt Teil der Beschwörung eines urbanen Voo-
doo-Rituals ... In Interviews hatte der Sänger betont, dass die
Instrumente von First Tongue in Zungen sprachen, in jener
ersten Sprache der vorbabylonischen Zeit und der Sprache der
Engel. Sie waren die letzte noch existierende erfolgreiche Ok-
kult-Rockband, ein Genre, das vor Jahrzehnten von Blue Öyster
Cult ins Leben gerufen worden war.
Der Sänger, sein Künstlername war Blue Drinker, zischte
spöttische Zeilen:
Die sechs Beine des atmenden Kadavers
Der des Todes Frieden mit Eisdolchen anfrisst
Seine sechs Zungen in ätzendem Palaver
Künden von der Rückkehr eines elektrischen Christ ...
In diesem Augenblick setzte die Lightshow ein. Die Laser sta-
chen in den wabernden Rauch, der über dem Publikum lag, rot
und scharfkantig wie der unabwendbare Tod, Zusammen- und
Widerspiel eines von Blitzlichtern überzogenen Netzes, das in
einem diabolischen Code pulsierte, ätherische Strahlen aus
heißem Stahl und gleißendem Draht: im Rhythmus der Musik.
Immer der Musik angepasst, dem Vor- und Nachhall der Snare,
den Stakkatoläufen der Gitarre, ein genau auf das Aufheulen
des Synthesizers und das Grabesdröhnen des Basses abge-
stimmtes Leuchtfeuer. Die Lichter waren Teil des Klangs, mit
der Zeitverzögerung einer Tausendstelsekunde über den Büh-
nencomputer verbunden. Als der Song den abschließenden
Höhepunkt erreichte, spürte der Computer, dass die Zeit für die
Holographie gekommen war; die Laserdegen teilten sich, bra-
chen, fächerten sich auf und wurden figürlich wie Holz, das sich
auf einer Drehbank dreht, passten sich der Struktur des riesigen
elektromagnetischen Feldes an, das aus versteckten Geräten in
der Decke projiziert wurde.
Und die schreiende, klatschende Menge, deren fasziniert
aufwärts gerichtete Gesichter vom Sturm gepeitschten Wellen
glichen, erblickte ein Geschöpf von der Größe eines Marinezer-
störers: Ein missgebildetes, unmenschliches Ding, ein sechsfü-
ßiger Mann, der spinnengleich auf seinem gepanzertem Bauch
kroch. Aus seinem unförmigen Kopf blitzten sechs Augen in
sechs mystisch aufeinander abgestimmten Farben. Als sich sein
lippenloser Mund öffnete, wurden die Gitterstäbe eines Stadtge-
fängnisses sichtbar, zwischen denen Sträflinge mit leeren Augen
hindurchschauten ...
Das Ding bewegte sich zu den präzisen und gleichzeitig wü-
tenden Klängen von First Tongue: riesig, dreidimensional, fast
greifbar schwamm es durch den Rauch, der von der Menge
aufstieg, während um es herum holographische Wolkenkratzer
umstürzten, Geysire aus Staub aufwirbelten und die Bewohner
der Stadt unter sich begruben, die kreischend davonliefen ...
Das holographische Bild des Monsters bewegte seine ge-
schuppten Arme und Beine und kreischte ... zur Musik (das
strukturierte Brüllen von der Bühne unter ihm schien es in der
Luft zu halten, es von Sekunde zu Sekunde, wieder und wieder
neu zu erschaffen), während es durch die Projektion der City
barst. Und Blue Drinker rezitierte mit einem Gesicht, das
verklärte Trauer ausstrahlte, eine Bibelstelle:
» ... Ein anderes Tier sah ich, das stieg aus dem Land empor.
Es hatte zwei Hörner wie ein Lamm, redete aber wie ein Drache
...«
Dem holographischen Tier wuchsen zwei Hörner aus dem
Schädel und Flammen schossen aus seinem Maul.
» ... Und es vollbringt große Zeichen, dass es sogar Feuer vom
Himmel herabfallen lässt auf die Erde vor den Augen der Men-
schen ...«
Feuer regnete auf das Tier und die zerstörte Stadt herab.
» ... So veranlasste es alle, die Kleinen und die Großen, die
Armen und die Reichen, die Freien und die Sklaven, sich ein Mal
zeichnen zu lassen auf die rechte Hand oder auf ihre Stirn ...«
Und diejenigen Menschen im holographischen Bild, die auf
Knien das flammende Tier anbeteten, wurden mit Zahlen auf
ihrer Stirn gezeichnet, während auf der Bühne ein fluoreszie-
rendes Licht über Blue Drinker aufleuchtete und, bisher un-
sichtbar, 666 auf seiner Stirn zum Vorschein brachte.
Catz stampfte begeistert auf den Boden und Cole lachte. Die
Ziffern waren elektronisch geprägt wie bei einer ITC-Zahl.
Cole beugte sich zu Catz hinüber und brüllte: »Wo sind die
Schutztruppler, auf die wir achten sollen? Und was zum Teufel
machen wir, wenn wir sie entdecken?«
Catz zuckte überschwenglich die Schultern. Cole konnte sich
nicht entscheiden, ob das die Antwort war oder ob sie ihn nicht
hören konnte.
Die Band donnerte weiter wie eine Panzer-Phalanx, die über
ein Schlachtfeld knirscht. Sie spielten Melodien, die präzise und
komplex waren, doch gleichzeitig so verstärkt und scharfkantig,
dass sie für Uneingeweihte wie reiner Lärm klingen mussten.
Wie ein gepanzertes Fahrzeug auf den ersten Blick nach einer
bulligen Masse metallischer Aggression und sonst nichts aus-
sieht, bestand die Musik bei näherer Betrachtung aus vielen
sorgfältig geschliffenen und sicher ineinander greifenden Ein-
zelteilen. Eine gewaltige Soundmaschine.
Die riesige Halle, für ein Fassungsvermögen von 55.000
Menschen gebaut, wurde von einer weitläufigen Tanzfläche
beherrscht. Sie war voll bis fast zu den Wänden, wo die Stuhl-
reihen der Zuschauertribüne befestigt waren. Rund um die
Tanzfläche wurde gemäß der Brandschutzverordnung ein
schmaler Zwischenraum frei gehalten, den Dutzende von
Sicherheitsleuten und Rausschmeißern überwachten. Hier und
da kam es zu Prügeleien, Flaschen flogen und Rauchbomben
explodierten, bis die Szenerie mehr und mehr einem Schlacht-
feld glich.
Unter der Tribüne standen drei Doppeltüren offen, die zu
den Haupteingängen führten. Aus diesen Öffnungen strömte
eine kleine Armee, alle einheitlich in Jeans und blaue Hemden
gekleidet, die Gesichtszüge unter Nylonstrümpfen verborgen.
Einige von ihnen trugen Gewehre, andere zogen Feuerwehr-
schläuche hinter sich her. Die Vigilanten, stellte Cole er-
schrocken fest. Er hatte über der Show fast seinen Auftrag
vergessen. Und die Männer, an deren Tod er beteiligt war ...
Er behielt den Zwischenraum entlang der Tanzfläche im Au-
ge. Die Sicherheitsmannschaft verschwand von der Bildfläche.
Wie auf ein abgesprochenes Zeichen hin.
Schreie und plötzliche Bewegungen am äußeren Rand der
Menschenmenge ließen erkennen, wo die Vigilanten durchbra-
chen. Cole bemerkte das Knistern elektrischer Viehtreiberstök-
ke.
Catz führte sie vorsichtig um die in Panik ausbrechende
Menge herum, auf die Vigs zu. Aber sie waren gezwungen,
gegen die Strömung anzukämpfen, als die Menge sich aufbäum-
te wie eine erschrockene Amöbe, weg von der Bedrohung in
ihrem Rücken und in Richtung der Bühne und der Seitenaus-
gänge.
Vorne wurden Leute gegen die Bühnengitter gequetscht und
kletterten verzweifelt daran hoch, zu viele für die Bühnenarbei-
ter, die sie zurückzuhalten versuchten, während die Band die
quer über die Bühne fliehenden Angster und Punks ignorierte
und ungerührt einen Song von Aaron Dunbar spielte, The
Hustler:
Gott ist tot und ich will seinen Job
Pate der kosmischen Mafia!
Jeder
ist von Gier getrieben
Jeder
seinen Bedürfnissen unterworfen
Von diesem Fluch gibt es nur eine Erlösung
DAS GANZE UNIVERSUM SOLL MIR GEHÖREN!
Gott ist tot und ich will seinen Job
Die Vigs feuerten ungezielt in die Menge, bis diese wie eine vor
Angst wahnsinnige Viehherde auf die Bühne zu stürmte ...
»Sie wollen, dass das Publikum die Band niedertrampelt!«,
schrie Catz ungläubig.
Die Band spielte mit grimmigen Mienen weiter. Die Musik
brandete unaufhaltsam über die Zuschauer hinweg. Blue Drin-
ker tanzte verrückter und verrückter. Er schien in dem Chaos
zu schwelgen, das seine Feinde verursachten.
Catz und Cole gingen hinter einem Betonpfeiler in Deckung,
während das Publikum wohl oder übel rechts und links vorbei-
strömte. Wer hinfiel, wurde zertrampelt.
Die Vigs drehten die Feuerwehrschläuche auf und zielten in
das sich zusammenziehende Herz der entsetzten Menschenan-
sammlung.
Das Hologrammbild über all dem veränderte sich ...
Es senkte sich aus der Region der stählernen Dachstützen bis
fast auf das Publikum herab, so nahe, dass sie es nicht einmal in
ihrer panischen Angst ignorieren konnten.
Es zeigte das Bild eines der Vigilanten, sein Rücken mit ro-
ten, weißen und blauen Sternen überzogen, wie er gerade Blue
Drinker erwürgte ...
Das macht City, dachte Cole plötzlich.
Die Vigs schauten nach oben und zögerten, Schlagstöcke
oder Schusswaffen oder Viehtreiberstöcke oder Düsen in der
Hand.
Das Publikum verlangsamte seine Flucht und Köpfe legten
sich in den Nacken, um das projektierte Bild über sich zu be-
trachten jetzt ein riesiges 3-D-Bild von Lance Galveston, dem
Gewerkschaftsboss. Die meisten Leute erkannten ihn auf An-
hieb. Blue Drinker auf der Bühne brüllte vor Lachen und trieb
die Band an. Die große Heavy-Metal-Maschine torkelte wieder
voran.
Die Feuerwehrschläuche in den Händen der Vigilanten hat-
ten ihren Betrieb eingestellt und die Träger blickten verwirrt auf
sie hinunter.
Das Bild von Lance Galveston wandte sich um und starrte
die Menge böse an. Er war ein alter Mann mit einem zerfurch-
ten Gesicht und gelblichen Augen. Er griff sich mit arthriti-
schen Fingern in den Schritt, öffnete den Reißverschluss ... und
pinkelte ins Publikum. Hinter ihm standen lachende Holobilder
von Vigilanten und zeigten mit Fingern auf ihn.
Und die Musik, mit ihrer unterhalb der sprachlichen Ebene
hämmernden Botschaft, spornte die Menge weiter an ...
Das Publikum drehte sich fast gleichzeitig um und ging
durch Citys kalkulierten visuellen Witz vereint zum Angriff
über. Die Vigilanten wichen zurück und flohen Hals über Kopf
durch die Ausgänge. Einige drehten sich um und feuerten wild
drauflos, doch obgleich ein oder zwei in der anstürmenden
Horde fielen, sprangen alle anderen über die Gefallenen und
holten die Schießwütigen ein, rissen sie um und zerfetzten sie in
einer kathartischen Orgie. Lange unterdrückte Wut, unterbe-
wusster Groll gegen alles, wofür die Vigilanten standen, brach
sich Bahn. Die Schutztruppler wurden einer nach dem anderen
eingeholt und zerquetscht ...
Cole folgte Catz unter dem Torbogen hindurch in die Vor-
halle und den Südausgang hinaus.
Der Lärm des Stadtverkehrs wirkte gedämpft und läppisch
gegen den gewaltsam tosenden Klangorkan, den sie hinter sich
ließen.
Sie rannten Seite an Seite über den Parkplatz und wichen Au-
tos aus, die hektisch über die Fahrspuren kreuzten. Catz hängte
Cole langsam ab, als sie auf einen Knoten flüchtender Vigilan-
ten in vierzig Meter Entfernung zuhielt. Die Nachtluft sang
rasselnd in Coles Lungen und in seinen Ohren dröhnte noch
die Musik der Band.
Das Panorama geparkter Autos hüpfte in verzerrten metalli-
schen Ebenen auf und nieder, während er Catz nachhetzte. Er
keuchte, sein Gesicht brannte vor Anstrengung.
Vor ihnen, auf der anderen Seite eines verbeulten schwarzen
Cadillacs, drängten sich drei Männer in die Fahrerkabine eines
blauen Kleinlasters mit einem weißen Camperaufbau auf der
Ladefläche. Ein 79er Datsun. Die Scheinwerfer des Lasters
leuchteten auf, der Motor sprang an.
Catz hechtete gebückt auf das Heck des Wagens zu. Die obe-
re Klappe des Campers stand offen: Wahrscheinlich waren
weitere Schutztruppler hinten drin mitgefahren und wurden
nun im Stich gelassen. Catz schwang sich mühelos hinein. Cole
stolperte atemlos hinterher und kletterte unbeholfen über die
untere Heckklappe. Er hatte es halb geschafft, als der Lieferwa-
gen ruckte und anfuhr. Fast wäre er auf den Asphalt zurückge-
schleudert worden, doch Catz packte ihn grob am Kragen und
zog ihn herein. Er stieß sich das Schienbein an einem Wagen-
heber und verbiss sich einen wütenden Aufschrei. Im Heck des
rumpelnden Wagens war es finster, doch die Männer vorn
konnten die blinden Passagiere sicher sehen, wenn sie sich nach
ihnen umschauten.
Cole folgte Catz auf Händen und schmerzenden Knien über
das kalte Metall der Ladefläche in eine Ecke unter dem Heck-
fenster der Fahrerkabine, wo sie sich nebeneinander hinhocken
konnten, ohne von den Männern im Fond entdeckt zu werden.
Cole hatte keine Waffe. Er tastete in der Dunkelheit umher
und seine Finger schlossen sich um eine Eisenstange.
Der Lastwagen fegte quietschend um Kurven und Hausek-
ken. Es war eine kurze Fahrt, vielleicht fünf Minuten. Der
Wagenheber klapperte höhnisch.
Das Fahrzeug wurde langsamer, das Klappern leiser, das
Rumpeln des Motors wich einem gedämpften Trommeln und
Cole spürte, wie der Laster in eine Einfahrt bog und mit einem
Ruck stehen blieb. Der Motor ging aus. Cole erstarrte, wartete
ab und packte die Stange auf dem Boden fester, hob sie aber mit
Bedacht noch nicht hoch, um nicht aus Versehen gegen etwas
zu schlagen. Er hielt den Atem an. Das ist doch Wahnsinn,
dachte er. Catz spinnt. Die Türen des Lasters wurden zugeknallt
und Coles Kopf, der an der Rückseite der Fahrerkabine lehnte,
vibrierte schmerzhaft.
Vielleicht schauen sie nicht hinten rein, dachte er.
Er hörte, wie sich Schritte vom Laster entfernten und ent-
spannte sich etwas, fühlte sich ein wenig sicherer ... bis eine
dunkle Gestalt im Heck des Wagens mit dem blendenden Strahl
einer Taschenlampe direkt in Coles Gesicht leuchtete.
VIE-jah!
Cole hielt die Eisenstange auf dem Boden der Ladefläche
fest umklammert und wartete, bis der Mann mit Taschenlampe
und Waffe, der gebückt auf ihn zukam, sich in der Dunkelheit
vor ihm aufrichtete, das Gesicht koboldhaft im Schein der
Lampe, die ihn von unten anstrahlte. Cole riss die Stange hoch;
er legte sein ganzes Gewicht hinein. Und schrie auf, als seine
Hand jede Bewegung verweigerte. Er wurde aus dem Gleichge-
wicht gerissen und landete schmerzhaft auf den Rücken. Die
Stange war am Boden festgeschraubt; sie diente als Griff für die
Getriebeverkleidung.
Das war überhaupt nicht komisch, dachte Cole warum
lachte der Vigilant dann?
Coles rechter Arm schmerzte und er überlegte, ob er sich das
Schultergelenk ausgerenkt hatte. Sein Arm hätte geschrien,
wenn er einen eigenen Mund gehabt hätte, als der Schutztrupp-
ler ihn verbog, um Cole auf den Bauch zu drehen. Der Mann
legte ihm Handschellen an.
Aus den Augenwinkeln sah Cole verschwommen, wie Catz
sich bewegte. Es knallte, gefolgt von einem dumpfen metalli-
schen Geräusch. Die kämpfenden Gestalten auf dem Boden
fluchten.
Cole lag mit dem Gesicht nach unten da. Er konnte nur zu-
hören und sich aus dem Weg schlängeln. Er roch Benzin und
Reifengummi und den Schweiß des Vigilanten. Der Geschmack
seiner eigenen Furcht lag ihm auf der Zunge. Der Schein der
Taschenlampe zuckte hektisch über die Wände und ver-
schwand.
Catz schrie auf. Der Vigilant grunzte irgendwie triumphie-
rend.
Vielleicht vergessen sie mich, wenn ich hier ganz still liegen
bleibe, dachte Cole.
Die Taschenlampe ging wieder an, gefolgte von einem zwei-
ten Lichtstrahl. Ein weiterer Mann oder war es eine große
Frau? Die Stimme klang hoch zeichnete sich schwarz hinter
der zweiten Lichtquelle am Heckende des Lasters ab und sagte:
»Du Trottel, du hättest sie einzeln rauskommen lassen sollen,
statt zu ihnen reinzugehen. Sie hätten dich zusammenschlagen
können.«
Das hätten wir auch, wenn ich nicht solche Scheiße gebaut
hätte, dachte Cole.
»Halt die Klappe«, sagte der Schutztruppler neben Cole. Der
Mann atmete schwer und sein Gesicht unter der Nylonmaske
glich einem riesigen Fötus, noch kaum entwickelt und unfertig.
Er schleifte etwas an Cole vorbei.
Catz. Als wäre sie ein Müllsack, dachte Cole. Tränen brann-
ten ihm in den Augenwinkeln.
Ohne nachzudenken, von plötzlichem Zorn getrieben, rollte
er sich auf den Rücken und trat nach dem Mann. Er erwischte
ihn am Schienbein.
»Scheiße«, schrie der Mann und taumelte rückwärts.
Dann kletterten weitere Leute in den Laster und Cole spürte,
wie er gepackt und hochgehoben, an Kragen und Fußgelenken
aus dem Lastwagen und durch die Nacht geschleppt wurde. Er
wurde seekrank. »City ...«, sagte Cole heiser, während fremde
Menschen ihn mit den Füßen voran eine Einfahrt hoch und
durch eine Tür trugen.
»Was hat er gesagt?«, fragte jemand hinter ihm.
»Ich glaube, er hat >Bitte!< gesagt«, meinte jemand und fügte
hinzu: »Ts, ts, ts.« Cole und Catz wurden ins Haus getragen. Sie
ließen Catz auf ein schwarzes Sofa fallen.
City! Vielleicht war Citys Einfluss hier nur schwach; schließ-
lich befanden sie sich in Oakland, auf der anderen Seite der
Bucht und südlich von San Francisco. Weit entfernt vom Her-
zen der Stadt und vielleicht auch weit vom Zentrum seiner
Macht. Doch sie waren nicht lange gefahren, sie konnten nicht
weit vom Oakland Auditorium entfernt sein. Und dort hatte
ihnen City geholfen.
Sie ließen Cole auf den Boden fallen, auf den Bauch. Er
keuchte, als ihm der Aufprall die Luft aus den Lungen trieb. Er
hatte das Gefühl zu ersticken und schnappte panisch nach Luft,
was ihm eine Lunge voll Staub aus dem grünen Teppich ein-
brachte.
Füße in Stiefeln marschierten an seiner Nase vorbei, begleitet
von kurzen Heiterkeits- und längeren Wutausbrüchen. »Bleib
vom Fenster weg, du verdammtes Arschloch!« und »Hee, halt's
Maul, das kümmert die Nachbarn einen « und »Ja, aber gele-
gentlich schleicht ein Bullenauto vorbei, und die Jungs haben «
und »Hee, haltet einfach die Klappe!«
Catz blieb auf der Couch rechts von ihm liegen. Langsam
und mit schmerzendem Arm rollte er sich auf die Seite, bis er
die verstaubte Vinyl-Couch sehen konnte, die mit Brandlöchern
bedeckt war. Vom Boden aus konnte er nur Catz' herabhängen-
den linken Arm erkennen und die Wölbung ihrer Hüften. Zum
ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass sie tot sein könnte.
Tot sein könnte.
»Hee, sag mal, müssen wir diese Masken die ganze Nacht
tragen?«, fragte jemand.
Die Stimme der Frau antwortete: »Natürlich, Schwachkopf,
wir müssen sie tragen, bis wir die beiden losgeworden sind. Wir
könnten ihnen allerdings auch die Augen verbinden.«
»Lass uns warten, bis wir wissen, was Salmon möchte.«
»Wer hat das gesagt?«, donnerte die Frau.
»Mann-oh-scheiße, die kommen hier eh nicht lebend raus,
also können sie uns ruhig sehen. Wozu sollen wir aufpassen,
was wir sagen, wenn «
»Hör zu, Arschloch, es kann alles Mögliche passieren. Viel-
leicht will er irgendwen erpressen, und wir müssen sie wieder
laufen lassen. Und dann können sie «
»Jetzt nicht mehr, nachdem dieser Trottel seine Klappe auf-
gerissen hat und Sa «
»Hee, was schiebt ihr mir wieder den Schwarzen Peter zu?
Auf diesen Scheiß geb ich nichts, wir müssen «
»Hee, das ist eine von den Punkmädels!«
»Hee, die Schlampe hat eine nackte Titte!«
Cole wurde schlecht.
»Hee, können wir die nicht für ein paar Minuten mit ins
Schlafzimmer neh«
Cole wurde richtig kotzübel.
»Hört zu, Salmon hat auf mein verdammtes Konto seit drei
Wochen nichts mehr überwiesen, und bis sich das ändert,
werde ich «
Cole nieste, würgte an dem Staub.
»Hee, wir sind durchgekommen. Er hat bereits von der selt-
samen Sache im Auditorium erfahren und er weiß auch nicht,
was mit dem Holo passiert ist ... Er sagt, wir sollen über sie so
viel wie möglich rausbekommen und ihnen dann Alcatraz aus
der Fischperspektive zeigen.« Gelächter. »Wir sollen die Mas-
ken erst mal auf lassen.« Gestöhne. Jemand packte Cole an den
Handschellen. Er wurde mit einem Ruck hochgerissen und biss
sich auf die Zunge, um nicht aufzuschluchzen, als der Stahl der
Handschellen in seine Handgelenke biss und sein schmerzender
Arm verdreht wurde. Schwindlig und schwankend schaute er
sich um. Ein sparsam möbliertes Fertighaus. Neu, aber schon
ziemlich schmuddelig. Rund dreißig von denen standen in
Türrahmen, saßen am hölzernen Esstisch neben der Küchenzei-
le oder lehnten an untapezierten Wänden. Zwei standen direkt
vor ihm und warteten auf ein Zeichen. Sie beugten sich mit
gespannten Muskeln über ihn. Alle trugen Masken mit dunklen
feuchten Flecken über dem Mund. Alle sahen aus, als hätten sie
ihre Gesichtszüge an unsichtbaren Fensterscheiben platt ge-
drückt und eingeebnet.
Neben ihm lag Catz auf der Couch. Ihre Arme hingen unge-
fesselt herab. Jemand hatte ihr die Plastikmaske runtergezogen.
Sie atmete regelmäßig, und die Anspannung in Coles Brust
legte sich. Sie lebt.
Während er sie betrachtete, öffnete sie kaum merklich die
Augen. Sie blieb jedoch reglos liegen, als wäre sie immer noch
bewusstlos.
Cole schaute den Mann an, der über ihm stand ...
»Los«, sagte die Frau.
Sicher, die ersten Schläge schmerzten. Die ersten fünf oder
sechs. Im Nachhinein wusste er das nicht mehr so genau, aber
mit großer Wahrscheinlichkeit heulte er und versuchte wegzu-
laufen. Sie hielten ihn von hinten fest. Nach jedem Schlag
stellten sie ihm eine Frage. Gegen seine rechte Schläfe, ein
Krachen, das gleich einem heißen Brüllen durch seinen Kopf
hallte. »In deiner Brieftasche steht Stu Cole und einer von den
Jungs kennt deinen Club. Wir wissen auch, das dir nicht gefällt,
was wir vorhaben. Also, wie wolltest du uns auf dem Konzert
reinlegen?« (Cole antwortete nicht.)
Ein Knall auf seiner linken Wange, der Schmerzen wie Risse
durch seinen Körper sandte, als wäre er aus Glas. »Was hattest
du mit diesen komischen Holos und den Angstern zu tun, die
auf uns losgegangen sind?« (Cole antwortete nicht.)
Auf den Mund, ein hässliches Platsch und das Gefühl, wie
Blut aus seiner aufgeplatzten Lippe quoll und auf sein Hemd
lief. »Warum seid ihr auf den Laster gestiegen? Wolltet ihr
rausfinden, wo wir uns treffen?«
»Nein«, sagte Cole undeutlich und spuckte Blut. Sein Mund
schmeckte wie ein vor Öl glitschiger Strand bei Ebbe. »Der
falsche Laster. Haben den von einem Freund gesucht. Durchge-
dreht.« Das glauben die nie, dachte er.
Und Klatsch, wieder auf den Mund. Mit einem Knirschen
löste sich ein Zahn, sein Kopf dröhnte. »Den Scheiß sollen wir
glauben? Glaubst du doch selbst nicht. Komm schon, du Pen-
ner: Warum seid ihr auf den Laster gestiegen?«
Cole antwortete nicht.
Krach-Krach auf seinen Solarplexus, zwei schnelle Schläge.
Sämtliche Luft wich aus seinen Lungen und er krümmte sich so
heftig, dass sein Kopf gegen sein Knie schlug.
»Ich hab gefragt, was für 'ne Scheiße ihr in unserem Laster zu
suchen hattet?«, sagte das platte Gesicht.
Cole hatte nicht mehr genug Luft, um zu antworten. Er sack-
te in die Knie. Der Raum war voll mit leuchtendem purpurro-
tem Schnee. Er machte die Augen zu. Fest zu.
Für einen Augenblick, vielleicht auch etwas länger, schien er
in glitzernder Finsternis zu trudeln. Dann ließ ihn ein Geräusch
aufhorchen. Catz schrie. Er blickte auf. Sie ohrfeigten sie.
Mit einer Flasche.
Eine Frau (Cole konnte vage ihre Figur unter dem Arbeits-
hemd erkennen eine kräftige Frau, wahrscheinlich jung)
verdrehte Catz' Haare in ihrer behandschuhten Faust. Und ein
großer Mann neben ihr trat Catz mit seinen Stiefeln wiederholt
in die Rippen.
»Hey!«, schrie Cole. »Was äh, was wollt ihr wissen?«
»Dacht ich mir doch, dass ihn das wieder zu sich bringt«,
sagte einer der Männer, ließ von Catz ab und wandte sich
wieder Cole zu.
Das Licht ging aus.
Und so schnell, wie es dunkel geworden war, wurde es auch
wieder hell. Funken schlugen aus leeren Lampenfassungen,
Flammen zuckten aus dem Stuck und krochen die Wand hin-
unter.
Dunkle Gestalten stürzten vorbei. Cole kniete auf dem Bo-
den. Er richtete sich auf und mit einem Klicken fielen die Hand-
schellen von ihm ab. »City ...«, sagte Cole dankbar mit blutigen
Lippen.
Er hörte Gesprächsfetzen der verwirrten Vigs, während er
sich zu Catz vortastete ...
»Was soll «
»Wer hat da «
»Verdammt, vielleicht sind das «
»Verflucht, ich seh nicht mal «
»Vielleicht Freunde von «
»Verdammtes Feuer, wir müssen «
»Scheiße, lasst sie doch hier «
»Nein, nehmt sie mit «
Cole versuchte Catz hochzuheben. Schmerz raste seinen Arm
hinauf, sein Blick trübte sich. Er ließ sie wieder auf das Sofa
fallen. Die Finsternis füllte sich mit dichtem Rauch. Jemand riss
ihn im Vorbeilaufen um: Er fiel auf die rechte Seite. Die Flam-
men leckten höher, die Hitze saugte die Feuchtigkeit aus seinen
Wangen. Das Zimmer war von einem unregelmäßigen Flackern
erleuchtet, grelles Rot und Blau durchstach die Finsternis. Die
meisten Vigs waren weg. Zwei rannten noch hustend zur Sei-
tentür raus. »Catz hey «, sagte Cole, Rauch würgte ihn bren-
nend im Hals und er zog an ihrem Arm. Sie rührte sich nicht.
»Catz, City hat das verdammte Haus in Brand gesteckt, damit
wir hier wegkommen wir müssen hier raus, bevor wir
verbrennen!« Vor lauter Blut im Mund war er kaum zu verste-
hen.
Sie stöhnte und wich vor ihm zurück. Dann fing sie zu hu-
sten an, ihre Augen öffneten sich weit. Hastig hielt sie sich eine
Hand vor den Mund. Cole half ihr auf die Füße. Seinen Augen
tränten vom Qualm, Flammen leckten an seinen Fersen,
Schweiß troff und verdampfte. Sie stolperten unsicher auf die
Tür zu ein widerlich gelbes Rechteck, das von Rauchschwaden
verdeckt in der Hitze zitterte. Catz ließ seine Hand los und Cole
(der das als Zeichen verstand, dass sie ihm aus eigener Kraft
folgen konnte) stürmte vorwärts, als die Nähe der Flammen ihn
mit neuer Kraft erfüllte der Kraft der nackten Panik.
Er ging davon aus, dass sich Catz direkt hinter ihm befand.
Er rannte durch das Halbdunkel einer Kochnische und den
offenen Seiteneingang hinaus, warf sich hinter einer Hecke in
Deckung und atmete keuchend die saubere kalte Luft ein. Zwei
Laster fuhren gerade ab. Jemand lief auf der Einfahrt an ihm
vorbei und rief etwas. Männer zwängten sich in ein Auto. Ein
paar Farbige standen auf dem Bürgersteig beisammen und
schauten gelassen zu.
Cole sah sich verzweifelt um. Catz war nicht da. »Catz!«,
schrie er heiser, während er sich wie ein Automat auf das Haus
zubewegte.
Zwei Männer tauchten im Eingang auf. Gemeinsam trugen
sie etwas. Cole versteckte sich hinter einer Garagenecke und
beobachtete sie. Er erkannte Catz an den Umrissen der Gestalt,
die sie trugen und daran, wie sie sich in ihrem Griff wand. Er
duckte sich, als sie in die Garage getragen wurde.
Er hustete. Benommen schaute er sich nach einer Waffe um.
Doch dann leuchtete ein Autoscheinwerferpaar in dem offenen
Garagentor auf, gefolgt vom Aufheulen eines Motors. Ein
blauer Buick rollte aus der Einfahrt, auf die Straße, bog ab und
trug Catz davon.
»Sie sind sich sicher, was?«, fragte Cole das faltige Gesicht des
schwarzen Motel-Portiers.
»Sicher bin ich mir sicher. Der Fernseher funktioniert ein-
wandfrei«, erwiderte der Mann. »Warum wollen Sie unbedingt
fernsehen? Wenn Sie mich fragen, mein Sohn, sollten Sie einen
Arzt aufsuchen. Teufel auch, Ihr Gesicht sieht aus, als wäre ein
Lastwagen drübergefahren. Soll ich Ihnen etwas Verbands«
»Nein!«, brüllte Cole. Der Mann sah auf, erschrocken und
argwöhnisch. Cole nahm sich zusammen: »Nein ich muss
schnell machen. Ein Freund von mir kommt in den Spätnach-
richten und ich hab versprochen, ich seh's mir an. Ich verarzte
mich später bin gegen einen Laternenpfahl gelaufen.«
»Ich kann Sie da nicht einfach so zum Fernsehen reinlassen.
Ich muss Ihnen das Zimmer berechnen, auch wenn Sie nur kurz
bleiben«, sagte der Portier und zuckte mit den Schultern.
»Ja, schon klar ...«
Der alte Mann nahm Coles Karte und schob sie in das Ter-
minal. Er warf einen Blick auf den kleinen Bildschirm, nickte
leicht und gab die Karte zurück.
Cole stand ungeduldig da und verlagerte sein Gewicht von
einem Fuß auf den anderen, bis ihm der alte Mann in aller
Gemütsruhe die Schlüssel gebracht hatte. Nummer sieben.
Cole schnappte sich die Schlüssel und rannte zur Tür. Er hat-
te starke Schmerzen (ob Rippen angebrochen waren?) und seine
Lippe blutete wieder. Er suchte die Zimmernummern ab, bis er
die Sieben fand, und drehte hastig den Schlüssel im Schloss. Es
schnappte beim ersten Versuch auf und er seufzte erleichtert,
als er die Tür aufstieß. Er stürmte in das muffige, finstere Zim-
mer und ließ den Schlüssel an der offenen Tür baumeln. Ziel-
strebig hastete er zum Fernseher, schob säuberlich seine Inter-
cash-Karte in den Schlitz, und der Apparat ging an.
»City!«, schrie Cole ihn an. »Los, sprich mit mir!«
Ein leerer Bildschirm summte wie zur Antwort.
»Ich weiß, dass du mich hörst!«, schrie Cole. »Gottver-
dammtnochmal, mach schon!«
Das blauweiße Rechteck flackerte verlockend. Aber ... nichts.
»City! Melde dich und rede mit mir, oder ich verlasse die
Stadt! Ich hau ab und erzähl alles dem nächstbesten Nachrich-
tenmagazin!«
Cole wartete.
Nichts.
Er schaltete durch die Kanäle. Nachrichten, Pornos, Game-
shows, XY Todesurteil, Die SM-Kinderstunden mit James Bon-
dage kein City weit und breit. Er schaltete wieder auf den
unbelegten Kanal.
Catz.
Cole wartete mit geballten Fäusten und überlegte, wohin sie
verschleppt worden war. In der Ferne hörte er Feuerwehrsire-
nen, die sich dem brennenden Haus drei Blocks weiter nördlich
näherten.
Cole stand schwankend da, angespannt und gebeutelt wie
eine Fernsehantenne im Sturm.
»City!«, heulte Cole. Er wurde langsam heiser.
Und dann erschien eine zweidimensionale Büste auf dem
Bildschirm, die Gesichtszüge mürrisch und hart.
»City ... warum hast du sie nicht rausgeholt? Warum hast du
den Wagen nicht aufgehalten?«
»Ich habe beschlossen, die Dienste der Frau nicht mehr in
Anspruch zu nehmen.«
»Was? Warum?«
»Sie ist illoyal.«
»Bist du was? Sie hat mich überredet, das durchzuziehen!
Sie hat alles getan, was du von ihr verlangt «
»Nein ... ich kann sie in mir spüren. Was sie denkt. Sie miss-
traut mir. Sie hat sich nur deinetwegen darauf eingelassen. Sie
ist der Meinung, dass sie dich beschützt. Ich möchte nicht, dass
sie dich länger begleitet. Ich kann dich beschützen.«
»Sie beschützt mich? Wovor?«
City antwortete nicht.
»Los, hol sie raus«, stieß Cole zwischen zusammengebissen
Zähnen hervor.
»Nein.«
Cole fiel die Kinnlade herunter. Verständnislos starrte er den
Bildschirm an. »Nein«, wiederholte er und schüttelte den Kopf.
»Nein? Hör zu, du musst, äh, ihre Dienste nicht mehr in An-
spruch nehmen. Sorg einfach dafür, dass sie da lebend raus-
kommt und lass sie ... lass sie gehen.«
»Das kann ich nicht. Mir fehlt im Augenblick die Kraft dazu.
Ich habe heute Nacht zu viel Kraft verbraucht. Ich bin
schwach.«
Dann war das Bild verschwunden.
»Du Lügner. Verdammter, dreckiger Lügner«, sagte Cole zu
dem leeren Bildschirm. Er drehte sich um, ging hinaus und
suchte sich eine Telefonzelle. Und rief ein Taxi.
Cole wartete jedoch bis zum nächsten Tag, bevor er seinen
nächsten Schritt tat. Er war die ganze Nacht in seiner Wohnung
auf und ab gegangen und hatte eine Zigarette nach der anderen
geraucht, bis sein Mund wie ein Dieselschlot roch und das
Zimmer hinter den Schwaden versank. Ein halbes Dutzend Mal
war er zum Telefon gerannt, um Bill anzurufen, wollte ein paar
starke Jungs anheuern und Catz befreien. Jedes Mal ging er hin
und ließ die Finger mechanisch über die Tasten gleiten. Sowie
es am anderen Ende klingelte, unterbrach er die Verbindung.
Denn wenn City wirklich entschlossen war, Catz aus dem Spiel
zu halten, würde er vielleicht auch Cole daran hindern, sie zu
finden. Zumindest nachts.
Tagsüber konnte City ihn nicht aufhalten.
»Vielleicht sind sie gerade mit ihr zugange«, murmelte Cole
vor sich hin. »Schlagen sie.«
Um zwei Uhr morgens flüsterte er: »Vielleicht wird sie gera-
de geschlagen und vergewaltigt.«
Um drei ereiferte er sich: »Vielleicht wird sie gerade aufge-
schlitzt.« Seine Stimme war deutlich höher als bisher.
Um vier Uhr weinte er.
Um fünf fing er an zu trinken. Cole trank nicht oft, doch
wenn er trank, dann erbittert. Erbittert der Ausdruck war
angebracht: Er trank stets aus Wut über jemanden. Als könnte
es seine Feinde tatsächlich aus der materiellen Welt radieren,
wenn er sich betäubte.
Um sieben torkelte er und ihm war übel. Trotzdem versuchte
er noch einen Gin Tonic runterzuwürgen. Er schaffte es nicht
mehr zum Klo, also erbrach er sich in die Spüle.
Zitternd beugte er sich über das besudelte Geschirr, hustete
ihren Namen und dachte: Himmel hilf, ich bin verliebt in sie.
Nach einiger Zeit war sein Kopf wieder so weit klar, dass er
sich Kaffee machen konnte. Seine Hände zitterten und er ver-
brannte sich an dem heißen Wasser, das aus dem Topf
schwappte. Er trank vier Tassen Kaffee. Er hob den Arm und
verzog das Gesicht, als die Nervenschmerzen hindurchjagten.
Der Kampf des Koffeins mit dem Alkohol verursachte Kopf-
weh, das wie die Glocke bei einem Preiskampf dröhnte. Hastig
zog er sich um, wusch sich und tupfte vorsichtig die Schnittver-
letzungen in seinem Gesicht ab. Nach dem ersten Blinzeln
versuchte er jeden weiteren Blick in den Spiegel zu vermeiden.
Dann rief er Salmon an.
»Mister Salmon möchte gern sehen, mit wem er spricht«,
sagte die Sekretärin. Eine körperlose Stimme. Es klang nach
einer alten Frau.
»Entschuldigung. Äh mein Bildschirm hat den Geist aufge-
geben, in beide Richtungen. Mister Salmon kennt den Grund.
Ich kann ihn auch nicht sehen, wenn Sie das beruhigt. Sagen Sie
ihm doch bitte, dass Stu Cole dran ist und es um die Jungs beim
Konzert geht.« Sie ließen ihn zwanzig Minuten in der Warte-
schleife.
Vielleicht sind sie schon hierher unterwegs, dachte er. Er hatte
eine Pistole im Schrank versteckt, in einem Schuhkarton auf
dem Boden.
Er ging ans Fenster. Die Straße sah aus wie immer. Die Pla-
kate an den Ziegelmauern überlappten einander wie die Aufnä-
her auf der Tasche eines Weltenbummlers. Auf einer Straßen-
seite spielten mexikanische Kinder, und eine Gruppe schwarzer
Jugendlicher schlenderte singend vorbei.
Ein Zuhälter stand mit einem Kunden neben der Intercash-
Kabine an der Ecke.
»Ja? Cole?«, drang Salmons Stimme aus dem Telefon.
Cole wandte sich vom Fenster ab und rannte zum Apparat
zurück. Aus Gewohnheit starrte er während des Gesprächs auf
den Bildschirm, obwohl er leer war. »Salmon? Hören Sie zu, Sie
kennen mich nicht jedenfalls sind wir uns noch nicht begeg-
net, aber «
»Ich weiß, wer Sie sind. Was zum Teufel wollen Sie?«
»Ich weiß, für wen Sie arbeiten und für wen die Vigilanten
arbeiten. Und die halten jemanden fest und ich glaube, Sie
wissen inzwischen, von wem ich rede.« Ganz beiläufig regi-
strierte Cole, dass jemand die Treppe des Wohnhauses herauf-
kam.
»Sie ticken nicht ganz richtig, Freundchen. Wir stellen Er-
mittlungen über die Vigilanten an und ich kann Ihnen versi-
chern, dass wir bald «
»Hey, hören Sie mit dem Theater auf!«, brüllte Cole. Mit je-
der Silbe stach eine Nadel in seine Schläfen.
Einen Augenblick herrschte Stille. »Salmon? Hallo? Sind Sie
noch dran?«
»Ja ... Hören Sie, Mr. Cole, wenn Sie mir erklären würden,
was Sie von mir wollen, will ich mich gern «
»Hey, versuchen Sie nicht, mich zu verarschen. Wenn Sie
glauben «, Cole hielt inne und lauschte auf die Schritte, die die
Treppe heraufdonnerten. Er hörte jetzt etliche Füße, die sich
mit ungewöhnlicher Eile bewegten.
»Salmon, du Schweinepriester!«, brüllte Cole den Bildschirm
an und rannte zum Schrank. Er riss die Schranktür auf, als
jemand die Wohnungstür eintrat. Das Schloss gab nach, doch
etwas klapperte und jemand fluchte, also schien die Kette zu
halten. Es krachte erneut, als noch einmal gegen die Tür getre-
ten wurde. Cole wühlte im Schuhkarton auf dem Boden des
Schrankes ... fand die Pistole und brachte sie gerade in An-
schlag, als sich der Mann mit der Strumpfmaske über dem
Gesicht ihm zuwandte, von den Fotos der Stadt an der Wohn-
zimmerwand eingerahmt.
Cole und der Eindringling hatten beide eine Waffe in der
Hand.
Doch Cole hielt seine im Anschlag, während sein Gegenüber
die Hand noch an seiner rechten Seite hatte.
»Ich kann damit umgehen«, log Cole, »und ich habe Ihre
Brust genau im Visier. Also keine Bewegung. Und wenn Ihre
Freunde reinkommen, erschieße ich Sie.« Die angedeutete
Bewegung hinter dem Mann hörte auf.
Der Mann erstarrte. Das maskierte Gesicht reckte Cole seine
Augenhöhlen entgegen.
»Hören Sie äh « Cole hoffte, der Mann würde nicht be-
merken, dass seine Hand zitterte. Ȁh ich kann eine Hypo-
thek auf den Club aufnehmen, einen Kredit zusammenkratzen,
wir handeln was aus. Was sagen Sie dazu? Für wen Sie auch
arbeiten, sagen Sie ihm, äh sagen Sie ihnen, dass ich zahle,
wenn Sie sie laufen lassen.«
»Warum gehen Sie nicht zur Polizei?« Die verzerrten Lippen
bewegten sich wie Nacktschnecken unter dem rosafarbenen
Gewebe.
»Sehr witzig«, sagte Cole und verzog vor Kopfschmerzen das
Gesicht. »Sie haben die Bullen doch in der Tasche.«
»So groß ist Ihre Kreditwürdigkeit nicht, dass wir riskieren
können, sie am Leben zu lassen. Wir haben darüber nachge-
dacht. Jemand weiter oben wird heute Abend ein ernstes Ge-
spräch mit ihr führen, und dann schicken wir sie Ihnen per Post
zurück. In vier Zustellungen.«
Hinter dem Mann lachte jemand. Er richtete sich auf, als ha-
be ihn das ermutigt, und verstärkte seinen Griff um die Waffe
an seinem rechten Hosenbein.
Ich sollte ihn umbringen, dachte Cole. Aber wie oft werde ich
damit noch ungeschoren davonkommen?
»Sagen Sie mir, wo sie ist, und ich drücke nicht ab. Das ist
alles«, fauchte er.
»Warum holen Sie sie nicht ab? Sie ist noch genau da, wo Sie
sie zuletzt gesehen haben.«
»Ich habe sie zuletzt auf der Straße gesehen. In einem Au-
to.« Coles Arm schmerzte zunehmend vom Gewicht der Pistole.
Er hielt die Waffe mit beiden Händen, die Arme starr durchge-
streckt.
»Die Feuerwehr ist sofort gekommen. Die Wache ist ganz in
der Nähe. So schlimm war das Feuer gar nicht. Die hintere
Haushälfte ist völlig in Ordnung. Wir haben da noch einiges
rumliegen, also sind wir gleich wieder hin. Sie ist dort ... Wir
sind abgehauen, bevor die Oaklander Polizei eingetrudelt ist,
und fünf Minuten, nachdem sie weg waren, sind wir wieder
zurück. So einfach ist das.«
»Die Polizei von Oakland steht also nicht auf Ihrer Gehaltsli-
ste?«, fragte Cole beiläufig.
»Idiot!«, zischte jemand.
Interessante Information. Könnte nützlich werden: Keine
Verbindungen zu den Oaklander Bullen. Aber warum trafen sie
sich dann in Oakland? Vielleicht war es den Bewohnern der
Slums von Oakland gleich, was ihre Nachbarn trieben.
»Na gut«, sagte Cole. »Gehen Sie langsam rückwärts in den
Flur; lassen Sie erst Ihre Waffe fallen.« Die Waffe fiel zu Boden
und der Vigilant schob sich langsam rückwärts um die Wand
zum Treppenhaus herum. »Oben warten Freunde von mir, und
sie sind bewaffnet!«, schrie Cole, er log. »Macht, dass Ihr aus
dem Haus rauskommt!«
Er lauschte auf ihre Schritte, während sie die Treppen hinab-
stiegen. Er wusste, dass sie nicht weit gehen würden.
Als er sicher war, dass sie sein Stockwerk verlassen hatten,
stieg er durch ein nach hinten gelegenes Fenster hinaus, die
Feuertreppe hinunter in eine umfriedete Gasse und durch ein
eingeschlagenes Fenster in ein leer stehendes Gebäude. Er
trampelte im Halbdunkel durch die Abfälle, bis er einen Aus-
gang zur Straße gefunden hatte, dessen Tür nur noch zur Hälfte
in ihren Angeln hing. Dann war er auf der Straße und rannte
los.
FÜÜÜ-hünf!
Schnell. Er borgte sich Bills Auto und fuhr wie ein Ver-
rückter durch den Regen, die aalglatten Straßen waren ihm
gleichgültig bis zum Wahnwitz.
Der Regen hatte zwei Minuten, nachdem er seine Wohnung
verlassen hatte, angefangen. Nass bis auf die Haut hatte er
seinen benommenen, zerzausten Verwalter geweckt und kur-
zerhand seine Autoschlüssel verlangt. Bill war zu müde, um
Fragen zu stellen.
Cole rutschte unbehaglich auf dem Vinylsitz herum. Er hatte
einen nassen Hintern und sein Hemd klebte ihm am Rücken.
Die Heizung im Chevy tickte vor sich hin, die Fenster waren
geschlossen. Das Regenwasser in seinen Kleidern schlug sich
langsam an den Fenstern nieder und verwandelte das Innere des
Wagens in ein Treibhaus. Er konnte seine nassen Haare riechen
und die alten Zigaretten im Aschenbecher. Der faulige Nachge-
schmack von Zigaretten belegte seine Zunge. Seine Kopf-
schmerzen ließen nach; ein bösartiges Brennen im Magen hatte
sie abgelöst.
Die Straßen glänzten gleichmäßig nass wie schwarzes Glas.
Etwas Membranartiges, Organisches lag in ihrem Glanz.
Der heruntergekommene zweitürige Wagen fuhr grollend
auf die Zufahrtsrampe der Autobahn. Seine zerbeulte Motor-
haube zerrte immer wieder an dem Stück Draht, das den Ver-
schluss zusammenhielt. Cole wechselte von einer Spur auf die
andere, die Augen auf der elektronischen Steuerungsarmatur,
die aufleuchtete, sobald er auf die Autobahn gefahren war. In
der City selbst waren die Verkehrsleitsysteme noch nicht instal-
liert, und weniger als die Hälfte der Autos auf den Straßen
verfügten über eine entsprechende Ausrüstung, also konnte
jeder selbst entscheiden, ob er sie einschaltete. Cole hatte viel zu
wenig geschlafen und war müde. Seine Augen brannten und er
beschloss, bis Oakland das Leitsystem zu nutzen. Er schaltete es
ein, lehnte sich zurück und überließ das Lenkrad sich selbst. Es
fiel ihm immer noch schwer, sich daran zu gewöhnen, dass es
sich ohne sein Zutun bewegte, dass sich das Bremspedal senkte,
um sich der Geschwindigkeit eines Wagens anzupassen, der vor
ihm langsamer wurde ...
Der Wagen klapperte auf die Brücke. An diesem nassen,
windigen Morgen glich das Meer jenseits der Bay Bridge einer
riesigen Fläche sich kräuselnder Jade. Es schien viel zu alt und
allumfassend, als dass es von dem Brückenbogen hätte gebannt
werden können. Das Meer schien auf das unvermeidliche
Erdbeben zu warten, es würde zu guter Letzt über die Kunstgrif-
fe der Zivilisation lachen.
Cole blickte über seine Schulter. Die City erhob ihre perl-
muttfarbenen Türme über einen Nebelschleier, aus dieser
geheimnisvollen Perspektive glichen sie dem spitzen Schutzwall
einer exotischen fremden Stadt. Cole verspürte einen Stich im
Herzen, als er den Zahn des Pyramid Building aufragen sah; er
musste an den Mann denken, der dort auf dem Boden seine
letzten Zuckungen getan hatte.
Cole lehnte sich zurück und betrachtete das näher kommen-
de Durcheinander von Berkeley und Oakland. Seine Hand
ruhte auf dem Griff der Waffe in seiner Manteltasche. »Und was
hast du vor?«, fragte er sich. »Willst du ihnen androhen, sie alle
zu erschießen? Aber wer hätte mich begleiten und mir helfen
sollen? Vielleicht die Polizei von Oakland ... aber nein, ich
müsste erst alles erklären ... trotzdem, wenn das die einzige
Möglichkeit ist, sie rauszuholen ...«
Der Motor des Wagens hustete einmal laut, als wollte er sa-
gen: Hör auf, Selbstgespräche zu führen, Cole, das ist mir pein-
lich.
»Sonst hab ich ja niemanden«, sagte Cole.
Selbstgespräche sind eine schlechte Angewohnheit, erwiderte
das Auto grollend und surrend, warum redest du nicht mit mir?
»O Scheiße!«, sagte Cole. Seine Müdigkeit ließ ihn fast hallu-
zinieren. Außerdem er machte sich Sorgen um Catz und
versuchte zu verarbeiten, was er gesehen hatte. Die ermordeten
Männer. Damit klarzukommen brachte ihn bis an eine be-
stimmte Grenze, eine Grenze, die er nicht mehr gespürt hatte,
seit er als junger Mann eine Überdosis Drogen genommen
hatte.
O Scheiße, ich möchte nicht verrückt werden, dachte Cole.
Doch dann kam ihm der Gedanke, dass er sich das alles viel-
leicht nicht nur einbildete. City konnte ihn tagsüber nicht
aufhalten, aber er konnte mit ihm Kontakt aufnehmen. Ein
Auto ist schließlich nur ein beweglicher Teil der Stadt, wie ein
Blutkörperchen in den Venen eines Menschen. Und durch das
Auto ... Dann rede halt mit mir.
»Nein«, sagte Cole und musste dann über sich selbst lachen.
Entspann dich. Überdenk noch mal, was du gerade tust,
sprach das Flüstern des Windes, der über das Auto hinweg
rauschte, sprach das Schlagen der Kolben.
Ist das eine Halluzination oder ist das City? fragte sich Cole.
Oder beides?
Das Auto hatte ihn verschluckt. Trug ihn gegen seinen Wil-
len davon. Trug ihn in seinem Bauch in irgendeine öde unterir-
dische Garage, wo er eine zementierte Ewigkeit verbringen
würde. Das Auto verfügte über einen eigenen Willen das
Lenkrad bewegte sich selbsttätig. Er saß in der Falle, verschmolz
mit dem Vinylsitz, die Fenster schlossen sich um ihn
Mit einem wütenden Knurren richtete sich Cole ganz auf
und schüttelte sich. Er kurbelte das Fenster herunter und ließ
sich den kalten Wind ins Gesicht wehen. Mit einem Schauer fiel
die Verwirrung von ihm ab. Er kurbelte das Fenster wieder
hoch, ließ es aber einen Spalt offen und schaltete zur Ablenkung
das Radio ein. Das Gerät kreischte in einer Vielzahl höllischer
Stimmen, bis er einen Nachrichtensender gefunden hatte: » ...
zu diesem Zeitpunkt ist es nicht nur logisch, sondern geradezu
unvermeidlich, dass die Postdienste zu einhundert Prozent auf
elektronische Übertragung aller Schriftstücke umstellen, Pa-
ketsendungen ausgeschlossen. Die gegenwärtigen sechzig
Prozent reichen nicht aus. Einheitlichkeit bedeutet Zweckdien-
lichkeit, und wir können schließlich nicht erwarten, dass ein
geteiltes postalisches System ordentlich funktioniert. Entspre-
chend ist es notwendig, jeden Haushalt, der Post erhalten
möchte, zur Installation eines Datenempfangsterminals zu
verpflichten. Die Vorteile überwiegen gegenüber den Nachtei-
len bei weitem. Einen Brief bei sich zu Hause zu tippen, der
unmittelbar übertragen wird entweder während der Eingabe
oder als Ganzes, je nach «
Cole drehte weiter. »Keine richtige Post mehr, was?«, mur-
melte er, während er die Sender durchprobierte. »Verdammt,
ich mache gerne Briefe auf.«
Während er die UKW-Skala entlangglitt, stieß er auf den
Satz: » ... Vigilanten, die vermeintlich ...«, und drehte so lange
hin und her, bis er diesen Sender wieder gefunden hatte. »Doch
wenn diese Männer und Frauen nicht im öffentlichen Dienst
stehen und es hat sich gezeigt, dass sie weit schlimmer sind als
die Retter der Enterbten, für die wir sie halten sollen wer
steckt dann hinter ihnen? Gestern Abend sind sie auf einem
Rockkonzert aufgetaucht, wo es ein Blutbad gegeben hat, das
muss einem doch zu denken geben. Ich als Journalist nehme
ihnen die Rechtfertigung einfach nicht ab, die sie anonym und
auf Band bei der Polizei hinterlassen haben, dass das Konzert
ein >Brennpunkt der Schäbigkeit und Korruption< gewesen sei.
Ziemlich müde Ausrede! Da scheint die Information eher von
Bedeutung, dass die Band First Tongue sich geweigert hat, der
Rockmusiker-Gewerkschaft beizutreten, von der jedes Kind
weiß, dass das organisierte Verbrechen hinter ihr steckt. Sind
die Vigilanten also ein Zweig der Mafia?«
»Sag bloß, du Wichser«, bemerkte Cole.
Als der Wagen die Autobahn verließ, machte er das Radio
aus. Das Auto würde rechts ran fahren, wenn er nicht selbst
lenkte. Er befand sich wieder in einem Gebiet ohne Verkehrs-
leitsystem. Cole schaltete die Elektronik ab und übernahm das
Steuer.
Er fuhr ein, zwei Kilometer und kaute auf seiner Lippe her-
um, trotz des schmerzenden Risses. Als er sich der Kreuzung
näherte, wo er zum Haus der Vigilanten abbiegen musste,
nahmen die Schmerzen seiner Verletzungen langsam zu, als
wollten sie ihn warnen. »Psychosomatisch«, beruhigte er sich.
Die nächste Seitenstraße. Er bog ab. Er hörte sich selbst keu-
chen. Er hatte die linke Hand am Lenkrad und die Rechte in der
Manteltasche, auf der selbstgefälligen Schwellung des Pistolen-
griffs.
Der größte Teil der Bevölkerung von Oakland war schwarz;
Reklametafeln an Siedlungsbauvorhaben und Mietskasernen
zeigten lächelnde schwarze Menschen, die ziemlich bürgerlich
aussahen, sich gemeinsam eine Zigarette oder einen hundert-
prozentigen St. Ides gönnten oder in einer Disco tanzten. Einige
neuere Werbetafeln wurden von Glasscheiben bedeckt, unter
denen sich die Holos fröhlicher junger Schwarzer zur Musik des
beworbenen Radiosenders bewegten.
Schwarze Gesichter, weniger gut gelaunt als ihre riesigen
Konterfeis auf den Reklametafeln über ihren Köpfen, betrachte-
ten ihn mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen, starr-
ten einzeln aus Fenstern oder standen in Gruppen vor Schnaps-
läden herum. Cole fuhr an zwei verlassenen evangelischen
Kirchen Marke Eigenbau vorbei, der HEILIGEN KIRCHE
UNSERES HERRN JESUS CHRISTUS IM GEBETE und der
HARDCORE KIRCHE JESU DES GESEGNETEN HERRN.
Cole lächelte. Das Lächeln verzog sich zu einer Grimasse, als er
das Hotel entdeckte, in dem er mit City gesprochen hatte. »City
...« flüsterte er. »Schlaf ... oder hilf mir.«
Und dann sah er das Haus. Zwei schwarze Jungs mit künst-
lich geglätteten Haaren standen auf dem aufgerissenen Gehweg
und betrachteten die geschwärzte Vorderseite des einstöckigen
Hauses, die jämmerlichen Fensterhöhlen. Cole fuhr an dem
Haus vorbei. Sein Herz schlug schneller als die Kolben des
Chevy. Zwei Wohnblocks weiter fuhr er vor einem weiteren
Schnapsladen rechts ran. Sie ist dort drin, dachte er fieberhaft.
Ich bin in ihrer Nähe.
Er blieb zitternd im Wagen sitzen.
Schnell, dachte er. Mach schon.
Und schon stieg er aus dem Auto, die Hand auf der Pistole in
seiner Tasche, knallte mit der linken Hand die Tür zu und
wandte sich zum Haus.
Was konnte er tun? Aber er lief weiter, den feuchten Schatten
eines zerfallenen Hotels entlang. Vielleicht konnte er der Polizei
sagen, dass sich das Opfer einer Entführung dort drin befand
nein, sie würden Catz beim ersten Anzeichen eines Polizeiein-
satzes wegschaffen.
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich von der Seite oder
von hinten hineinzuschleichen, jemanden zu packen, ihm die
Waffe an den Kopf zu halten und im Austausch Catz zu verlan-
gen. Im Fernsehen funktionierte so etwas.
Selbstmord. Aber er lief weiter.
Als er noch zehn Meter weit weg war, blieb er stehen. Er sah
etwas Seltsames in einem schmalen, mit Scherben übersäten
Durchgang zwischen zwei hohen Wohnhäusern. Er starrte hin.
Er starrte sich selbst an, und Cole lächelte zurück.
Die Gestalt trug andere Kleider, aber er war es, eindeutig ...
mit Ausnahme des seltsamen Gesichtsausdrucks. Der Begriff
Doppelgänger drängte sich auf. Cole sah sich um, die Straße rauf
und runter. Niemand sah zu. Er trat in den schmalen Durch-
gang. Sein Blick klebte an dem, was er sah, als ob er erwartete,
dass es jeden Augenblick wie ein Trugbild verschwinden würde.
Cole ging vorsichtig darauf zu und stieg über Haufen aus
Hundescheiße und nasser Pappe. Zwei Meter vor der Erschei-
nung blieb er stehen. Sie verschwand nicht. Sie lächelte ihm zu,
als würde ihr das Spaß machen. Aus dieser Entfernung konnte
er durch sie hindurchsehen. Sie war durchsichtig, wie ein
schlechtes Hologramm.
»Und ich dachte, den Scheiß hätte ich schon im Auto abge-
schüttelt, als ich das Fenster aufgemacht habe«, sagte Cole. Aber
er hatte nicht das Gefühl, als stünde er einer Halluzination
gegenüber. Das Ding stand direkt vor ihm, verschwommen,
aber unerschütterlich, ebenso Teil der Stadt wie der Rauch aus
einem Schornstein.
Das Gespenst (denn so nannte er es in Gedanken) lachte. Co-
le hatte den Eindruck, es lachte herzhaft, doch die Stimme
fraglos seine eigene drang nur als heiseres Flüstern zu ihm:
»Cole, alter Junge, du solltest dein Gesicht sehen. Aber natür-
lich wirst du das, wenn unsere Perspektiven gewechselt haben.«
Das Ding lachte wie verrückt. Cole streckte seine Hand aus
und wischte die abblätternde Farbe von der Holzwand neben
sich, um mit etwas Greifbarem in Kontakt zu kommen. Wenn es
eine Halluzination ist, dachte er, dann erscheint es, egal wohin
ich schaue. Also drehte er sich um, starrte an eine grau gestri-
chene Wand und hielt in den staubigen Bogenmustern Aus-
schau nach seinem Spiegelbild. Die Gestalt zeigte sich dort
nicht. Als er sich umdrehte, war sie wieder da. Und nur dort. In
diesem Augenblick überkam Cole ein plötzliches Gefühl von
Déjà-vu, das im Abklingen seine Zweifel hinwegwischte. Plötz-
lich schien alles richtig und angemessen. Unausweichlich.
»Es ist seltsam«, sagte der durchsichtige Cole, mit einer Hand
am Kragen. »Aber ich kann mich an alles erinnern, was du
gerade denkst wie du an die Wand geschaut hast, um heraus-
zufinden, ob ich dort auch auftauche, und das Déjà-vu. Ich habe
eher das Gefühl, ich erlebe das alles selbst, im Nachhinein, aber
aber aus einer geringen Distanz, wie in einem Traum. Verstehst
du?«
Cole nickte benommen. Er verstand.
»Ich kann mich sogar«, fuhr sein Doppelgänger fort, »an das
erinnern, was ich jetzt zu dir sage ich höre es in einer Art Prä-
Echo, bevor ich es sage. Was irgendwie seltsam ist, schließlich
spreche ich gerade genau darüber ... ich meine ...« Er kicherte,
mit weit aufgerissenen Augen, mindestens halb wahnsinnig.
»Ich meine ... ich weiß, was ich genau jetzt sagen würde,
schließlich habe ich es kurz vorher aus deiner Perspektive erlebt
... als ich mich angeschaut habe, aus der Perspektive, aus der du
das jetzt erlebst, und ich kurz vor nun, bevor ich hier auf dich
gestoßen bin, um dich zu warnen, habe ich versucht, absichtlich
etwas anderes zu sagen als das, was ich jetzt sage, aber ich sage
eben doch nur >habe ich versucht, absichtlich etwas anderes zu
sagen, als das, was ich jetzt sage<, was ich eigentlich anders
sagen wollte, schließlich wusste ich, da ich aus deiner Perspekti-
ve bereits gehört habe, was ich sagen würde ich meine, das ist
ein ziemlich seltsamer und verrückter Zirkel, oder etwa nicht?
Herrlich abgefuckt. Aber du bist nicht verrückt, Cole; es gibt
mich wirklich. Ich besitze sogar, äh, Substanz allerdings nicht
in deiner Welt. Verstehst du, Mann, in deiner Welt existiere ich
nur teilweise. Hier gibt es mich wirklich, in der Dimension der
quintessentiellen städtischen Existenz, aber aus deiner «
»Du hast etwas von einer Warnung gesagt?«
»Oh, ja ich erinnere mich, dass du mich das gefragt hast.
Will sagen, ich kann mich daran erinnern, als ich als wir als
ich du war und ungeduldig geworden bin und mich das gefragt
habe «
»Hör auf damit!«, sagte Cole.
»Genau das hast du gesagt!« Die Erscheinung kicherte. »>Hör
auf damit!<, hast du gesagt! Genau, direkt nachdem ich >und
ungeduldig geworden bin und mich das gefragt habe< gesagt
habe «
»Hör zu«, sagte Cole verzweifelt. Er wurde von einem Déjà-
vu-Anfall nach dem anderen überrollt. »Bitte sag mir, was die
Warnung «
Aber irgendwie war, als das Gespenst jetzt nickte und ihm
endlich die Botschaft überbrachte, die zu überbringen es ge-
kommen war, jedes einzelne Wort dieser Botschaft schon
vertraut und er hatte es erwartet, und ihm wurde alles klar:
»Cole geh nicht in das Haus. Ich bin hier, um dir das zu
sagen. Du stehst an einem Scheideweg in der Zeit und ich muss
dir den richtigen Weg weisen. Was mir ziemlich komisch
vorkommt, denn ich habe das alles schon mitgemacht, als ich
du war, und ich weiß, für welchen Weg du dich entscheiden
wirst ... aber schließlich habe ich mich für diese Abzweigung
entschieden, eben jene Möglichkeit, denn ich habe dir diese
Warnung überbracht. Ich. Du? Herrlich abgefuckt, dieses
Paradox. >Paradox< ist, glaube ich, das richtige Wort ...«
»Aber, vom Risiko einmal abgesehen ... warum soll ich nicht
in das Haus der Vigs gehen?«, forschte Cole und betrachtete mit
zunehmendem Entsetzen den verzerrten, kindlichen Ausdruck
auf seinem Gesicht. Seinem toten Gesicht?
»Weil ha-hihi! äh. Nun, denk mal darüber nach (auch
daran kann ich mich erinnern): Heute Morgen warst du müde;
sonst hättest du dich gewundert, warum die Vigilanten so
schnell mit der Information rausgerückt sind, wo Catz sich
befinden soll. Offensichtlich wollte man, dass du hierher
kommst. Ein derartiges Risiko gehen die nicht ein, Dummkopf.
Sie haben ihr Hauptquartier verlegt, an drei unterschiedliche
Orte genau genommen. Dort drin sitzen drei Männer mit
Waffen und warten auf dich. Sie wollen dich umbringen.«
Cole war nicht überrascht. Idiot, dachte er. »Aber gottver-
dammt noch mal, wo steckt Catz? Und was geschieht mit uns?
Wie bin ich zu dir geworden? Und überhaupt «
»Hör zu, ich werde dir sagen, wo Catz ist«, unterbrach ihn
das Gespenst grinsend. »Aber den ganzen Rest nicht, weil ich
das nicht getan habe, als du ich warst. Ich weiß noch, dass ich es
nicht getan habe, also kann ich es jetzt auch nicht. Ist das nicht
herrlich «
»Wo zur Hölle steckt sie dann?«
»In Berkeley, vierunddreißigzweiundzwanzig auf der Vier-
ten, gleich an der Universität. Mit vier dieser Typen, die Karten
spielen. Sie haben sie in einen Schrank gesperrt. Sie erwarten
dich nicht, aber sie sind bewaffnet. Ich würde dir ja sagen, du
sollst Hilfe holen, aber das wirst du nicht, soweit ich mich
erinnern kann, weil du verzweifelt bist, oh, aber das kann ich dir
nicht erzählen, denn «
Cole wandte sich den Rücken zu und rannte aus der Gasse,
als das Gespenst ihm hinterher rief:
»Ich wusste, dass du weglaufen würdest, nachdem ich >aber
das kann ich dir nicht erzählen, denn < gesagt habe ...«
Er rannte zum Auto zurück.
Er fuhr so schnell er konnte, ohne sich umzubringen, und
zog die Aufmerksamkeit eines Streifenwagens auf sich, den er
wieder abhängte, als er die Ausfahrt Berkeley hinunterfuhr. Er
raste wild drauflos, hupte ununterbrochen, um Fußgänger zu
warnen und nahm Abkürzungen durch die Seitenstraßen der
Wohnviertel.
Er schoss eine Schotterstraße entlang und verfehlte nur
knapp einen Jungen auf einem Fahrrad, der den Lenker herum-
riss und gegen einen Zaum prallte. Cole fuhr mit quietschenden
Reifen weiter, bog in die University ein. An der Dritten über-
fuhr er eine rote Ampel, bog ohne zu blinken in die Vierte,
donnerte die ruhige Straße mit 70 Sachen hinauf und suchte die
Hausnummern ab. Er fuhr so schnell, damit ihn seine Angst
nicht einholen konnte. Er hatte Angst vor der Tragweite dessen,
was passiert war; hatte Angst vor seiner eigenen Wut.
Schnell.
Dann sah er das Haus: rot eingefasster Stuck, pseudospani-
scher Stil, mit einem braunen Rasen, der von Eukalyptusbäu-
men begrenzt wurde. Ein blauer Buick stand in der Einfahrt. Er
trat auf die Bremse, sparte sich aber das Einparken und ließ den
Wagen mit laufendem Motor mitten auf der Straße stehen. Er
hatte Angst, innezuhalten und nachzudenken, also sprang er
aus dem Auto und stürmte über die Straße auf das Haus zu.
Hier schien die Sonne und die Wärme der Photonen leckte
seine kahle Stelle. Es roch nach Eukalyptus und gebratenen
Hamburgern.
Schnell.
Er rannte um das Haus herum und hoffte, dass niemand aus
dem Fenster sah. Ein öder Hinterhof mit dem rostenden Wrack
eines alten VW in einer schiefen Holzgarage. Vergiss das, mach
schon. Beeil dich.
Er rannte die Stufen zur hinteren Veranda hoch. Der Beton
dämpfte seine Schritte, doch als er die Hintertür eintrat, krachte
es durchdringend wie ein Gewehrschuss. Er zerrte die Pistole
aus der Tasche (das hättest du schon vorher tun können, Idiot)
und schaute wütend um sich. Jemand blickte gerade vom Ofen
auf (der Mann schien sich äußerst langsam zu bewegen, so
schwerfällig wie eine Zeitlupenwiederholung beim Fußball als
hätte sich Cole in eine panische Eile hineingesteigert, bis er sich
in Zeitabschnitten bewegte und dachte, die merklich schneller
abliefen als bei anderen Menschen), und Cole stürzte auf ihn zu,
richtete die Waffe auf ihn und drückte ab. Fast im gleichen
Augenblick, als die Pistole losging und Cole war sich ganz
entfernt bewusst, dass der Mann schwankte und fiel, die Augen
nach innen verdreht, als starrten sie das Loch an, das die Kugel
zwischen sie gebohrt hatte , stürmte Cole bereits in das nächste
Zimmer und feuerte auf die drei Männer, die völlig überrascht
aufstanden, sich mit großer Langsamkeit bewegten, ihre Mün-
der formten Worte, die nicht mehr die Zeit fanden, ihre Kehlen
zu verlassen, ehe Cole sie erschoss. Er war so nah dran, dass er
sie schwerlich verfehlen konnte. Trotzdem wurde der Mann zu
seiner Linken nur in die Schulter getroffen. Während er zu
Boden ging, rollte er sich hinter ein schweres Holzregal und
grabschte unter der Jacke nach seiner Waffe. Und Cole wurde
von der Trägheit seiner eigenen Masse eingeholt. Er schien
langsamer zu werden, die Vigilanten schneller. Zwei von ihnen
starben und wanden sich in normalem Tempo, einer richtete
seine Waffe auf ihn. Cole warf sich nach links. Er konnte sich
nur noch mit großer Anstrengung bewegen, als wäre er von
Sirup umgeben. Als er auf dem Boden aufschlug, zerschmetterte
die Kugel des Vigs das Fenster hinter ihm. Cole war auf seinem
verletzten Arm gelandet und der Schmerz hinderte ihn daran,
seine Pistole richtig einzusetzen: Der Arm war fast nutzlos.
Jemand kam zur Vordertür herein. Sie öffnete sich und ließ
zwei kräftige Männer ein, der eine schwarz, der andere ein
dunkelhaariger Weißer mit Sonnenbrille. Sie zogen Waffen.
Die Schranktür sprang auf und Catz taumelte blinzelnd her-
aus; sie warf sich sofort auf eine der Schusswaffen, die neben
dem umgestoßenen Spieltisch lagen, von den Männern fallen
gelassen. Pulverdampf wehte durch den Raum, der Mann neben
dem Bücherregal feuerte erneut und verfehlte Cole ein zweites
Mal er konnte wegen seiner Verletzung nicht richtig zielen.
Cole versuchte angestrengt, seinen verletzten Arm unter Kon-
trolle zu bekommen und verlor erschöpft seine Pistole in dem
allgemeinen Durcheinander. Catz kniete auf dem Boden und
schoss auf ihn? Nein, schoss an seiner Schulter vorbei auf die
zwei Männer, die das Zimmer durchquerten. Und einer der
beiden feuerte einen Schuss ab, der das Holzregal durchschlug
und versehentlich den verletzten Vigilanten traf.
Revolverdetonationen erschütterten das Zimmer und die
zwei letzten Vigs gingen zu Boden. Einer mit einem Schuss im
Bein ließ fluchend seine Waffe fallen, rappelte sich halb auf
und hampelte auf dem gesunden Bein hastig zur Vordertür.
Cole starrte Catz an. Sie sah grausig aus. Blass, das Gesicht
blutverschmiert, mit einem blauen Auge und verfilzten Haaren,
die Hände noch immer um die Waffe geklammert, zitternd. Sie
kniete auf dem Boden, Schock und Schrecken und Triumph im
Gesicht, drei Gefühle binnen drei Sekunden. Dann ließ sie die
Waffe fallen. Cole krümmte sich vornüber, röchelte und er-
schauerte, als sich unvermittelt seine Anspannung löste.
Sie half ihm auf die Beine und zusammen stolperten sie zur
Hintertür hinaus, die Stufen hinab, in frischere Luft. Sie haste-
ten zum Auto. In der Nähe heulten Polizeisirenen; aus benach-
barten Eingängen schauten Leute mit zusammengekniffenen
Augen durch das greller werdende Sonnenlicht zu ihnen her-
über.
Cole stieg auf der Fahrerseite ein und ließ sich von Catz lang-
sam zur Seite drängen. Er fügte sich ihrer größeren Selbstbe-
herrschung: Sie übernahm das Steuer und er ließ sich gegen die
Beifahrertür sacken. Als sie losfuhr, döste er vor sich hin und
dachte müde: Herr im Himmel, hoffentlich schaffen wir es über
die Brücke und werden das Auto los, bevor die Bullen von einem
der Nachbarn das Kennzeichen bekommen.
Anscheinend wollte niemand bei der Polizei vorsingen. Sie
erreichten die Wohnung von Catz' Bassisten in San Francisco
ohne Schwierigkeiten. Er war für ein paar Tage nicht zu Hause.
Dort nahmen sie sich in die Arme und schliefen ein.
»Ich hatte schon seit Stunden an meinem Ausbruch gearbeitet.
Die Seile bin ich ohne Probleme losgeworden. Aber ich konnte
mich nicht entscheiden, wann ich die Tür eintreten sollte«,
sagte Catz. »Ich habe darauf gewartet, dass sie sich schlafen
legen.«
»Dachte ich mir«, sagte Cole. Bei dem Thema fühlte er sich
unwohl.
Sic saßen in einem Café an der Ecke. Die Sonne zitterte be-
harrlich über einem Wolkenkratzer; die City wartete beharrlich
auf den Einbruch der Nacht. Sie hatten auf einer klumpigen
Matratze in der Wohnung an der Castro fast den ganzen Tag
verschlafen und waren vor zwei Stunden beinahe gleichzeitig
aufgewacht. Sie lagen sich immer noch in den Armen. Bisher
waren sie sich noch nie körperlich näher gekommen. Und
während Catz zu Coles Überraschung an ihn gekuschelt
liegen blieb, war es ihm peinlich. Und ihm war der Arm einge-
schlafen. Aber als er jetzt daran zurückdachte, glühte er inner-
lich.
Sie hatten sich gewaschen, so gut wie möglich ihre Verlet-
zungen versorgt und Brötchen gefrühstückt. Dann waren sie
hierher gekommen.
Jetzt, im zunehmend bläulichen Licht, das durch das staubige
Schaufenster neben dem mit Tassen übersäten Holztisch fiel,
sah Catz' Profil zwar ramponiert, aber immer noch beeindruk-
kend aus. Sie saß da, die Ellbogen auf dem Tisch und ihr kanti-
ges Kinn auf die Hand gestützt. Ihre leicht schiefe Nase zeichne-
te sich scharf gegen die Schatten zu ihrer Linken ab, ihre tief
liegenden Augen waren nach innen gerichtet blaue Flecken
standen ihr, fand Cole, wie das theatralische Make-up eines
Angstrockers. Sie trug eine mattschwarze, kurze Jacke mit
breitem Revers. Ihre kleinen emporgerichteten Brüste waren
nackt.
Coles Augen verweilten auf den Narben auf ihren Brüsten.
Sie trug einen Ausdruck majestätischer Verachtung zur
Schau, und ihre schwarz lackierten Fingernägel und der
schwarze Lippenstift verliehen ihrer Haltung eine gewisse
Autorität.
Sie schwiegen bereits zu lange. Cole wurde sich eines wach-
senden Unbehagens zwischen ihnen bewusst. Er nahm einen
Schluck von seinem Cappuccino, damit er etwas zu tun hatte,
und versuchte so selbstbewusst und sorglos wie Catz zu wirken.
Er wollte nicht darüber sprechen, was heute Morgen geschehen
war. Aber ihm fiel nichts anderes ein, und etwas musste er
schließlich sagen. Egal was, Hauptsache, es lenkte sie von dem
Druck ab, der zunehmenden Erwartung, ehe zwischen ihnen
aufkam.
Gleich passiert etwas, dachte Cole.
»Ähm hey, weißt du was, ich kann mich nicht «, setzte er
an und stolperte über die Worte, »ich kann mich irgendwie
nicht nicht an die Gesichter der Kerle erinnern, die wir gese-
hen haben die heute Morgen ... sollte ich aber ich meine,
das waren die ersten, die wir ohne diese bescheuerten Masken
gesehen haben. Aber komisch, das war irgendwie, als ob ich
mich den ganzen Morgen darauf eingestellt hätte, immer
schneller und schneller wurde, als ich dich gesucht habe, und
dann glich alles einem einzigen verschwommenen Fleck. Ich
kann mich nicht an sie erinnern. Sie hätten genauso gut diese
Masken tragen können, ich sehe ihre Gesichter nur als ver-
schwommene pinkfarbene Flecken ... was irgendwie, ich weiß
nicht, gemein ist. Wenn man schon Leute «, er senkte seine
Stimme, »umbringt, sollte man wenigstens ihre Gesichter sehen.
Moralisch betrachtet «
»Das geht mir anders«, sagte sie und tat seine Schlussfolge-
rungen mit einem schwachen Kopfschütteln ab, ohne den Blick
von der Straße zu wenden. »Sie haben ihre Masken auf behal-
ten, bis sie mich verschnürt und die Nacht über in den Schrank
gesteckt haben. Also habe ich sie nie gesehen, und ich habe sie
mir nicht genau angeschaut, als wir ... heute Morgen. Ich will
aber gar nicht wissen, wie sie ausgesehen haben. Ich möchte
mich nicht daran erinnern.«
»Ich möchte nie wieder eine Schusswaffe anfassen«, sagte
Cole.
Catz zuckte die Achseln. »Wie hast du mich eigentlich ge-
funden?«
»Das habe ich dir doch beim Frühstück erzählt.«
»Da war ich noch nicht ganz da. Ich hab es wohl nicht richtig
mitbekommen.«
»Also gut ...« Während er das Gekaspere auf dem Broadway
betrachtete und seine Augen den zunehmend belebten Boule-
vard auf und ab irrten, erzählte Cole von den Männern, die in
seine Wohnung eingedrungen waren, und von der Warnung
seines Doppelgängers.
Als er fertig war, nickte sie finster.
Cole lachte. »Warum sagst du jetzt nicht: >Du spinnst! Das
Gespenst hast du dir nur eingebildet!«
Sie blickte ihn leicht überrascht an. »Nein. Warum sollte ich?
Schließlich hast du mich gefunden, oder? Wie hätte dir das
sonst gelingen sollen? Es muss wahr sein. Außerdem bin ich an
solche Sachen gewöhnt. Für mich«, sie wies mit einer Hand
zum Fenster hinaus, »ist diese Welt durchsichtig. Manchmal
kann ich über sie hinaus sehen ... heute ist meine Wahrneh-
mung eingeschränkt. Aber letzte Nacht konnte ich spüren, dass
du mich holen kommst. Ich wusste nicht genau wann, aber ich
wusste, dass du unterwegs warst.«
Cole fragte sich, ob sie in diesem Augenblick von ihm Ge-
dankenfetzen auffing. Er wurde rot und versuchte ihren Ge-
sichtsausdruck zu deuten. Er hatte sich vorgestellt, wie sie
miteinander schliefen. Sie blickte zum Fenster hinaus und
tippte mit einer Hand gegen den Rand ihrer kleinen Espresso-
tasse. Nein, sie hatte gesagt, sie nahm heute nicht viel wahr,
stellte Cole erleichtert fest. Ihre Fähigkeit kam und ging.
Hinter der Theke links von Cole klirrte etwas ... ein Kellner
sagte laut »Verdammt!« und bückte sich nach den Scherben. Es
wurde langsam voll hier drin, wie aus dem Hut gezaubert
tauchten die abendlichen Gäste auf. Aus den Milchschaumdü-
sen ausgeklügelte altertümliche Apparate aus Chrom und
poliertem Holz zischte es schaumweiß in die Kaffeetassen und
eine Frau mit kurzen blau-orange gestreiften Haaren nahm
Intercash-Karten entgegen, die sie mit gedankenloser Effizienz
in ein Terminal schob. »Vielen Dank«, sagte sie nach einem
Blick auf den Bildschirm. »Vielen Dank«, im immer gleichen
Tonfall. »Vielen Dank«, und sie reichte die Karte zurück. »Vie-
len Dank«, sie schob eine Karte hinein, tippte, Bildschirm, gab
sie zurück. »Vielen Dank ... Vielen Dank ... Vielen Dank ...«
Die Tische des schmalen Raumes waren voll besetzt mit
Angstrockern aus dem nahe gelegenen Deaf Club (ein Stück die
protzig neonbeleuchtete Straße hinauf) und mit S/M-Voguern
und ihren kauernden helläugigen Sklaven an Leinen, ihre
Mäntel aus dem Fell bedrohter Tierarten gefertigt und mit
vergoldeten Kreditkartenimitationen übersät.
Draußen gesellten sich Angster, Voguer und ein paar mürri-
sche Chinesen zueinander. Müslis mit Baretten, Zöpfen, Jeans
mit Lederflicken und Sonnensymbolen aus Strass verkauften
Gras oder Zurück-zur-Natur-Zeitungen. »Warum leben die in
der City, wenn sie zurück zur Natur möchten?«, murmelte Cole.
Eine Gruppe von Angstern in Gefängniskleidung marschier-
te lachend vorbei. Einer von ihnen blieb etwas hinter den ande-
ren zurück, da er eine Miniaturstahlkugel an einer Fußfessel
hinter sich herschleppte.
Cole warf Catz einen Blick zu. Die Spannung zwischen ihnen
stieg weiter. Sie setzte eine schmale dunkle Brille auf, erhob sich
plötzlich und streckte sich. Cole schlüpfte in seine alte schwarze
Motorradjacke und sie gingen hinaus, um sich auf den Abend
einzulassen.
Der Himmel färbte sich purpurrot; einige wenige faserige
Wolken wurden violett angestrahlt. Coit Tower ragte phallisch
am Horizont auf. Sie hielten sich eng beieinander und schlen-
derten durch die bummelnde Menge. Eine Gruppe japanischer
Touristen fotografierte Catz, die sie im richtigen Augenblick
anknurrte. Sic kicherten begeistert. Neonlicht und lodernde
Glühbirnen tupften halluzinogene Spuren in Coles periphere
Wahrnehmung. Die einander überlagernden Schilder bildeten
grelle Schichten. Cole entspannte sich langsam, er fühlte sich
hier wohl. Die grellen Schilder der langen Reihe von Nackt-
Live-Sex-Bondage-Sodomie-auf-der-Bühne-Clubs schienen
ihm einen vertrauten nonverbalen Code zuzublinzeln; die
Schilder waren im kompositorischen Akkord mit dem finsteren
Netzwerk der Verkehrsmitteloberleitungen angeordnet, die sich
über der Straße kreuzten. Funken schlugen aus den Dachkufen
elektrischer Busse, wenn sie die Vielzahl von Leitungen an einer
Kreuzung überquerten.
Taubenschwärme flatterten nervös die Stirn der City entlang.
Sie kreisten direkt über den Häusern, zogen im Sturzflug kleine
Kreise, als wären sie Bestandteile eines Mobiles.
Die regulären Bewohner der Straße Angster, Voguer, Müs-
lis, Huren stolzierten die überfüllten Bürgersteige entlang und
stellten ihr leuchtendes Federkleid zur Schau, das aus der Ent-
fernung betrachtet kaleidoskopartig ineinander überging; sie
erinnerten Cole an japanische Dämonen.
Ein Laserstrahl malte Schriftzüge auf die Wolken: Besuchen
... Sie uns ... im Jade Tower ... geruhsames Essen für ... den
eleganten Überdruss ...
Die Spannung zwischen ihnen hatte sich etwas gelockert und
Coles Laune hatte sich gebessert (die flüchtigen Bilder von
verschwommenen Gesichtern, die blutig aufplatzen, von dem
Mann, dessen Augen sich um das grausam glattkantige Ein-
schussloch verdrehen, verbannte er aus seinen Gedanken).
Doch als Catz seine Hand nahm, zitterte er. Und als ihm be-
wusst wurde, dass sie ihn zu ihrer Wohnung führte, wurden
seine Handflächen feucht.
Als sie am Fuß des Hügels ankamen nachdem sie sich
durch Chinatown geschlängelt hatten, mit seiner Explosion von
Gerüchen, seinen Fenstern, in denen ziselierte Elfenbein- und
Jadekunstwerke auslagen, und seinen zehntausend schlitz-
schmalen Augenpaaren , blieb Catz plötzlich stehen und zog
ihn ein wenig am Arm zurück. Er wandte sich um, schaute sie
fragend an und versuchte seine Beklommenheit zu verbergen.
Aber sie war es, die die Frage stellte:
»Was ist los, Stu?«
»Nichts«, sagte er niedergeschlagen und dachte: O Gott, jetzt
liest sie meine Gedanken.
»Nein, im Ernst.«
Cole zuckte übertrieben mit den Schultern. »Äh weiß nicht,
Catz. Ich mach mir wohl Sorgen wegen City ... dass er uns
suchen könnte ... es ist fast Nacht. Und du na ja, ich habe dir
ja gesagt, dass er mir nicht helfen wollte, dich da rauszuholen.«
»Das ist mir gleichgültig. Damit habe ich gerechnet. Ich
glaube sogar, dass er mich irgendwie zu Fall gebracht hat, als ich
dir nach draußen folgen wollte, er hat dafür gesorgt, dass die
Schutztruppler mich erwischen. Er hat Recht: Ich traue ihm
nicht. Stu, er besteht aus dem Unterbewusstsein Tausender
fehlbarer Menschen. Glaubst du wirklich, dass die Menschen
dieser Stadt völlig bei Verstand sind? Im Leben nicht. Unter
jedem unauffälligen Schädel steckt ein Schlangennest. Als
Teenager habe ich mal eine Überdosis LSD genommen es
ging mir gut, bis ich die Kontrolle verloren habe, nicht mehr
wusste, wo ich war, und unter Anleitung meines Unterbewusst-
seins herumgerannt bin. Und da mein Unterbewusstsein voller
feindseliger Gefühle war, habe ich angefangen, Sachen ausein-
ander zu nehmen ...«
Er starrte sie an. Er musste laut sprechen, um das Quietschen
einer Straßenbahn zu übertönen, die sich langsam den steilen
Hügel hocharbeitete. »Warum hast du dann mitgemacht?
Warum hast du uns geholfen?«
»Du weißt warum. City hat es dir erklärt«, sagte sie ernst,
»auch wenn du mir diesen Teil der Unterhaltung verschwiegen
hast.«
Cole war dankbar, dass sie in der hereinbrechenden Dunkel-
heit nicht sehen konnte, wie er rot wurde.
»Verdammt, ich benehme mich wie ein verängstigter Teena-
ger«, murmelte er.
Sie lachte kurz auf. »Es ist wirklich süß, wenn du Selbstge-
spräche führst.«
In ihrem Tonfall lag kein Hohn, trotzdem wurmte ihn die
Bemerkung. Missmutig wandte er den Blick ab. »Ich finde, du
solltest die Stadt verlassen«, sagte er. »Er könnte dich töten.«
»Vielleicht mache ich das«, sagte sie. »Ich muss zugeben ...
dass ich auch Angst habe. Auch wenn ich gerne das Gegenteil
behaupte. Allerdings nicht dir gegenüber.« Ihre Stimme wurde
ungewöhnlich sanft. »Ich verdammt, letzte Nacht in dem
Schrank dachte ich, ich werde verrückt. Sie haben mich nicht
vergewaltigt, aber ich hatte Angst davor. Das möchte ich nicht
noch einmal durchmachen. Es ist bescheuert. Ich möchte
einfach die Band mitnehmen und verschwinden. Aber du
kannst genauso wenig hier bleiben. Er hat dich ... zu sehr im
Griff. Bald wirst du keinen eigenen Willen mehr haben, Stu. Du
musst auch weg von hier.«
Cole zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich glaube nicht, dass
ich das kann. Nicht lange ... ich weiß nicht.«
Die Ampel schaltete auf grün. Sie überquerten die Straße und
kamen an einem Kuriositätenladen vorbei. In dem staubigen
Schaufenster stand eine hölzerne Wahrsagerin. Sie stand
beschädigt seit mindestens zwanzig Jahren dort. Als sie an
dem Fenster vorbeigingen, zuckte Catz plötzlich zusammen und
umklammerte krampfhaft Coles Hand. Sie blieb stehen und
starrte gebannt auf die kleine hölzerne Puppe. Das von der Zeit
gegerbte Gesicht eines alten Weibes schaute sie boshaft an. »Ihr
Kopf«, sagte Catz keuchend. »Er sie hat noch nie in diese
Richtung geguckt. Aber als ich vorbeiging, hat sie sich mir
zugewandt. Ich hab's aus dem Augenwinkel gesehen ...«
Das winzige Zigeunerinnengesicht blickte gehässig zu ihnen
auf. Cole erinnerte sich ja, richtig , der Kopf der Puppe hatte
in die andere Richtung geschaut, als er sie zuvor angesehen
hatte.
»Vielleicht funktioniert das Uhrwerk ja wieder. Ein vorbei-
fahrendes Auto ...«, schlug er ohne Überzeugung vor.
Catz hatte es plötzlich eilig, zerrte ihn hastig weiter. Über die
Schulter rief sie: »Quatsch! Das ist City. Ich kann es spüren. Er
beobachtet mich. Er will mich provozieren. Und warnen. Er
kommt zu sich. Er verfolgt mich.« Ihre Stimme kippte. »Oh
Scheiße.«
Sie eilten die immer düsterer werdende Straße entlang. Cole
blieb neben einem U-Bahn-Eingang stehen. Catz wartete unge-
duldig, nahm die Sonnenbrille ab und sah ihn fragend an.
»Da kommt eine U-Bahn, die nach Süden fährt«, sagte Cole
und starrte auf den Boden.
Catz sah ihn leicht amüsiert an. »Woher weißt du das? Du
hast keinen Fahrplan.«
Cole schauderte. Woher hatte er das gewusst? Er blickte zur
Straßenecke hinüber. »Gleich kommt der Bus zur Mission
Street.«
Catz folgte seinem Blick. Zwei Sekunden später kam ein
Elektrobus um die Ecke gefahren. Vorne dran stand Mission
Street.
Catz sah ihn an. Cole fühlte sich seltsam. Irgendwie kalt. Und
er spürte seine Füße nicht. Ihm war eigentlich nicht kalt, der
Abend war warm aber seine Füße waren taub. Als ob sie mit
dem Asphalt verschmolzen. Cole stampfte auf den Boden, bis
ein wenig Gefühl in seine Fußsohlen zurückkehrte. Dann
schaute er auf. »Jetzt«, sagte er, »kommt gleich ein Transporter
um die Ecke. Und danach ein Schwarzer auf einer Harley.« Ein
großer gelber Lieferwagen fuhr schwerfällig vorbei, gefolgt von
einem Schwarzen auf einem silbrigen Motorrad.
Catz starrte ihn mit offenem Entsetzen an.
Und da klingelte das Telefon in der Telefonzelle neben ih-
nen.
Die Schiebetür der altmodischen Zelle schob sich auf. Der
Hörer fiel von der Gabel und baumelte hin und her, als wollte er
sie herbeilocken. Automatisch ging Cole darauf zu, eine Hand
ausgestreckt.
Catz trat mit einer schnellen Bewegung zwischen ihn und die
Telefonzelle und stemmte ihre Arme gegen seine Brust. »Sprich
nicht mit ihm. Du weißt, dass er es ist. Bitte nicht nicht jetzt.
Er ist es, er erwacht zum Leben ... und er macht dich zu einem
Teil seiner selbst.«
Cole fühlte sich benommen. Nachdenklich sprach er mit sich
selbst. »Alle Maschinen auf der ganzen Welt sind miteinander
verbunden«, murmelte er und sah sich mit wachsendem Begrei-
fen um. »Durch Stromkabel, Telefonverbindungen wie ein
großes elektronisches Spinnennetz. Die Rohrleitungen ...« Er
schloss die Augen. Er konnte es sehen, in der unendlichen
Finsternis hinter seinen geschlossenen Augen leuchtend über-
einander gelegt, blauweiß vor dem Hintergrund der gesprenkel-
ten Schwärze: die große, unendliche Blaupause der elektrischen
neuralen Kanäle der City, die Verbindungen zwischen den
Häusern und die geometrischen Zentren, die Verbindungen
zum Kraftwerk, die
Erschrocken riss er die Augen auf, ein seltsames Gefühl auf
dem Gesicht. Dann wurde ihm klar, dass Catz ihn geohrfeigt
hatte. Er ließ zu, dass sie ihn zum Eingang der U-Bahn führte.
»Komm jetzt«, sagte sie. »Komm.« Sie zog an seiner Hand: er
folgte ihr widerstandslos. Ihm war schwindlig, als wäre er aus
einem Traum erwacht. Sie stiegen hinab zu den hellen Lampen
und weißen Kacheln. Mit einer Intercash-Karte zog Catz zwei
kodierte Fahrscheine aus dem Computer in der Wand.
Cole hatte immer noch das Gefühl, alles aus großer Entfer-
nung wahrzunehmen, und ließ sich in den schnittigen Edel-
stahlzug führen. Lautlos und automatisch schlossen sich die
Türen hinter ihnen, und sie schlenderten über die abgewetzten
Läufer zu den Sitzen neben einem breiten, graffitigedämpften
Fenster. Die anderen Fahrgäste unterhielten sich leise oder
lasen Zeitung. Die Stoßzeit war vorbei, außer ihnen fuhr in
diesem Wagen nur ein Dutzend Leute nach Süden.
Cole registrierte all dies aufmerksam, doch mit einer Distan-
ziertheit, als wäre alles um ihn herum, die Fahrgäste und die
Vorrichtungen des Zuges selbst, nichts als kleine, funktionie-
rende Bestandteile des riesigen Getriebes der City.
Das urbane Kontinuum des Zuges führte eine seiner Aufga-
ben durch: die U-Bahn fuhr los, und mit einer verschwomme-
nen Freude am reibungslosen Ablauf der Maschinerie um ihn
herum begann Cole die Lichter zu zählen, die im Tunnel vor-
beirasten. Und er lauschte dem rhythmischen Klicken der
Räder, dem Seufzen der Stoßdämpfer in den Kurven ...
Einige Zeit später erwachte Cole unvermittelt aus seiner
Träumerei von endlosen Blaupausen und Stadtplänen. Er
schaute sich nervös um. Er fühlte sich einsam und verloren,
desorientiert und wusste, dass er sich außerhalb von Citys
Reichweite befand.
Er war erleichtert, dass Catz neben ihm saß. Sie hatte die Ab-
sätze ihrer Stiefel gegen die Lehne des Sitzes vor sich gestemmt
und rauchte eine selbst gedrehte Zigarette.
»Hier drin darf man nicht rauchen«, sagte er grinsend.
Sie lächelte schwach. »Und was willst du dagegen tun, Arsch-
loch?«
Er griff sanft nach ihrer Hand. Ihre Haut war warm und
feucht und schien an ihm zu kleben.
Seine Haut kribbelte immer noch leicht. »Wo äh, wo fahren
wir hin?«
»Dieser Zug fährt nach Süden, wie du gesagt hast, mein
Schatz. Er fährt durch den neuen Tunnel in den Berkeley-
Hügeln, wusstest du das? Ganz neu, erst seit einem Monat
offen. Führt bis ganz nach San Jose. Eine lange Fahrt, aber ...
außerhalb seiner Reichweite, glaube ich.«
Cole nickte. »Ich konnte spüren, wie ich ihm entglitten bin.
Es wundert mich, dass er den Zug nicht angehalten hat. Viel-
leicht wären wir dabei umgekommen. Vielleicht «
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, er hätte uns an den regulären
Haltestellen aufhalten können, er hätte nur den Zug daran
hindern müssen, weiterzufahren. Aber es gibt noch einen
Grund. Zum Beispiel, vielleicht weiß er«, sie warf ihm aus den
Augenwinkeln einen Blick zu, »dass du zurückkommst.«
Cole holte tief Luft. »Ich fühle mich seltsam.«
»Entzugserscheinungen.«
»Was?«
»Nichts ... Sag mal, als du dieses ganze Zeug vorausgesehen
hast die Autos, wie ein Wahrsager war das dein Duplikat?
Diese Erscheinung, die du in Oakland gesehen hast? Hat er dir
das gesagt?«
Cole schüttelte den Kopf und sah zu, wie die Tunnelbeleuch-
tung vorbeiraste. Der Zug summte gleichmäßig weiter und
weiter. »Nein ... ich glaube nicht. Ich hatte eher das Gefühl, als
würde ich durch die Augen eines anderen blicken. Oder um die
Ecke durch ein Periskop. Eine Draufsicht, wie im Fernsehen.
Ich habe nichts zeitlich vorausgesehen ... mehr als ob die Ge-
bäude fast ... durchsichtig geworden wären.«
»Den Scheiß kann ich nicht «
»Ich erfinde das nicht.«
»Nein, das weiß ich doch. Ich glaube dir. Ich meine es sieht
schlimm aus. Er hat dich wirklich am Wickel «
Cole wechselte eiligst das Thema. »Was denkst du denn, was
ich wirklich gesehen habe? Dieses >Duplikat«
»Das weiß ich doch nicht«, sagte sie unglücklich. Ihre Ziga-
rette war ausgegangen. Sie zündete sie wieder an und runzelte
die Stirn, als sie den schwarzen Lippenstift auf der Kippe be-
merkte. »Vielleicht war es eine, äh, Projektion von dir, von
deinen eigenen latenten Fähigkeiten ausgelöst. Wie Ahnungen,
die sich in einer Art Vision zeigen.«
Das fühlte sich nicht zutreffend an. »Mhmm. Dieses Ding
es glich eher einem Gespenst.«
Sie lachte nervös. »Nun, das kann es kaum sein. Du bist nicht
tot, Freundchen.«
»Nein«, sagte er. Aber er dachte: Noch bin ich nicht tot. Aber
vielleicht bald. Sehr bald.
Es fühlte sich zutreffend an.
»Ich weiß nicht«, sagte Cole. Er saß reglos auf dem Rand des
knarrenden Bettes. »Vielleicht sollte ich zurück. Ich muss das
jetzt durchziehen. Ich habe was mit ihm angefangen und ir-
gendwie bin ich ihm ... verpflichtet. Außerdem fühle ich mich
einsam, außerhalb der City. Himmel noch mal, ich habe sie seit
Jahren nicht mehr verlassen. Ich «
»Ja, ich weiß, du hast Angst, weil du nicht bei Papa bist«, sag-
te Catz. »Aber das ist nicht alles.«
Sie beugte sich zu ihm hinüber und ließ die Finger durch sei-
ne Haare gleiten. Leise sagte sie: »Du bist noch wegen etwas
anderem nervös, mein Freund.«
Cole zuckte unwillkürlich vor ihr zurück. Ganz schwach
konnte er ihren Schweiß riechen, ihren natürlichen Moschusge-
ruch. Er war wie berauscht. Aber sein Kreuz war kalt und starr.
»Sag mal, warum sind wir hierher gekommen?« Er wies mit
einer Handbewegung auf das alte Hotelzimmer in Santa Cruz.
Die Luft roch schwach nach Moder und Salzwasser. Die gelbli-
che Tapete löste sich und in den Ecken wucherte Schimmelpilz.
Das antike Messingbett quietschte bei jeder Bewegung. »Viel-
leicht ist es für dich das Beste, aus San Francisco rauszukom-
men. Aber nicht für mich. Ich sollte nicht hier sein. Ich muss
mich um meinen Club kümmern, Catz.«
»Ausreden, Aus-reh-denn ...«, schnurrte sie.
»Hör zu, ich «
»Wie lang ist es her?«, unterbrach sie ihn. Sie gab sich Mühe,
der Frage einen beiläufigen Klang zu geben.
»Seit was?«
»Kokettier nicht rum«, sagte sie ausdruckslos.
Er zögerte. »Ein paar Jahre.«
Sie schloss die Augen. Und lächelte. »Wusst ich's doch. Ich
gehe jetzt auf deine Wellenlänge.«
Cole schluckte, um einen Ausruf des Entsetzens zu unter-
drücken. Ihre Fähigkeit ...
»Ah ...«, sagte sie, zeigte lächelnd ihre scharfen Zähne. »Aha.
Du warst also impotent« Cole zuckte bei dem Wort zusam-
men »letztes Mal. Mit einer schwarzen Hure. Du hast Angst,
dass du immer noch impotent bist. Du hast Angst, dass du zu
alt für mich bist. Du hast Angst, dass ich dich irgendwie aus-
nutze, weil du nicht kapierst, wie ich dich ernsthaft mögen
kann.« Sie öffnete die Augen. »Ich will dir sagen, warum ich
dich mag, Stu. Du hast mir in deinem Club meine erste Chance
gegeben, verdammt, vor Jahren, obwohl du wusstest, dass es
lange dauern wird, für diese Art Musik ein Publikum aufzubau-
en. Eine Zeit lang hast du Geld verloren. Aber du bist trotzdem
dabei geblieben, weil ich dir etwas bedeutet habe, weil du meine
Musik und meine Gedichte verstanden hast. Ich kenne sonst
keinen Mann, der sie wirklich versteht. Aber es ist nicht nur
Dankbarkeit. Ich bin seit Jahren scharf auf dich.« Sie lachte über
seinen Gesichtsausdruck. »Stu, das stimmt. Ich liebe dich. City
hatte Recht. Ich habe bei der ganzen Sache nur mitgespielt, weil
ich dich schützen will.«
»Hör mal, lass ich meine, ich kann nicht ich bin, äh ...«
»Verdammte Hacke. Du hast etwas Fett angesetzt und du
hast einen Bierbauch. Na und? Mir sind weiche Männer sowie-
so lieber. Sie sind sanfter. Hör mal, ich kann deine Befürchtun-
gen sehen, Stu. Hör auf, sie vor mir verstecken zu wollen.«
Cole spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. »Bitte
nicht hey «
»Und jetzt wirst du auch noch wütend, weil ich ein wenig
deine Gedanken lese. Ich kann gar nicht anders, wenn ich mich
dir so nahe fühle. Ich mach dir einen Vorschlag: Wenn du das
Gefühl hast, ich verletze deine Privatsphäre, dann gehe ich auf
Distanz, besonders was deine geistigen Bilder betrifft, diese
Sachen. Die kannst du für dich behalten. Stattdessen konzen-
triere ich mich auf ... deine Gefühle. Ich kann einige deiner
Empfindungen miterleben. Innerlich und äußerlich. Das ist wie
ein Feedback. Wir können uns wirklich nahe kommen, Stu.«
Er blies die Backen auf. »Ich habe das Gefühl, du willst mich
von irgendetwas überzeugen.« Er starrte auf den fadenscheini-
gen Teppich zu seinen Füßen.
»Vielleicht. Wenn das die einzige Möglichkeit ist, zu dir
durchzudringen.« Sie beugte sich zu ihm hinüber. Ihre Lippen
brannten auf seinem Nacken.
Und Cole wäre fast vom Bett gesprungen.
Sie zog ihn sanft zurück und schüttelte traurig den Kopf.
»Hey, Stu, entspann dich.«
»Ich kann nicht.« Er zitterte. Die Spannung zwischen ihnen
hatte einen Höhepunkt erreicht. Er hatte das Gefühl, dass er
sich in sich zurückgezogen hatte, als betrachtete er diese Szene
aus weiter Ferne. »Ich kann da nicht drüber weg, Catz. Äh ich
möchte dich nicht enttäuschen. Verstehst du?«
Sie verdrehte die Augen. »Du kapierst es immer noch nicht«,
sagte sie. Die unverfälschte Liebenswürdigkeit ihrer Stimme ließ
ihn dankbar aufblicken. »Entspann dich, Stu, ich erwarte nichts
von dir. Wir müssen nicht großartig miteinander schlafen. Ich
möchte dich einfach in die Arme nehmen, dich berühren. Wir
müssen nicht weiß Gott was tun. Ich will einfach « Sie mach-
te eine ungeduldige Handbewegung. »Na ja, schon ohne Kla-
motten, aber nicht unbedingt in aller Ausführlichkeit. Kapiert?
Ich muss dich nicht in mir haben. Wenn dir danach ist, mir
einen Orgasmus zu verschaffen, schön, dafür hat Gott dir
Finger und eine Zunge und mir eine Klitoris gegeben. Aber
darauf kommt es nicht an. Versteh doch endlich, du Kamel, ich
liebe dich. Also kommt es darauf nicht an.«
Cole atmete langsam aus und etwas in ihm entspannte sich.
Er fühlte sich lebendig, seine Lebensgeister waren geweckt, ein
Gefühl der Verbundenheit brandete in ihm auf. Ohne darüber
nachzudenken streckte er eine Hand aus und schaltete die
Nachttischlampe aus. Das Zimmer wurde finster, doch durch
die halb heruntergelassene Jalousie fiel ein kühles Licht. Er
konnte sie sehen; doch er fühlte sich nicht mehr ganz so unsi-
cher wegen seines Körpers.
Sie hatte ihre Jacke und ihre Stiefel ausgezogen und schlüpfte
aus ihrer Hose. Ein Teil der Spannung kehrte zurück, seine
Hände zitterten und seine schwitzenden Finger rutschten von
den Plastikknöpfen ab. Er zog sich aus und legte seine Kleider
sorgfältiger über einen Bettpfosten, als es nötig gewesen wäre.
Er drehte sich um und glitt in ihre Arme. Es war einfach. Ihr
Körper war fest und voller Rundungen, ihre Haut glatt und
feucht. Eine neue Ebene der Entspannung, und ein neuer Stoß
wohliger Elektrisiertheit durchfuhr ihn, und er verspürte ein
seltsames Gefühl in der Lendengegend. Überrascht schaute er
an sich herab. Seine Erektion drückte sich fest gegen ihre feuch-
ten Schamlippen. Ihre Beine umschlangen seinen Hintern, und
als ihre Lippen sich trafen, presste sie mit beschwörendem,
rhythmischem Druck ihr Geschlecht gegen den Schaft seines
Penis. Strom zuckte durch ihre Lippen und er merkte, dass er
mit den Händen ihren Körper erkundete ohne Vorbehalt oder
Verlegenheit erkundete.
»Siehst du?«, flüsterte sie ihm sanft ins Ohr, während ihre
Finger über seinen Rücken strichen. »Du brauchtest dich nur zu
entspannen. Entspann dich, und du kommst an einen anderen
Ort, Mann. Entspann dich, und schon passiert allerhand wirk-
lich Schönes ... Stu ...«
Es zeigte sich, dass sie Recht hatte.
Uuh-SEX!
Am Morgen, während Catz noch schlief, begutachtete
Cole sich im großen Badezimmerspiegel. »Nicht so übel«, sagte
er. »Sieht so übel gar nicht aus.« Summend ging er unter die
Dusche.
Als er ins Hotelzimmer zurückkam, atmete er wehmütig die
Düfte der letzten Nacht ein. Catz saß angezogen auf der Bett-
kante. »Komm schon«, sagte sie und wippte ungeduldig mit
dem Fuß. »Zieh dich an, Stu. Wir müssen los.«
»Wieso bist du so aufgedreht?«, fragte Cole und warf sein
Handtuch nach ihr.
Verdrossen wehrte sie das Handtuch ab und wickelte es
nachdenklich um ihre Hand, während sie sprach. »Ich hatte
letzte Nacht so einen schrägen Traum. Ich habe ein paar Sachen
gesehen. Die damit zusammenhängen, was ich damals auf der
Bühne gesehen habe, als City zum ersten Mal in den Club kam.
Wir müssen diese Gegend hier verlassen. Wir könnten nach
New York oder ...«
»Spinnst du?«
»Ich meine das ernst.«
»Einfach alles fallen lassen und verschwinden?«
»Genau. Das Schiff sinkt, alter Junge. Gestern wärst du fast
nicht mehr aus der Stadt rausgekommen. Er wollte dich nicht
gehen lassen.«
»Er hätte mich aufhalten können.«
»Er hat versucht, dich davon abzubringen aber er war si-
cher, dass du wiederkommst. Lass uns abhauen.«
»Nach allem, was wir getan haben? Dem Kampf? Catz, ich
kann jetzt nicht einfach alles hinwerfen.«
Sic rutschte unruhig auf dem Bett hin und her und sah ihn
forschend an. Cole fühlte sich unter diesem Blick unwohl und
ging sich anziehen. Er schlüpfte in seine Kleider, ohne richtig
bei der Sache zu sein, und musste sein Hemd ein zweites Mal
zuknöpfen. Als er fertig war, sagte sie: »Hast du dich entschie-
den?«
»Ich kann nicht weg. Tut mir Leid.« Er kam nicht auf den
Gedanken, sich zu fragen, warum er nicht konnte. Ein Fisch
kann nur ein oder zwei Minuten ohne Wasser überleben und
er stellt die Abhängigkeit von seinem Element nicht in Frage.
»Was soll denn das? Bist du festgewachsen? Hast Wurzeln
geschlagen?« Sie klang nicht wütend, eher verzweifelt. Sie
seufzte und sagte: »Stu Liebling glaubst du wirklich, die
Vigilanten lassen dich am Leben nach dem, was gestern passiert
ist? Einer von ihnen konnte abhauen. Du hast eine ganze Reihe
von diesen Schweinen umgelegt, erinnerst du dich? Sie sind tot.
Und du hast sie «
»Schon gut«, sagte Cole und verzog das Gesicht.
»Sie werden dich umbringen, so einfach ist das.«
»Sie werden mich nicht finden. City wird mich beschützen.«
»Vielleicht. Solange er dich gebrauchen kann. Aber hör doch
mal zu, du weißt, dass er gegen ITC nichts ausrichten kann, und
ITC wird von seinen Feinden gesteuert die jetzt auch deine
Feinde sind , und die werden dir den Zugriff auf das bisschen
Geld sperren, das dir noch geblieben ist. Sie werden deinen
Club dichtmachen. In deine Wohnung kannst du auch nicht
mehr. Sie liegen dort auf der Lauer.«
Cole starrte sie an. Er wurde von Entsetzen überwältigt, wie
ein Mann, der gerade merkt, dass ihm jemand seinen Schwanz
weggeschossen hat ...
»O Himmel«, sagte er leise. Ein Mann, der nicht kreditwür-
dig war, hörte auf zu existieren. Ohne seine Karte, ohne sein
Konto gesellschaftliche Kastration.
»Aber «, sagte er unvermittelt und spürte einen Knoten im
Hals. »In einer anderen Stadt wäre das auch nicht besser. Dort
hätte ich auch kein gottverdammtes Konto!«
»Anfangs nicht. Aber du könntest darauf hinarbeiten. Du
könntest bei mir in ich habe in Chicago ein Konto. Darauf
zahle ich schon seit Jahren ein. Dort könnten wir für dich auch
einen Kredit beantragen ich weiß aus sicherer Quelle, dass die
Mafia ITC in Chicago noch nicht in der Tasche hat. Die Stadt
kennt sich mit organisiertem Verbrechen zu gut aus, sie haben
von Anfang an Vorkehrungen getroffen.«
Cole schritt im Zimmer auf und ab und seine Hände beweg-
ten sich in der Nähe seiner Lippen, als wollte er mit Gesten
etwas ausdrücken, was seine Lippen nicht in Worte fassen
konnten. »Hey es ist nicht Mist ich glaube « Er fuhr sich
mit zitternden Fingern durch die Haare und versuchte eine
Begründung für sein Bleiben zu finden, etwas, was Catz gelten
lassen würde. Warum war es so schwer, ihr das zu erklären? Er
konnte City nicht verlassen. Nicht jetzt. Vielleicht hatte er hier
Wurzeln geschlagen, vielleicht gehörte er zu den Pflanzen, die
abstarben, wenn sie nicht in heimischem Boden mit seiner
besonderen chemischen Zusammensetzung wuchsen. Der
Beton und seine San Francisco-spezifische Struktur; der Asphalt
mit dem Schweiß-Blut-Kotze-Tränen-Samen der Menschen, die
ihn beschritten, als mystisches Fundament; der Kupferdraht,
der Asphalt, die Aluminiumfeuertreppen; jene eigenwillige
Ansammlung von Türmen aus Glas und Stahl; die großen
grauen hölzernen Ladys, die von Touristen für viktorianische
Villen gehalten wurden; der Boden von San Francisco. »Du
verlangst von mir, meine Identität herauszureißen und woan-
ders hin zu verpflanzen. Das würde mich umbringen.«
Catz spielte ihre letzte Karte aus: »Du würdest lieber mich
verlieren als City?«
Cole wich der Frage aus. »Das ist nicht fair «
»Scheiße nein, natürlich ist es nicht fair! Das Leben ist hart.
Ich liebe dich und sie wollen dich umbringen. Er wird dich
benutzen, verbrauchen und ausspucken.«
»City würde nie «
»City benutzt dich!«
»Das kannst du nicht wissen!«, brüllte er wild. Er drehte sich
um und schaute ihr in die Augen. »Du kannst nicht sicher sein!«
Sie schüttelte den Kopf. »Warum hat er dir nicht geholfen,
als du ihn um Hilfe gebeten hast, um mich zu retten? Und
warum hat er gelogen, von wegen es würde niemand sterben
müssen?«
Eine kalte Entschlossenheit ergriff von Cole Besitz. Er hob
eine Hand, die Handfläche nach außen gerichtet, eine emphati-
sche Geste. Sie schwieg und wartete. Er sagte: »Ich weiß. Ich
weiß. Aber was soll ich machen. Ich liebe dich. Ich liebe dich,
Catz. Wahrscheinlich benutzt er mich ziemlich sicher sogar.
Und ich weiß, dass ich dich liebe. Aber mir bleibt keine Wahl.
Ich bin diese Verpflichtung vor langer Zeit eingegangen. Daran
muss ich mich halten. Ich bin dazu auserwählt.«
»Du machst mich krank. >Auserwählt.< Das ist die Ausrede
von Terroristen, von Diktatoren und religiösen Fanatikern
und dahinter versteckt sich immer etwas sehr Egoistisches. Ich
weiß gleich sagst du: >Catz, du verstehst mich einfach nicht.<
Ich verstehe wohl und ich werde es nicht hinnehmen. Ich
weigere mich, mich von ihm ausnutzen zu lassen. Ich bin
durchaus bereit, mit den Stadtgeistern zusammenzuarbeiten,
wenn ich das Gefühl habe, es ist richtig. Mit einigen stehe ich in
Verbindung. New York und Chicago. Ich habe mit ihnen
kommuniziert. Sie sind ebenso lebendig wie City wie deine
Stadt. Sie sind nicht so aktiv, aber sie schmieden Pläne. Ich
glaube, dass sie etwas vorhaben ... gemeinsam. Sie verkehren
auf einer Ebene miteinander, die ... na, jedenfalls, wenn du «
»Catz ...«
»Wenn du der Meinung bist, dass er nicht «
»Catz.«
»Was ist?«
»Ich habe gesagt, dass ich weiß, dass er mich ausnutzt. Das
steckt in mir drin. Irgendwie eingebaut. Ich muss. Okay?«
Sie starrte ihn benommen an. »Nein. Nicht okay. Es ist ver-
dammt noch mal nichts okay. Du wirst im Hintergrundrau-
schen untergehen.«
»Im was?«
»Das ist der grundsätzliche Unterschied zwischen uns. Einer-
seits bist du ein Außenseiter, ein Nonkonformist, ganz wie du
willst. Andererseits willst du das gar nicht sein. Du möchtest
dazugehören. Du möchtest zu einer Gemeinschaft gehören, eine
gute Drohne innerhalb des Bienenstocks abgeben «
»Schwachsinn, du Schlampe!«
»Ganz tief in dir drin willst du genau das. Gib es zu. Deshalb
läuft mit dir und City alles so glatt. Du möchtest dich mit ihm
identifizieren. Nun gut, ich möchte mich nicht mit ihm identifi-
zieren oder mit sonst irgendeiner Menschenansammlung. Ich
habe Angst, mich selbst darin zu verlieren. Ich bin fast nichts
jeder ist fast nichts , doch dieses bisschen ist mir lieb und
teuer, und ich werde es nicht an City verlieren. Ich kann es auch
nicht ertragen, wie das mit dir geschieht. Vielleicht bin ich
eifersüchtig. Aber ich kann nicht hier bleiben und zuschauen.
Ich glaube sowieso, dass er mich töten wird. Schließlich würde
ich dich immer von ihm fortziehen ... Hör mal, so zersplittert
gerade alles ist und so sehr die Kultszene auch boomt die
Neopuritaner, die Neopunks , das sind doch alles nur Modeer-
scheinungen. Trendscheiße. Sogar Angstrock. Ich bin kein
Angstrocker, das ist schlicht eine Schublade, in die ich gesteckt
werde. Ich kann mich mit nichts davon identifizieren. Damit
wollen sie doch nur alles zukleistern.«
»Aber ein Teil von City zu sein beschränkt sich nicht darauf.
Klar geht es da auch um einen Gedankenaustausch, aber das ist
alles freiwillig und ganz normal «
»Nein, er wiegt dich nur in diesem Glauben.«
Eine Weile herrschte angespanntes Schweigen. Sie betrachte-
te ihn nachdenklich.
»Du verschwendest deine Zeit«, sagte er.
»Ja. Das merke ich auch. Es ist zu spät, für dich ... Hör zu,
ich verschwinde. In Chicago gibt es einen Typ, der mich produ-
zieren möchte, wenn ich ein brauchbares Demo vorweisen
kann. Also gehen wir ins Studio --«
»Ihr wollt eine Platte aufnehmen? Wer wird denn hier Teil
der großen Gleichförmigkeit? Du willst dich an die verkaufen,
die «
»Nein. So kann ich viel mehr Menschen erreichen. Ich werde
wider jegliche Anpassung predigen «
»Sie werden dein Bild in Dosen abfüllen und Tausende von
Postern produzieren lassen ... es wird den Catz-Wailen-Look
geben.«
»Heb dir deinen Sarkasmus für dich selbst auf. Der ist nicht
übertragbar.« Sie zitterte. »Scheiße«, sagte sie leise.
Dann ging sie ins Badezimmer und drehte den Wasserhahn
auf, damit er nicht hören konnte, wie sie weinte.
Später Nachmittag. Kurz vor Einbruch der Dämmerung. Als
Vorspiel verdunkelten sich die zerklüfteten Wolken am Him-
mel.
Cole stand allein auf dem Flughafen von San Francisco und
sah zu, wie Catz' Flugzeug nach Chicago seinen Schwung dem
Luftdruck anpasste und himmelwärts glitt. (Nein, Cole war
eigentlich nicht allein; aber die Menschen um ihn herum waren
nicht einfach nur Fremde viel wichtiger war, dass sie nicht aus
San Francisco stammten. Nicht aus Coles Stadt. Aliens.)
Tief in seiner Tasche hielt er den Zettel umklammert, auf den
sie eine Telefonnummer in Chicago gekritzelt hatte ... Die
ganze Band war mit ihr gegangen. Der rattengesichtige Bassist
hatte sich beschwert, er hätte seine Zimmermiete bereits einen
Monat im Voraus bezahlt. Es war Catz nicht schwer gefallen,
ihn zu überreden, Cole den Schlüssel zu geben.
Vielleicht irrte sie sich: Vielleicht hatten sie sein Konto nicht
vollständig gesperrt. Vielleicht gehörte sein Club noch ihm.
»Für 'n Arsch«, sagte er laut.
Der Jet wurde von der niedrig hängenden Wolkenbank ver-
schluckt, Wolken, die sich wie ein großer, bedrohlicher Fla-
schengeist über dem Flughafen zusammenbrauten. Catz war
fort.
Sie war fort und ihn hatte es nach San Jose verschlagen, weg
von City. Er schaute sich um. Fremde Leute, massenweise. Er
war extrem allein.
Er unterdrückte die aufsteigende Panik, wandte sich um und
trabte zu einem Aufzug, über dem AUSGANG ZUR STRASSE
und NAHVERKEHRSZÜGE stand.
Cole betrachtete den ITC-Bildschirm in der öffentlichen Zelle
mit einer gewissen Befriedigung. KONTO AUFGELÖST, stand
da. Nicht einfach nur KONTO GESPERRT. Kein bloßes DER-
ZEIT KEINE AUSZAHLUNG MÖGLICH. Für ihn genügte das
nicht. Für Stuart Cole musste schon der selten verwendete
Bannspruch KONTO AUFGELÖST herhalten.
Normalerweise sparten sie sich das für verurteilte Terroristen
auf.
»Sie hatte Recht«, sagte er, als er die Ziehharmonikatür der
Zelle zusammenschob und auf die Straße trat. Er stand an der
Ecke Market und Sutter im Schatten des unbeleuchteten Vor-
dachs des Kinos für »Therapeutische Erotika«, dessen Schild
DISZIPLINIERUNGEN WÄHREND DER VORFÜHRUNGEN/
ALLE SITZE FÜR VERSIERTE THERAPEUTEN AUSGERÜ-
STET verhieß. »So versiert wie der Esel um den Brunnen geht«,
murmelte Cole und wandte sich ab.
KONTO AUFGELÖST ... Die Konsequenzen seiner jüng-
sten Vergangenheit begannen ihn einzuholen.
Langsam ging er die Straße hinunter, jeder Schritt ein
schmerzhaftes Knautschen in seiner Brust. Der Schmerz, der an
ihm fraß, war die Qual der Zurückweisung durch eine ganze
Gesellschaft.
»Warum infizieren sie einen nicht einfach mit Lepra?«, über-
legte er laut.
Er kam an einem Obdachlosen vorbei, der in einem nacht-
schwarzen Eingang lag. Sogar die Säufer, dachte Cole, haben ein
Konto. Oder zumindest eine Nummer vom Sozialamt für eine
Lizenz zum Betteln oder eine Invalidenrente. Ich dagegen nicht.
Ich stehe jetzt unter ihnen.
Er kam an einer Telefonzelle vorbei, starrte sie an und warte-
te. Er wurde nicht enttäuscht: Das Telefon klingelte. »City?«,
sprach er in den Hörer. Ein Teil des Schmerzes fiel von ihm ab.
»Benny?«, sagte eine Stimme mit spanischem Akzent. »Hast
du das Zeug?«
Cole fluchte so heftig, dass er gar nicht merkte, was er eigent-
lich schrie, warf den Hörer hin und stapfte davon. »City ...«,
sagte er. Es klang wie ein Seufzer. Er schaute sich um. Angst
schlang sich um die Zurückweisung.
City hatte sich von ihm getrennt. Cole fühlte sich ohne die
gewohnte Verbindung zu seinem städtischen Umfeld isoliert.
City bestrafte ihn.
Vielleicht war es das für mich, für immer. Vielleicht hat er je-
mand anders gefunden, der besser für diese Aufgabe geeignet ist.
Er hat mich endgültig abgeschrieben.
Eine Straßenbahn kam von links den Hügel herunter. Die
Oberleitungen sprühten Funken und schaukelten, als sie lang-
samer wurde, um Fahrgäste aussteigen zu lassen. Sie nahm
wieder Fahrt auf und rumpelte bis auf zwanzig Meter an ihn
heran. Sie würde bei dem Gefälle kaum noch rechtzeitig brem-
sen können. Das war die einzige Möglichkeit, sich Klarheit zu
verschaffen, herauszufinden, wie City jetzt zu ihm stand.
Cole rannte auf die Straße und spürte kalten Schweiß auf sei-
ner Stirn. Er hatte Angst. Große Angst. Angst vor dem Tod.
Doch es war besser, tot zu sein, als diese Beleidigungen ertragen
zu müssen, wehrlos gefangen wie ein Versuchstier im Glas. Er
warf sich vor der Straßenbahn flach auf den Boden, kniff die
Augen zu und versuchte mit den Händen seine Ohren vor dem
Quietschen der Räder zu verschließen. Die Fahrgäste kreisch-
ten. Er roch das Ozon der elektrischen Oberleitungen. Die Bahn
warf ihren Schatten auf ihn, den dunklen Schatten des Todes.
Und dann platzte die Straße auf.
Cole wurde den Hügel hinabgestoßen. Er rollte nach rechts
und sah aus den Augenwinkeln ein gewaltiges Rohr, das aus der
Straße spross, zwischen ihm und der Straßenbahn die mit
dem Rohr kollidierte. Die hinteren Räder sprangen aus den
Schienen, als sie sich zur Seite krümmte. Cole streckte eine
Hand aus und blieb schlitternd liegen.
Grinsend vor Schmerz stützte er sich auf seine aufgeschlage-
nen Knie und kam auf die Füße. Die Straßenbahn hatte sich
gedreht und stand jetzt quer auf der Straße. Sie war nicht umge-
fallen. Niemand war ernstlich verletzt. Menschen rannten auf
ihn zu; ihre wütenden Gesichter schienen ihren Körpern vor-
auszueilen. Andere standen einfach da und glotzten die riesige,
mannsbreite Röhre an, die das Fahrzeug aufgehalten hatte, zwei
Sekunden bevor Cole zerquetscht worden wäre.
»Hee was zum Teufel «, brüllte der Schaffner und kam auf
Cole zugestürzt.
Ein Taxi wendete über den Mittelstreifen, nachdem es an Co-
le vorbeigefahren war, und bremste, so dass die Türen auf der
Fahrerseite einladend aufgingen. Cole schwang sich hinein und
das Taxi fuhr ruckartig an. Er saß keuchend auf dem Fahrersitz.
Es gab keinen Fahrer.
»City ...«, sagte Cole leise und schmeckte das Salz seiner ab-
surden Tränen auf der Zunge.
Das führerlose Taxi trug ihn davon. Wohin?, fragte sich Cole.
Zwei Blocks weiter blieb es stehen. Cole wandte sich um und
begutachtete das Wohnhaus im Tenderloin-Viertel. Hoch,
schmal, schmutziggelb. Die Ellis Street wimmelte von fremden
Menschen, aber Cole war nicht mehr allein. Er schloss die
Augen und spürte, wie sechs Straßen weiter südlich ein Hub-
schrauber von einem Dach abhob. In der Finsternis hinter
seinen Augenlidern konnte er die Autos der Pendler im Norden
und im Süden sehen, alle fuhren mit dem gleichen Abstand und
der gleichen Geschwindigkeit, als würden sie von einer unsicht-
baren Strömung getragen. Als wären die Autos einmal mehr
rote Blutkörperchen, die im Blutkreislauf schwammen. Er
spürte, wie ein Zug unter seinen Füßen hindurchfuhr, wie es in
den Röhren entlang der U-Bahn-Tunnel sprudelte und plät-
scherte, wie die Elektrizität in Tausenden von Kilometern
miteinander verbundener Kabel knisterte. Er konnte den rei-
ßenden Strom in den Abwässerkanälen riechen und die widerli-
chen Abgase tausender Verbrennungsmotoren, die sich mit
Hunderttausenden von Essensausdünstungen mischten. Für
Cole war das alles Parfüm.
Er öffnete die Augen und ging nach oben.
Er fand die Wohnung, indem er die Briefkästen absuchte.
Catz' Bassist hatte seinen Künstlernamen auf den Briefkasten
geklebt: I.M. Dedd. Apartment vierzehn. Cole stapfte durch den
heruntergekommenen, mit Weinflaschen und durchnässtem
Toilettenpapier übersäten Flur, betrat den schmiedeeisernen
Fahrstuhl, der mindestens achtzig Jahre alt war, und zog das
Gitter hinter sich zu. Er ignorierte das Schild, auf dem AUSSER
BETRIEB stand. Und der vor langer Zeit stillgelegte Fahrstuhl
bewegte sich ruckweise aufwärts, mit vor Rost kreischenden
Seilen und Rollen. Im zweiten Stock stieg Cole aus und schenkte
der alten Frau, die mit überquellenden Plastiktüten vor ihm
stand, ein angedeutetes Lächeln. »Das gottverdammte Ding hat
seit zehn Jahren nicht mehr funktioniert«, sagte sie und be-
trachtete ihn mit wässrigen Augen, als wäre er eine Kakerlake in
Menschengröße.
»Funktioniert immer noch nicht«, sagte Cole und drückte
sich an ihr vorbei. »Versuchen Sie nicht, damit zu fahren.« Und
dachte: Verflucht! Ich bin aufgefallen.
Der Flur stank nach Urin, Schimmel und Mäusen. Der Läu-
fer mochte einmal rotbraun gewesen sein; jetzt hatte er die
Farbe eines viel benutzten Lehmpfades angenommen.
Er fand Nummer vierzehn. Die Tür war nicht abgeschlossen;
er steckte den Schlüssel weg und trat ein.
Eine typische Zweizimmerwohnung: Wohnzimmer, Schlaf-
zimmer, Bad, Küchenzeile. Ein First Tongue-Poster löste sich
wie ein riesiges altes Heftpflaster von der brüchigen grünen
Wand. Sonst gab es nicht viel zu sehen. Ein Pappkarton mit
schmutzigen zerknitterten Kleidern, ein ausgefranster Gitarren-
gurt, leere Bierdosen, ein klobiges schwarzblaues Sofa mit
Backsteinen an Stelle von Beinen. Im Schlafzimmer lag eine
nackte Matratze voller Brandlöcher auf dem Boden, der beun-
ruhigend weit durchhing, daneben eine Spritze von der Dro-
genhilfe und ein Fernsehapparat ... ein altes Gerät aus einer
Zeit ohne Videotext und Cyberlinks. An der Seite gab es keinen
Kartenschlitz. Jemand (Catz?) hatte den Fernseher angelassen.
Der Ton war abgeschaltet, doch der Gouverneur hielt mit
lautlosem Elan eine Pressekonferenz und schaukelte vor dem
Wald von Mikrophonen auf dem Podium energisch vor und
zurück. Cole drehte den Ton auf und setzte sich auf die Matrat-
ze, die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Kinn in die Hand-
flächen gelegt. Er hörte mit halbem Ohr zu und wartete darauf,
dass City auftauchen würde. Der Gouverneur sagte gerade:
» ... ich halte es im Augenblick für höchst verfrüht, davon zu
sprechen, dass die Städte >sterben< ... obwohl sicherlich richtig
ist, dass die Städte sich verändern, und zwar in durchaus extrem
zu nennender Weise.« Der Gouverneur war noch jung und trug
sein farbloses Haar nach hinten gekämmt. Seine goldene Dril-
lingskrawatte hob sich elegant von seiner braunen Weste ab.
»Die derzeitige Entwicklung wird, äh, wohl noch zunehmen
und, wie Sie angemerkt haben«, er lächelte den Reporter an, der
die Frage gestellt hatte, »weist die Bevölkerungsentwicklung
einen Trend weg von den so genannten Ballungsgebieten auf.
Die Menschen verteilen sich weitläufiger. Die Telekom hat wie
immer die, äh«, an dieser Stelle räusperte er sich und warf einen
Blick auf seine Notizen, »hat wie immer die Zeichen der Zeit
erkannt und eröffnet nun eine Multifunktionsniederlassung, die
sich in neunzig separaten Zweigstellen überall auf die Vorstädte
verteilt, wobei sich jede Zweigstelle in der Wohnung von insge-
samt fünfundvierzig Managern und fünfundvierzig Assistenten
befindet, die alle über ein Fiberglasterminal verfügen.
Es gibt schlicht keine Verwaltungsarbeit, die nicht mit Hilfe
eines Techlink-Terminals bewältigt werden könnte. Und alles
kann schneller erledigt werden, da niemand mehr in irgendwel-
chen Verwaltungsgebäuden herumlaufen oder Formulare
ausfüllen muss. Langfristig wird dabei sogar Energie gespart,
denn niemand muss mehr durch die Gegend fahren. Die Liste
der Vorteile ist zu lang, als dass ich sie hier alle aufzählen könn-
te.«
Er warf einen Blick auf seine Notizen. »Aber was für Auswir-
kungen hat das? Da sämtliche Büroarbeit, alle finanziellen
Transaktionen und die gesamte Datenverarbeitung von Tech-
link-Terminals aus bewältigt werden kann, in Zusammenarbeit
mit ITC, und da sich diese Terminals um ein extremes Bei-
spiel anzuführen auf der anderen Seite des Planeten befinden
könnten und immer noch funktionieren würden, gibt es keinen
Grund mehr für die freie Wirtschaft, die diese, äh, Maschinen
verwendet, ihr Personal in den Städten zu konzentrieren ...
Lagerhaltung, Lebensmittelvertrieb, Transport all dies wird
zunehmend automatisiert ... Visionäre sehen für, sagen wir, das
nächste Jahrhundert eine Nation elektronisch verlinkter Klein-
städte voraus, ordentlich und mit viel Platz, sauber und wohn-
lich, ohne die Verhältnisse, die zu den bekannt erbärmlichen
Zuständen führen ... Diejenigen, die sich im Augenblick noch
von körperlicher Arbeit ernähren, werden auf den Solarzellen-
feldern oder den hydroponischen Farmen eine vergleichbare
Tätigkeit finden. Das System, das die Menschen in den Städten
zusammendrängt, erweckt den Eindruck, wir wären überbevöl-
kert. Dabei wird der größte Teil der verfügbaren Fläche in den
USA eigentlich gar nicht genutzt. Wenn die Menschen besser
verteilt «
»City«, sagte Cole und schluckte. Es kam sehr plötzlich.
City war da, der Gouverneur verschwunden. City war deut-
lich größer, als Cole ihn je gesehen hatte, seine reglosen Ge-
sichtszüge füllten den Bildschirm ganz aus. Seine verspiegelten
Augen blieben unergründlich. »Verstehst du?«, fragte City.
»Verstehst du?«
Cole schüttelte den Kopf.
»Du hast doch gehört, was er gesagt hat«, beharrte City. »Die
Leute von Techlink stecken mit ITC unter einer Decke, sie
haben die Hundesöhne in der Tasche. Der Gouverneur gehört
ihnen.« Citys Stimme zitterte vor unbändiger Wut. »War das
nicht offensichtlich?«
»Doch ...« sagte Cole nachdenklich. »Jetzt, wo du es sagst. Er
hat diese Dezentralisierungs-Geschichte wirklich heftigst ge-
puscht. Und natürlich hätten Techlink und ITC ein Monopol,
wenn das durchgeht, und alle wären von ihnen abhängig.« Cole
murmelte das monoton vor sich hin und dachte: City ist allum-
fassend, unzerstörbar, cool und doch menschlich, so perfekt wie
ein Filmstar. Wie kann Catz an ihm zweifeln?
Doch Cole war schlagartig wieder bei der Sache, als City sag-
te: »Es will uns töten.«
Cole fuhr leicht zurück. »Äh Wer? Wer will wen töten?«
City deutete ein Nicken an. »Die Verbindungen. Die Compu-
ter. Der Krebs in meiner Brust. Das muss alles zerstört werden
ITC, Techlink. Sie wollen die Menschen gleichmäßig über das
Land verteilen. Geometrisch ausgewogen wie Sechsecke in
einem Bienenstock.«
»Die Stadt ist auf ihre Art auch geometrisch«, sagte Cole re-
serviert.
»Die Geometrie der Stadt kommt von den Mauern, die durch
Konkurrenz entstehen, und das ist die Konkurrenz der privat-
wirtschaftlichen Unternehmen. Hier lässt Metall seine Muskeln
spielen die Alternative wird ruhig, effizient und stumpfsinnig
sein. Wenn ITC und Techlink sich durchsetzen, wird es für
Städte keinen Bedarf mehr geben. Uns wird niemand mehr
brauchen. Die Mafia ist begeistert von dieser idiotischen Gleich-
förmigkeit sie erleichtert es ihr, an uns heranzukommen, uns
wehrlos zu erwischen. Das organisierte Verbrechen gedeiht
unter dem Deckmantel der Ordentlichkeit, wenn es erst einmal
über eine legale Fassade verfügt «
»Das mag schon sein«, sagte Cole unsicher.
»Du glaubst mir nicht?« Citys Gesicht auf dem Bildschirm
dehnte sich aus, bis fast nichts mehr übrig war außer der Spie-
gelbrille, seinen Augenbrauen und seiner Nase.
Erschüttert richtete Cole sich auf und stützte sich auf seine
Ellbogen. »Klar doch. Ich glaube dir ich weiß nur nicht so
genau, ob diese Kleinstädterei es den Ganoven leichter machen
wird. Im Falle einer allgemeinen Dezentralisierung müssten sie
mit ihren Jungs eine ziemlich große Fläche abdecken. Ich habe
eher den Eindruck, dass Techlink in Konkurrenz zu ITC steht,
und «
City sagte: »Willst du mich wieder verraten?«
Cole erbebte angesichts dieses Vorwurfs und wandte seinen
Blick ab. »Hey, damit wollte ich nicht «
»Mit dieser Frau. Du bist weggegangen. In eine andere Stadt.
Ich hätte deine Hilfe gebrauchen können. Du hast auf sie ge-
hört. Was ist mit uns?«
Und da spürte Cole die wunderbar verseuchte, herrlich ver-
kommene, geschmeidige und doch scharfkantige Präsenz der
Stadt. Die Blaupausen hinter seinen Augenlidern, das Geflecht
der Macht und die Bevölkerungszentren, all das leuchtete in der
geistigen Finsternis. In Cole glühte das nicht in Worte fassbare,
tief greifende Gefühl vollständiger Zugehörigkeit und unzwei-
felhafter Identität, als er sagte: »Wir treten ihnen entgegen.«
Es musste eine Bombe sein. Es gab einige Orte, an die City
kaum herankam, in seinem Inneren, so wie ein Mensch nicht
die Funktion jedes einzelnen Organs steuern kann. City konnte
die Zugänge zum Computer öffnen, aber er konnte ihn nicht
zerstören. Nicht so, wie er eine Straße aufreißen oder einen
Laternenpfahl umwerfen konnte. Aber Cole diente als Citys
Hände.
City hatte die Bombe besorgt. Cole hatte sie aus einem
Schließfach im Busbahnhof geholt. Sie hatte die Form und
Größe einer Konfektschachtel, nur in braunes Papier einge-
schlagen. Sie passte unauffällig und bequem unter seinen Arm.
An einer Ecke befand sich ein schwarzer Knopf, der aus einem
sauberen Schnitt im Papier ragte, und auf diesem Knopf befand
sich ein weißer Strich. Wenn man den Knopf so drehte, dass er
auf ein schwarzes Kreuz zeigte, das auf das Papier gemalt war,
würde die Bombe nach einer Minute hochgehen.
Die Bombe war klein, aber äußerst wirkungsvoll. Zumindest
hatte City ihm das versichert.
Cole fragte sich nur kurzzeitig, wer welches menschliche
Werkzeug sie gebaut und wer sie für ihn bereitgelegt hatte.
Im Augenblick stand er vor einem niedrigen Gebäude aus
schwarzem Granitimitat: die Steuerzentrale der gesamten
Datenbanken von ITC. Aus Loyalität zu City (und in dem
Versuch, ITC zu diffamieren und seine eigenen Zweifel zu
beseitigen) stellte sich Cole den großen unterirdischen Compu-
ter als eine gigantische schwarze Spinne vor, die zwischen
Glasfaserkabeln hockte, ihrem elektronischen Netz ...
In seiner Vorstellung spürte er das Summen des riesigen
Rechners durch den Beton unter seinen Füßen hindurch. Er
stand wenige Meter von der Südseite des schmucklosen Gebäu-
des entfernt auf dem Bürgersteig und schaute sich um. Er trug
eine kurze schwarze Lederjacke, helle Jeans und Turnschuhe.
Keine Maske sie wussten, wer er war. Er stand im Dunkeln
unter einer kaputten Straßenlaterne und wartete.
Der Bürgersteig teilte sich, die City bot sich ihm dar. Der Be-
ton war mit einem kräftigen, aber kurzen Krach! aufgeplatzt.
Der Spalt wurde langsam größer, Zementbrocken verschwan-
den in der finsteren Öffnung und verursachten auf einer unbe-
kannten Oberfläche ein tickendes Geräusch. Der Riss wurde
breiter, ein darunter liegendes Stockwerk teilte sich und augen-
blicklich drang ein gelber Lichtstrahl nach oben. Cole schob die
Bombe in seine Jacke, neben die Pistole (von der er sich ge-
schworen hatte, sie nie wieder anzufassen). Mit einem Blick die
leere Straße entlang es war zwei Uhr morgens ging er auf
Hände und Knie und ließ sich in den Spalt hinab. Er sprang in
das gelbe Licht, auf verbotenes Gelände. Er landete auf den
Füßen und schaute sich um, während er nach seiner Waffe
tastete. Doch hier war niemand. Aufgeschreckt von einem
knirschenden Geräusch über sich sah er nach oben. Der Spalt in
der Decke schloss sich. Er starrte den Korridor entlang, in
Richtung des Granitgebäudes und der unterirdischen Compu-
terzentrale.
Der Flur war beängstigend breit und hell; er fühlte sich frem-
den Blicken ausgesetzt. Doch hier war niemand.
Er zog los, wobei er instinktiv leicht geduckt ging, obwohl
ihn das weder geräuschloser noch weniger auffällig machte. Er
kam an eine Kreuzung und schaute vorsichtig um beide Ecken,
fand jedoch nur leere Korridore vor.
Gelbe Lichtröhren und geflieste Böden zur Linken, Gelbe
Lichtröhren und geflieste Böden zur Rechten. Wohin sollte er
sich wenden? Wie zur Antwort blinkte links eine Lampe an und
aus danke, City. Er wandte sich nach links und zog seine
Pistole ein Stück heraus, sodass sie leicht in seiner Handfläche
lag.
Er konnte spüren, wie die City überall um ihn herum vibrier-
te, wie ihr Widerhall von dem unterirdischen Gang eingefangen
und verstärkt wurde. »Ich befinde mich unter seiner Haut«,
sagte er zu sich selbst. Er war von dieser enormen Intimität
ganz trunken. Daher stellte er sich nicht die Frage: Was zum
Teufel mache ich hier? Da noch nicht.
Noch eine Kreuzung. Rechts blinkte eine gelbe Lampe. Auf
einem Schild an der Wand stand: ITCCZ. Darunter wies ein rot
aufgemalter Pfeil nach rechts. Er wandte sich in diese Richtung.
Drei Schritte. Blieb stehen und packte die Waffe fester.
Der Autosecur rollte direkt auf ihn zu, leicht vornüber ge-
beugt, die segmentierten Arme schwankten träge hin und her.
»City«, flüsterte Cole. Das Ding rollte weiter auf ihn zu. »City?«
Es machte einen höflichen Bogen um ihn und fuhr davon.
Cole stieß pfeifend die Luft aus. »Danke.«
Am Ende des Flurs befand sich eine Tür mit Stahlbeschlägen,
die unpassierbar in die Wand zementiert war. In die Tür war
ein Fenster mit einer kugelsicheren Drahtglasscheibe eingelas-
sen. Er schlenderte hinüber, schaute hindurch und verfluchte
sein übersteigertes Selbstbewusstsein. Ein Wachmann mit einer
grauen Baseballkappe auf dem Kopf zog gerade seine Waffe.
Der Mann starrte ihn von der anderen Seite der Tür aus an.
Die Tür rollte langsam beiseite und glitt in die Wand hinein.
Als das Fenster vorbeischlitterte, sah Cole, wie der Wachmann
ihn überrascht anschaute. City hatte den Öffnungsmechanis-
mus in Gang gesetzt, das verwirrte den Mann. City würde auch
die Waffe des Wachmanns außer Gefecht setzen.
Und von Cole erwartete er, dass er diesen fremden Menschen
auf der Stelle niederschoss ... Cole zögerte, qualvolles Hadern.
Die Tür verschwand vollständig in der Wand. Der Wach-
mann betrachtete seine Waffe in höchster Verblüffung: Sie
funktionierte nicht. Hinter dem Mann ein langer Flur voller
Chromstahl und Lichtpunkte: der Zentralrechner.
Einen Augenblick lang herrschte völlige Stille, während die
beiden Männer einander unschlüssig gegenüberstanden. Der
Flur vibrierte, doch eigentlich war kein richtiges Summen zu
hören. Die Computer waren geradezu unheimlich still. Endlose
Reihen verchromter Geräte ruhig, kalt, ihrer selbst gewiss.
Schweigen in Chrom.
Der Mann tat einen Sprung und Cole hob die Pistole. Aber er
schoss nicht, denn der Wachmann war nicht in seine Richtung
gesprungen, sondern seitwärts, wahrscheinlich wollte er einen
Alarm auslösen. Einen Alarm, der nicht funktionierte. Als der
Wachmann das begriff, sagte er: »Verdammte Scheiße!« Aber es
schien ihn nicht weiter zu überraschen.
»Meine Kanone funktioniert«, sagte Cole und zielte damit auf
die Brust des Mannes.
Der Mann trat einen Schritt zurück, starrte auf die Pistole
und atmete schwer. Cole hatte jetzt Zeit zu registrieren, dass der
Mann jung und schlaksig war, braun gebrannt mit langen
Haaren. In seiner Freizeit ging er wahrscheinlich Surfen. Er sah
kräftig aus. Seine blauen Augen wurden schmal, und er fragte:
»Was was läuft hier? Was hast du vor?«
Cole biss sich auf die Lippen. Er spürte, wie City unsichtbar
neben ihm stand und drängte: Leg ihn um leg ihn um leg ihn um
leg ihn um ...
»Nein«, sagte Cole.
»Was?«, wollte der Mann erschrocken wissen. Seine Lippen
zitterten.
»Nichts. Wie viele Wachen gibt es noch?«
»Sechs. Die meisten sind oben, machen Pause.«
Sechs! City hatte einen guten Zeitpunkt abgepasst. »Leg dich
flach auf den Boden«, befahl Cole.
Der Mann gehorchte langsam. Irgendjemand wird sicher um-
kommen, wenn die Bombe hochgeht, dachte Cole, als er an dem
Wachmann vorbeiging und das Päckchen gegen ein verchrom-
tes Gerät lehnte. Er zögerte. Seine rechte Hand zitterte über
dem Knopf.
Er zögerte ... und etwas traf ihn von hinten: Er war erneut zu
selbstsicher gewesen. Er wurde mit dem Gesicht nach unten zu
Boden geschleudert und der Wachmann warf sich auf ihn. Er
spürte, wie sein Gegner die Finger seiner Schusshand zusam-
menquetschte, der sehnige Körper, die wütende Masse auf
seinem Rücken. Der Wachmann versuchte verzweifelt, Cole am
Boden zu halten, ihm die Pistole zu entwinden. Krampfhaft
drückte Cole zweimal ab. Die Schüsse erschreckten den Wach-
mann, sein Griff lockerte sich und Cole nutzte die Gelegenheit,
sich wegzurollen. Er hielt die Pistole fest umklammert und
sprang auf die Füße. Er drehte sich um, rannte durch die Tür
und sprintete den Flur entlang. Hinter sich hörte er Schreie. Die
anderen Wachen waren von den Schüssen alarmiert worden.
City würde die Stahltür rechtzeitig schließen das würde einige
von ihnen aufhalten. Cole keuchte, schmeckte Eisen, seine
Lungen brannten. Er donnerte den Flur hinunter und schlitterte
um die Kurven. Der Klang seiner hastenden Schritte war ihm
zuwider.
Über ihm in der Ferne jaulten Sirenen.
Cole wandte sich nach links, stürzte den Gang hinunter und
bog rechts ab. Er wusste nicht mehr so genau, wohin er rannte.
Eine Tür flog vor ihm auf. Er raste hindurch, ein paar Betonstu-
fen hinauf und fand sich in einem Heizungskeller direkt unter-
halb der Straße. Er schlängelte sich zwischen Röhren und
Leitungen hindurch, entdeckte eine Stahlleiter, kletterte unbe-
holfen hinauf die Pistole war ihm im Weg und griff mit der
linken Hand nach oben, um mit dem Rad der Bodenluke zu
kämpfen. Die Luke drehte sich und öffnete sich allzu leicht:
Citys Unterstützung. Er kletterte in die nächtliche Finsternis
hinauf und sog dankbar die kühle oberirdische Luft ein. Er
befand sich in einer Ladezufahrt hinter dem Gebäude aus
schwarzem Granitimitat. Lichter blitzten die Straße hinunter,
Sirenen rasten vorbei und heulten wie fliegende Gespenster, um
die Ecke ertönten Schreie. Ein Scheinwerferpaar schwenkte
bedrohlich in die Gasse ein. Das Fahrzeug füllte die schmale
Durchfahrt auf der ganzen Breite aus und raste auf ihn zu.
Panisch und fluchend suchte er nach einem Schlupfwinkel.
Umsonst. Das Auto fuhr weiter auf ihn zu. Seine Umrisse waren
im grellen Gegenlicht der Scheinwerfer kaum zu erkennen. Er
drückte sich flach gegen die Wand. Es blieb keinen halben
Meter vor ihm stehen. Die Scheinwerfer gingen aus. Ein leeres
Taxi mit einer offenen Tür. »Gott sei Dank«, keuchte Cole und
tapste durch den roten Nebel der Erschöpfung zur Fahrerseite.
Besser, er setzte sich auf den Fahrersitz, damit niemand das
führerlose Taxi bemerkte. Die Tür knallte zu, ein Gang legte
sich ein, die Scheinwerfer gingen an und das Lenkrad richtete
sich aus, während das Taxi rückwärts aus der Gasse und auf die
Straße fuhr.
Sie schossen nach rechts. Zu schnell, dachte Cole. Er wird
auffallen, wenn er sich so beeilt. Fast sofort hängten sich zwei
Streifenwagen an ihn dran. Das Taxi erhöhte seine Geschwin-
digkeit (sowohl Cole als auch City wussten, dass niemand diese
Kreuzung überqueren würde) und raste den fast leeren Boule-
vard hinunter. Lichter glitten Kometen gleich vorbei, im Wech-
sel mit schattigen Stellen, Licht/Finsternis/Licht/Finsternis, yin,
yang, yin, yang, Finsternis/Licht; und im Rückspiegel sah er die
wirbelnden Gummikugeln der beiden Streifenwagen wie zwei
rote dämonische Augenpaare Seite an Seite hinter ihnen her-
heulen. Citys Stimme drang aus dem Radio: »Du hast ihn nicht
umgebracht, und du hast die Bombe nicht scharf gemacht.«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich kein gottverdammter Ge-
heimagent bin«, sagte Cole, verletzt über die Andeutung eines
Treuebruchs.
Die Polizeifahrzeuge holten auf. Ein weiterer Streifenwagen
schoss aus einer Seitenstraße und schloss sich der Jagd an. Bald
würden sie vor ihm eine Straßensperre errichten.
City griff ein. Die Streifenwagen wurden langsamer, bis sie
fast standen, und fingen an, absurde Achter umeinander he-
rumzufahren, einer hinter dem anderen, unablässig im Kreis
herum. Cole schaute im Rückspiegel zu und lachte. Wie sie das
wohl in ihren Berichten erklären würden. »>Ich hatte das Ge-
fühl, der Wagen würde tanzen, Sir!<«, höhnte Cole.
Das Taxi blieb ruckartig stehen; Cole wurde nach vorne ge-
schleudert, packte hastig das Steuer und entging um Haares-
breite einer bösen Schädelprellung. Direkt vor ihnen blockier-
ten zwei Streifenwagen die Straße. Aus einem Lautsprecher
quäkte es: »BLEIBEN SIE, WO SIE SIND «
Plötzlich drang an Stelle der barschen Stimme Musik aus
dem Lautsprecher und die Fahrzeuge begannen im Kreis he-
rumzufahren, Schnauze an Hintern. Mainstreampop schallte
aus dem Lautsprecher, ein Stück, das vor einem Jahr ein Hit
gewesen war:
Come on baby let's go round and round
Come on baby all over town
Come on baby round and round ...
Cole saß lachend da, als das Taxi um die nächste Kurve bog.
Der Wagen hatte ein gemächlicheres Tempo eingeschlagen und
beförderte ihn zu der Wohnung im Tenderloin-Viertel. In
Coles Lachen lag eine Spur von Hysterie.
SIE-bähn!
Cole saß an einem finsteren Ort über der City, zwischen
Abfällen, und betrachtete den nächtlichen Lichterteppich der
Großstadt, der sich unterhalb des großen Fensters erstreckte.
Zu seiner Rechten: ein lautlos flackernder Fernsehapparat, der
unablässig lief. Zu seiner Linken: eine halb leere Literflasche
Bier und eine halb gerauchte Zigarre, deren Glut ihre Hitze
längst an die Welt abgegeben hatte. In seinem Schoß: eine
Waffe.
City hatte ihm ein leeres Penthausapartment in Rackham
Arms besorgt, um ihn vor der Polizei und den Vigs zu verstek-
ken irgendjemand würde mit Sicherheit sämtliche Örtlichkei-
ten durchsuchen, die mit Catz Wailen zu tun hatten. Der ei-
gentliche Mieter des Penthauses hatte den Sommer über die
Stadt verlassen; niemand schien Coles Kommen und Gehen in
Frage zu stellen, da der Besitzer die Wohnung regelmäßig an
Freunde verlieh. Das Apartment war gut mit Essen und Geträn-
ken ausgestattet, die Gefriertruhe war randvoll mit Fleisch, in
den Schränken drängten sich die Dosen. Als Cole die ver-
schwenderische Ausstattung und die von einem Innenarchitek-
ten gestalteten Räume sah, fasste er sofort eine Abneigung
gegen den Fremden, der hier zu Hause war. Vor einem Mann,
der nicht genug Einbildungskraft besaß, um seine eigene Woh-
nung einzurichten, hatte Cole keinen Respekt. Inzwischen
schmückten leere Dosen und Packpapier und Flaschen und
Geschirrstapel das Zimmer und lenkten etwas von den teuren
Möbeln ab.
Nachdem City ihm das Apartment besorgt hatte, war er ver-
schwunden. Cole war allein. Er fühlte sich vom urbanen Geist
umgeben wie vom Hintergrundrauschen eines Radios, doch
ohne klare Konturen. Cole wartete seit drei Tagen, er hatte die
Wohnung nicht ein einziges Mal verlassen. Er wartete auf eine
Nachricht von City. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick auf den
Fernseher in der Hoffnung, dass Citys unerschütterliche Ge-
sichtszüge dort auftauchten. Doch es war bereits Samstag und
er hatte noch nichts von ihm gehört. Die Ereignisse der vergan-
genen Woche hatten in Coles Erinnerung eine traumhafte
Qualität angenommen und er bekam allmählich Zweifel an der
Wirklichkeit außerhalb des Fensters eines Fensters, das eine
ganze Wand des Apartments einnahm. Tagsüber schlief er,
nachts stand er auf und wartete.
»Aufstehen und warten.« Cole führte wieder Selbstgespräche.
»Blöde. Blöde.« Er saß im Schneidersitz auf dem Teppich, dicht
an der Fensterfront. Das Zimmer war dunkel mit Ausnahme
des plasmisch blauen Flackerns des Fernsehschirms. Cole hatte
ihn auf schwarzweiß umgestellt die Farben lenkten ihn ab,
weckten in ihm die Ungeduld, in die Welt hinauszugehen. Er
lebte in einem Zwielicht des Wartens.
Seine Gedanken kehrten mit ärgerlicher Regelmäßigkeit zu
Catz zurück.
Er hatte die Nummer in Chicago angerufen, die sie ihm ge-
geben hatte. Sie war nie zu Hause. Einmal hatte sich eine ver-
schlafene männliche Stimme gemeldet und gefragt: »Häh, was?
Oh, sie hat irgendwo einen Auftritt. Werisndran?«
Die Stimme des Mannes klang eifersüchtig, also hatte auch
Cole Grund, eifersüchtig zu sein.
Cole schaute zum Fernseher hinüber. Jerome Jeremy, der
hermaphroditische Talkmaster, streichelte mit einer Hand ein
Voguersternchen und mit der anderen seine eigenen Brüste.
Cole gähnte. »Vielleicht«, erklärte Cole den Lichtern der City,
»will City mich wieder bestrafen. Vielleicht soll ich mir ja den
Kopf darüber zermartern. Vielleicht verlässt er mich ... aber
warum hat er mich dann hier untergebracht?«
»Gute Frage«, drang Citys Stimme aus dem Fernseher.
Cole wandte den Kopf. Citys Gesicht füllte den Bildschirm
aus. Eine Halluzination auf Grund des Mangels an äußerer
Wahrnehmung? Cole biss sich in einen Finger, der Schmerz
fühlte sich echt an.
Die Echtheit des Schmerzes war über jede Frage erhaben.
Also war City hier, und Cole sank in sich zusammen, plötz-
lich erschlafft. Ihm wurde bewusst, dass er die wachen Stunden
der letzten drei Tage in angespannter Erwartung zugebracht
hatte.
Cole richtete sich unsicher auf und trommelte mit den
Handflächen auf seinen Beinen herum, um seinen Kreislauf in
Gang zu bringen. Er näherte sich dem Fernseher, blieb einen
Augenblick davor stehen und betrachtete Citys Gesicht mit
einer Mischung aus Ehrfurcht und Abneigung. Dann ließ er
sich neben dem Apparat nieder. Es war unangemessen, dass er
auf City herabschaute. Ich gehöre ihm, dachte Cole. Catz hatte
Recht.
»Beim Chronicle arbeitet ein Mann, der fürs Feuilleton
schreibt, aber auch vor Ort recherchiert«, sagte City. »Er heißt
Barnes. Rudolph Barnes.«
Hungrig hing Cole an jeder einzelnen Silbe, forschte nach
Betonungen, nach Anzeichen von Anerkennung oder Missbil-
ligung. Citys Stimme klang kalt, allerdings nicht kälter als sonst.
Cole konnte sich auf nichts verlassen.
City fuhr fort: »Barnes weiß über Rufe Roscoe und die Vigs
Bescheid, teilweise sogar über dich. Er weiß, dass sie nach dir
suchen. Er kennt die Mafia-ITC-Connection die allerdings
allgemein kaum noch ein Geheimnis ist. Er will für die landes-
weiten Medienagenturen eine große Enthüllungsgeschichte
schreiben. Ich möchte, dass du ihn anrufst und dich mit ihm
triffst. Sei vorsichtig, denn das wird morgen im Laufe des Tages
über die Bühne gehen müssen. Im Augenblick ist er in Santa
Cruz. Er wird morgen wieder in San Francisco sein, bis morgen
Nachmittag. Du hast nur wenige Stunden. Triff dich mit ihm,
erzähle ihm, wo Rufe Roscoes Bänder liegen und was du sonst
noch weißt aber kein Wort über mich. Davon würde er sich
nur sehr schwer überzeugen lassen, und ich möchte mich ihm
nicht zeigen ihm fehlt jegliche Voraussetzung. Er ist kein
Einwohner von San Francisco «
Cole hatte den Eindruck, dass in Citys Stimme Verachtung
schwang.
» er kommt aus New York und ist seiner Stadt loyal. Also,
spür ihn auf er wird dir helfen. Ruf den Chronicle morgen
früh um neun an. Und geh schlafen.«
»Cit«
Doch er war bereits verschwunden.
Er war verschwunden; aber er war gekommen, er hatte mit
ihm gesprochen. Stuart Cole weinte vor Erleichterung.
Trotz der niedrigen Auflösung des Vidphon-Bildschirms konn-
te Cole erkennen, dass Barnes ein rotgesichtiger Mann war,
ebenso hager wie gesund, fast ohne Kinn und mit einer gedrun-
genen Nase. Doch sein Blick war lebhaft und eindringlich, und
unter dem dünnhaarigen, nervösen Äußeren eines Mittvierzi-
gers vibrierte eine Berufung. Er war der richtige Mann für diese
Aufgabe.
»Ja? Bitte?«, fragte Barnes mit kratziger Stimme.
Cole atmete tief durch und legte los: »Ich heiße Cole. Stuart
Cole. Ich weiß, was Sie über ITC und Rufe Roscoe wissen, und
ich kann Ihnen noch einiges mehr erzählen.«
»Hören Sie, Kumpel, es ist Sonntag«, sagte Barnes mit einem
übertriebenen Aufseufzen. »Ich versuche mir den Sonntag
freizuhalten. Ich bin nur wegen einer kurzen Konferenz hier
und dann fliege ich «
»Also sparen wir uns diesen Quatsch«, sagte Cole. »Dafür
habe ich keine Zeit.« Ihm war klar, dass Barnes ihn nur auflau-
fen ließ, um seine Reaktion zu testen. Er wollte herausfinden, ob
Cole ein Spinner war oder wirklich etwas wusste. »Ich mache
Ihnen nichts vor, und ich lasse mich nicht so schnell abwim-
meln.«
Cole rutschte unbehaglich hin und her, als Barnes ihn über
den Bildschirm unverblümt musterte. Coles Haarschnitt war
eher konservativ; er hatte im Schrank einen höchst konventio-
nellen Anzug gefunden, und er trug eine blau getönte Brille er
wäre in jeder Menschenansammlung unsichtbar gewesen.
Trotzdem war er nervös. Er stand in einer öffentlichen Telefon-
zelle in Chinatown, und hier drehten Polizeistreifen mit schö-
ner Regelmäßigkeit ihre Runde. Ein Cop, der gerade ein Fahn-
dungsfoto von ihm gesehen hatte, könnte ihn auf Anhieb er-
kennen.
»Sie sehen zumindest aus wie Cole«, sagte Barnes.
Cole erschrak. »Sie haben ein Bild von mir gesehen?«
»Klar, wir bekommen die ganzen Fahndungsfotos. Sie stehen
ganz oben auf der Liste, Freundchen. Ich zumindest werde Sie
bezahlen. Wenn Sie mir entsprechende Daten rüberschieben,
wird Ihre Kreditwürdigkeit von hier bis Fort Knox reichen,
jedenfalls soweit es an mir liegt.«
»Am Broadway«, sagte Cole, »gibt es ein Restaurant, das
heißt Luigi's.«
Barnes nickte. »Wann?«
»So bald wie möglich. Ich werde das Haus im Auge behalten,
und wenn die Luft rein ist, komme ich rüber, sobald ich Sie
sehe. Tragen Sie nichts Auffälliges.«
»Okay. Hören Sie, sollte ich nicht «
»Die Polizei anrufen?«
»Nein.« Barnes grinste. »Nein, ich wollte sagen, sollte ich
nicht etwas mitbringen, das meine Story später belegt? Einen
Camcorder?«
»Nein. Das würde nur Aufmerksamkeit erregen. Ich werde
Ihnen sagen, wo Sie Ihre Beweise herbekommen.« Cole drückte
auf den Unterbrechungsknopf und wandte sich vom leeren
Bildschirm ab. Er trat in den strahlenden Sonnenschein und
blinzelte. Er hatte sich an das Nachtleben gewöhnt. Die Sonne
brannte ihm in den Augen und er musste Tränen wegzwinkern.
Er gähnte. Er hatte nicht genug geschlafen. Langsam ging er den
Hügel hinunter und versuchte wie ein Geschäftsmann auszuse-
hen, der nach einem chinesischen Restaurant Ausschau hält.
Er schleppte sich durch die mittägliche Menschenmenge den
Berg hinauf, verlor sich in einem zähen Lavastrom aus Touri-
sten. Zur Linken marschierten ärmellose Hemden und Sonnen-
brillen; zur Rechten randalierten hupende Autos. Die heiße Luft
roch nach Schweiß, Rasierwasser, verschiedenen Parfüms und
Deodorants, Fisch und scharf gewürzten Gerichten in den
chinesischen Lebensmittelläden. Straßenverkäufer boten An-
denken und Eiscreme feil und versuchten, mit ihrem Kreischen
das auf- und abschwellende Lied der Straße an einem Sommer-
tag in Chinatown zu übertönen: »Schön kühle Eiscreme!«
Als er den Broadway erreichte, war er unter seinem warmen
Anzug durchgeschwitzt und flüchtete sich dankbar in den
Schatten einer Markise gegenüber von Luigi's. Er stand mit dem
Rücken zu einem Feinkostgeschäft und starrte mit gespielter
Gleichgültigkeit durch den Vorhang von Menschen, die auf
dem Bürgersteig vorbeihasteten. Er konnte den Eingang von
Luigi's sehen, doch die Sonne in seinem Rücken verwandelte
das Fenster des Restaurants in eine undurchsichtige weiße
Fläche. Barnes war höchstwahrscheinlich noch nicht dort.
Jetzt hatte Cole das Gefühl aufzufallen, weil er sich vom
Hauptstrom der Straße gelöst hatte. Er rieb sich die Hände an
seiner Hose ab: Er war nervös und ängstlich, und als er das
bemerkte, wurde er noch nervöser und ängstlicher, da er be-
fürchtete, jemand könnte ihn misstrauisch beobachten. Seine
Anspannung wuchs und er musste sich wiederholt ermahnen,
nicht über seine Schulter zu blicken.
Ein Streifenwagen fuhr langsam die Straße entlang. Coles
Hände ballten sich zu Fäusten. Er starrte stur geradeaus. Das
Auto fuhr vorbei, doch seine Nervosität nahm noch zu.
Um sich abzulenken, dachte er an Catz. Hier in der Nähe
hatten sie in einem Café gesessen, sich über einander Gedanken
gemacht. Er lächelte leise, als er an die darauf folgende Nacht
dachte. So alt war er noch gar nicht.
Er benutzt dich, hatte sie gesagt.
Cole hatte keine Lust mehr, an sie zu denken.
Ohne besonderen Grund zumindest bewusst behielt Cole
zwei Männer im Auge, die auf der anderen Straßenseite an
einer Ecke neben Luigi's standen. Der eine trug ein geblümtes
rotblaues Hemd, eine Kamera hing an einem Riemen um seinen
Hals. Er hatte Badeshorts und Sandalen an. Er war jung und
kräftig, und es kam Cole seltsam vor, dass er sich wie ein Tou-
rist mittleren Alters gekleidet hatte. Neben ihm stand ein großer
Mann mit einer dunklen Brille, geschlitzten Hosen und einer
Jacke, die wie Coles Jackett bei diesem Wetter zu warm war.
Irgendetwas an seiner Haltung war seltsam. Cole schaute ge-
nauer hin. Er schien sich nach links zu neigen, die rechte Seite
hatte er Cole zugewandt und angesichts seiner Schräglage
hätte er eigentlich umfallen müssen. Cole beobachtete ihn
weiter, den Kopf geradeaus gerichtet, die Blickrichtung seiner
Augen hinter den bläulichen Brillengläsern verborgen. Der
Mann drehte sich leicht nach rechts und warf Cole einen Blick
zu. Cole hatte den Eindruck, dass seine Augen kurz an ihm
hängen blieben und dann allzu schnell weiterhuschten. Cole
konnte jetzt erkennen, dass sich der Mann auf einen Spazier-
stock stützte. Er war noch ziemlich jung für jemanden, der
einen Stock benötigte, dachte Cole. Ein dritter Mann trat zu
ihnen.
Der dritte Mann der einen gepflegten blauen Anzug trug
erweckte den Eindruck, als würde er die beiden kennen, sagte
jedoch nichts. Nicht einmal hallo, zumindest bewegte er nicht
die Lippen. Und Cole hatte den Eindruck, dass alle drei in seine
Richtung sahen, immer mal wieder.
Cole atmete schwer und spürte, wie der Schweiß über seinen
Adamsapfel in seinen Kragen lief. Wer sind die Kerle?
Den Mann mit dem Stock glaubte Cole schon einmal ir-
gendwo gesehen zu haben: Es lag nicht so sehr an seinem Ge-
sicht, sondern an seiner Größe, an der Haltung seiner Schul-
tern, seinem kantigen Kinn. Wie jemand, an den er sich aus
einem Traum verschwommen erinnerte. Wo hatte er ihn schon
einmal gesehen?
Der Stock. Das kaputte linke Bein. Der Mann hielt den Stock,
als hätte er sich noch nicht an ihn gewöhnt. Seine Hand glitt
unruhig am Griff hin und her. Das linke Bein einer der Vigs
im Haus in Berkeley, wo sie Catz festgehalten hatten, hatte sich
einen Schuss ins Bein eingefangen. Der Einzige, der überlebt
hatte. Der Einzige, der Cole wieder erkennen würde.
Cole wandte sich um und stürzte sich auf ein Taxi, das in die
Sutter einbog.
Eine Frau, die einen Kinderwagen mit einem fetten Baby
schob, drängelte sich zwischen ihn und das Auto. Fast wäre er
über sie geflogen, er entschuldigte sich, sprang zur Seite, und
das Taxi war verschwunden. Jemand tippte ihm von hinten auf
die Schulter. Cole grabschte in seiner Jacke nach der Pistole und
wirbelte in Erwartung eines Schlages herum. Barnes grinste ihn
an. »Sind wir ein bisschen nervös?«, sagte er.
Cole schaute zu Luigi's hinüber. Die drei Vigs waren von der
Ecke verschwunden. Cole sah, wie sie voller gespielter Gemüts-
ruhe die Straße überquerten.
»Dort drüben wartet ein Taxi auf mich«, sagte Barnes. »Ich
dachte mir « Barnes deutete auf ein gelbes Taxi.
Cole sprintete los.
Hinter sich hörte er jemand rufen. »Hee!«, und das war nicht
Barnes' Stimme. Er packte den hinteren Türgriff der Taxe, riss
die Tür auf und hörte den Fahrer sagen: »Hey, ich bin schon
besetzt «
»Geht klar, er gehört zu mir«, sagte Barnes und drängte sich
hinter Cole ins Auto.
»Bitte fahren Sie los!«, rief Cole mit weit aufgerissenen Au-
gen und beobachtete einen Polizisten, der von hinten auf sie
zugerannt kam. Er betete, dass der Fahrer den Cop nicht sah.
Das Taxi fädelte sich in den Verkehr ein, fuhr über eine gelbe
Ampel und den Broadway hinunter. »Fahren Sie Richtung, äh,
Coit Tower«, sagte Cole. Er hatte das erste Ziel genannt, das
ihm eingefallen war. Der Fahrer nickte.
»Darf ich dem entnehmen, dass wir gerade nicht alleine wa-
ren?«, forschte Barnes.
Cole nickte. »Vielleicht sind wir es immer noch nicht. Sie
werden uns folgen.«
Barnes seufzte vernehmlich. »Junge, Junge, hoffentlich sind
Sie kein Spinner.«
»Ich bin ein Spinner«, sagte Cole beiläufig. »Aber ich werde
Ihnen trotzdem die Wahrheit sagen.«
»Aber woher wussten die Typen, wo sie uns finden konn-
ten?«
Cole runzelte die Stirn. »Ehrlich gesagt wollte ich Sie das fra-
gen.«
Barnes hob die Augenbrauen. »Erzählen Sie weiter.«
»Tja ITC ist überall, fast buchstäblich. Bei uns in diesem
Taxi « Er wies auf das ITC-Terminal der Taxe. »Und, äh, wie
sind Sie auf den Gedanken gekommen, dass Sie in der Gegend
herumlaufen und Fragen über sie stellen könnten, ohne aufzu-
fallen?«
»Aber woher wissen die, wo wir ... ?« Barnes starrte Cole mit
offenem Mund an. »Mein Vidphon. Wahrscheinlich wird es
abgehört.«
Cole nickte. »Wahrscheinlich schon lange.«
Inzwischen fuhren sie steile Bergstraßen empor, durch ein
Villenviertel, unter an Smog verreckten Blättern hindurch, zum
Coit Parkgelände hinauf.
Ein weiteres Taxi fuhr ihnen hinterher, die sonnenweiße
Straße entlang. Cole behielt es eine Weile über die Schulter im
Auge. Drei Gestalten, den Fahrer nicht eingerechnet. »Viel-
leicht«, sagte er und wandte sich wieder nach vorne, »sollte ich
Ihnen jetzt alles erzählen ... Punkt eins, Rufe Roscoe hat alle
seine Treffen mit seinen Komplizen auf Video aufgenommen.«
Barnes rieb sich über seine zerfurchte Stirn. »Das ist nicht
besonders klug von ihm.«
»Ich weiß. Scheint jedenfalls so. Aber vielleicht hat er ja gute
Gründe. Jedenfalls bewahrt er die Bänder in einem Tresor auf,
und wenn jemand einen entsprechenden Durchsuchungsbefehl
bekommen könnte der von einem Bezirksstaatsanwalt kom-
men müsste , dann hätte er die ganze Organisation an der
Gurgel ...«
Cole bemerkte, dass der Taxifahrer sie im Rückspiegel beo-
bachtete. Das runde Gesicht und die umschatteteten Augen des
schwarzen Fahrers zeigten heftigstes Misstrauen. »Was zum
Donner ist los mit Ihnen beiden?«, fragte der Mann hastig.
Seine Augen schnellten vom Spiegel zur Straße und wieder
zurück.
»Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram.«
Der Taxifahrer schüttelte den Kopf. »Moment, können Sie
überhaupt die Fahrt bezahlen? Sie reden ziemlich verrücktes
Zeug. Letzte Wochen haben mich zwei Typen zusammenge-
schlagen und gezwungen, ihnen meine gottverdammte Uhr zu
geben, die ich seit zwölf Jahren habe «
»Kommen Sie schon, das wird wohl kaum zweimal hinter-
einander passieren«, sagte Cole müde.
Der Taxifahrer fuhr rechts ran. Cole warf einen Blick über
die Schulter. Das andere Taxi hielt ebenfalls.
»Dann zahlen Sie jetzt und auf der Stelle. Irgendwas. Ich hab
so ein Gefühl ... Ich weiß immer, wenn jemandem seine Karte
abgelaufen ist. Ich hab da einen Riecher für«, sagte der Fahrer
gereizt.
Barnes schnaubte und holte seine Karte aus der Brusttasche
seines nur mäßig ausgefüllten Golfhemdes. Er drückte seinen
Daumen auf das temporäre Abdruckpad auf der Inhaberseite,
hinterließ einen kurzfristigen Daumenabdruck und reichte dem
pummeligen Fahrer die Karte. Der Mann schob die Karte in das
Terminal und wartete. Auf dem winzigen Bildschirm erschien:
KONTO AUFGELÖST. Cole und Barnes starrten überrascht
darauf.
»Aber ich hab zweitausend Steine auf diesem Konto!«, brüllte
Barnes. »Ich habe erst heute Morgen mein Frühstück damit
bezahlt «
Cole schüttelte resigniert den Kopf. »Sie stehen auf der
schwarzen Liste. Die haben mitbekommen, dass Sie mit mir
unter einer Decke stecken. Sie hassen mich.«
»Hör mal zu, Kumpel«, sagte der Taxifahrer wütend und
hielt inne und starrte an seinen Fahrgästen vorbei durchs Heck-
fenster. »Wer zum Teufel sind diese Wichser? Hee, der Schwei-
nehund hat eine Knarre!«
Barnes warf sich auf den Boden des Fahrzeugs. Cole fuhr mit
der Hand an seine Pistole. Er zog sie hervor, starrte sie an und
überlegte, ob er sie je wieder würde einsetzen können. Er schau-
te sich panisch um. Sie standen auf einer schmucklosen Allee:
Große Wohnhäuser aus Ziegelstein, einige mit Efeu bewachsen,
drängten sich auf beiden Straßenseiten aneinander. Ein Mann
sah aus einem Fenster; als sich ihre Augen trafen, zog er den
Vorhang zu. Cole schaute in den Rückspiegel. Die drei Männer
waren vielleicht noch zehn Meter vom Wagen entfernt. Zwei
von ihnen setzten zum Sprint an, der dritte stapfte mit seinem
Stock hinterher. Alle drei waren bewaffnet.
Da Cole wusste, dass er sich nicht überwinden konnte, die
Pistole zu benutzen, richtete er sie auf den schwitzenden, glot-
zenden Taxifahrer und brüllte: »Raus hier, verschwinde!«
Der Mann gehorchte und rief zum Abschied noch: »Fickt
euch doch, ihr verrückten Pleitegeier!« Cole kletterte auf den
Vordersitz, warf die Waffe auf den Beifahrersitz und gab Gas,
schleuderte den Wagen in eine holperige Kehrtwende, biss die
Zähne gegen die reißende Fliehkraft zusammen und fuhr auf
die drei Männer zu, die jetzt breitbeinig vor seiner Motorhaube
standen. Einer warf sich zur Seite, der andere hob eine nach
einer Luger aussehende Waffe, um direkt durch die Wind-
schutzscheibe zu schießen. Cole schloss die Augen vor Mün-
dungsfeuer und fliegenden Glassplittern; etwas stach ihm in die
Wange. Mit geschlossenen Augen trat er das Gaspedal durch.
Das Auto holperte zweimal, die Räder kreischten matschig über
etwas hinweg; ein weiterer Schuss von der Seite Cole hörte,
wie das linke hintere Fenster zu Bruch ging und ein Wimmern
vom Rücksitz. Er öffnete gerade noch rechtzeitig die Augen, um
zu sehen, wie sich ein Streifenwagen quer über die Straße stellte.
Cole riss das Lenkrad blind nach rechts. Auf dem Bürgersteig
sprang ihm jemand aus dem Weg. Es gab einen zähneklappern-
den Ruck, das vordere Ende wurde in die Höhe geschleudert, als
der Wagen den Bordstein rammte, mit zwei Rädern auf dem
Bürgersteig am Heck des Streifenwagens vorbeifuhr und um die
Kurve schoss. Aus allen Richtungen waren Sirenen zu hören ...
Sirenen sind die Hintergrundmusik meines Lebens, dachte
Cole.
Die Straße stürzte in aberwitzigem Tempo an ihm vorbei.
Die Autos auf der Gegenspur hupten. Die Fahrzeuge vor ihm
wichen nach rechts und links aus, um aus der Bahn des
wahnsinnigen Taxis zu kommen, das sie im Rückspiegel heran-
rasen sahen. Cole hupte ununterbrochen, um die Leute aus dem
Weg zu scheuchen. Aus dem Taxifunk ertönte statisches Rau-
schen und Stimmensalat. Cole steuerte mit einer Hand, über-
fuhr rote Ampeln und setzte auf sein Glück. Ihm kam eine Idee.
Er streckte eine Hand nach dem Taxifunkgerät aus, drückte die
Sprechtaste und brüllte: »City! Du kannst tagsüber nicht ein-
greifen, aber mit mir reden kannst du! Also sprich mit denen!
Kannst du die Cops nicht auf eine falsche Fährte setzen? Pfeif
sie zurück! Führ sie in die Irre! Spiel Polizeifunkzentrale!«
»Ja ...«, drang eine bekannte eisige Stimme durch das
Durcheinander auf der Frequenz des Taxifahrers.
Die Sirenen entfernten sich. Der Wind blies ihm durch das
kaputte Fenster ins Gesicht, Glasscherben klirrten auf dem
Boden. Cole fuhr zum Bahnhof. Dort hielt er an, stellte den
Motor ab und lehnte sich zurück. Sein Atem ging schwer, er
zitterte und ließ dem Adrenalinstoß seinen Lauf. Einen Augen-
blick lang wurde ihm schwindlig. Dann fiel ihm Barnes ein.
»Hey hey, Barnes oh Himmel, was hatte ich Schiss ... Aber
ich bin nicht schlecht gefahren, oder? Himmel, man weiß
einfach nicht, wozu man fähig ist, bis man «
Er hielt inne und musste an den Schuss denken, der das Sei-
tenfenster durchschlagen hatte. Und an das Wimmern vom
Rücksitz. Cole wandte sich nicht um. Er konnte sich einfach
nicht überwinden hinzuschauen. »Barnes?«, rief er mit rauer
Stimme. »O Gott, es tut mir Leid. Es tut mir Leid, Barnes.«
Schließlich musste er hinschauen. Vielleicht musste Barnes
ins Krankenhaus.
Cole wandte sich um.
Barnes hatte den größten Teil seines Kopfes verloren.
Und am meisten Angst machte Cole, dass ihn der Anblick
eines gewaltsamen Todes nicht mehr erschütterte.
Er ließ das Taxi stehen und ging, erschöpft und mit trübem
Blick, zum Bahnhof.
Cole ließ das Telefon am anderen Ende klingeln, obwohl es
bereits dreißig Mal geläutet hatte.
Es klickte und eine schläfrige Stimme sagte: »Yeah.«
Coles Herz pochte. »Oh äh Catz?«
»Stu?«
»Ja warum stellst du das Bild nicht an?«
»Oh, meine, hm, Bildröhre ist hinüber das Telefon ist
ziemlicher Schrott.«
»Kannst du mich sehen?«
»Nein ...«
Cole fragte sich, ob sie die Bildfunktion nicht eingeschaltet
hatte, weil sie nicht wollte, dass er den Mann neben ihr im Bett
sah.
»Na was läuft so?«, fragte sie.
Cole lachte humorlos. »Ich weiß kaum, wo ich anfangen soll.
Äh nimm den Ohrstöpsel.«
»Okay«, sagte sie.
Also war jemand bei ihr. Sonst hätte sie gesagt, dass sie den
Ohrstöpsel nicht brauchte. Das geht mich nichts an.
Schnell und mit mechanischer Stimme erzählte Cole, was
geschehen war, seit sie San Francisco verlassen hatte.
Als er fertig war, herrschte Schweigen.
Schließlich sagte er mit grimmigem Humor: »Und wie
läuft's so in Chicago?«
Als sie wieder sprach, hörte er an ihrer Stimme, dass sie
weinte. »Gottverdammt, Stu. Du steckst in einem Irrenhaus.
Jetzt überfährst du schon Leute, und um dich herum werden sie
erschossen, und er lässt dich Bomben legen, von denen du nicht
mal weißt, was sie auslösen. Du machst mich krank, Mann.
Verdammt, Stu.«
In der darauf folgenden Pause zischte die Leitung vor sich
hin.
Bis Cole voll Bitterkeit sagte: »Catz ich habe solche Angst.
Aber ich kann hier nicht weg. Ich brauche dich. Bitte «
»Nein. Verschwinde von dort. Du musst von ihm wegkom-
men. Er benutzt dich. Ich möchte nicht, dass du den letzten
Rest deiner selbst verlierst komm schon, es ist doch offen-
sichtlich, oder? Ich meine, City hat Angst davor, dass die urba-
ne Konzentration aufgebrochen und über das ganze Land
verteilt wird, wenn Techlink und ITC die derzeitigen Verhält-
nisse überflüssig machen. Er weiß, dass Städte überflüssig sind.
Für ihn ist diese Mafiageschichte nur eine Rechtfertigung er
würde das so oder so machen, gerechtfertigt oder nicht. Für die
Stadt ist es Zeit zu sterben, Stu, und du musst von dort ver-
schwinden, wenn du nicht mit ihr untergehen willst.«
»Aber das kann ich nicht!«, rief Cole aufbrausend. »Ich brau-
che dich, aber ich muss « Er hielt inne. Er hörte ein seltsames
Geräusch ... Das Freizeichen.
A-A-acht!
Das Penthausapartment stank. Es war mit Schmutzwä-
sche, Einwickelpapier und schimmelnden Konservendosen voll
gestopft. Perverserweise fand Cole Gefallen an dem Geruch. Er
war in der Stimmung für etwas negative Untermalung.
Gott sei Dank war es Nacht.
Er hatte seit drei Tagen nicht geschlafen. Es war Mittwoch-
abend und er hatte ungeduldig auf den Einbruch der Nacht
gewartet. Er fühlte sich nicht mehr wohl, wenn City im Verbor-
genen war ...
Er hatte die Vorhänge vor der Glaswand zugezogen und ging
davor auf und ab, rang die Hände und schaute immer wieder
durch den Schlitz im Vorhang war die Sonne schon unterge-
gangen? Ja, sie war untergegangen.
Und dann spürte Cole sie, die langsame Schwingung einer
Präsenz, deren Wellenlängenfrequenz anstieg, sein Rückgrat
hinauf vibrierte und eine Blaupause in seinem Kopf aufleuchten
ließ: die Nervenbahnen der City über die seinen gelegt.
»Cole ...«
Cole lief zum Fernsehapparat und ging vor Citys elektroni-
schem Götzenbild in die Hocke. »Cole«, wiederholte City, als ob
er den Namen genießen würde. »Geh heute Nacht nicht in die
Stadt; du musst dich ausruhen. Morgen wirst du einen Ausflug
unternehmen. Aus der Stadt hinaus.«
»Nein!« Cole setzte sich auf. Er zitterte. »Nein ich fühle
mich ganz nutzlos ... wenn ich dich verlasse ... Ich glaube, ich
würde durchdrehen. Letzte Woche wäre mir das noch möglich
gewesen. Aber jetzt ist alles anders.« Er legte die Stirn in Falten,
versuchte nachzudenken: Was war anders geworden?
»Wir stehen einander näher«, sagte City und sprach damit
aus, was Cole hatte in Worte fassen wollen. »Da Barnes tot ist,
musst du das erledigen. Ich schicke dich zum Assistenten des
Bezirksstaatsanwalts.«
»Ich hör mal, könnten wir das nicht so drehen, dass er
hierher kommt? Irgendwie fällt mir hier alles leichter. Jetzt.
Selbst tagsüber ich habe dieses Taxi vor ein paar Tagen wie
wie ein professioneller Stuntman gefahren. Weil ich dir näher
stehe und die Straßen und die Autos auf den Straßen fast ein
Teil von mir sind. Aber außerhalb der Stadt «
Cole gab auf. City war unbeugsam. Es war sinnlos, mit ihm
zu diskutieren. »Muss ich ...«, setzte er zögernd an und wandte
den Blick von den vorwurfsvollen Augen auf dem Bildschirm
ab. »Muss ich, äh, am Tag zu ihm gehen?«
»Ich fürchte schon. Das ist die beste Zeit, um ihn zu erwi-
schen. Ich habe für dich einen Termin gemacht er geht davon
aus, dass du jemand anders bist als in Wirklichkeit.« Fast lächel-
te City. »Jemand Wichtiges.«
»Aber « Cole setzte sich hektisch auf, ihm war ein berech-
tigter Einwand gegen seinen Ausflug eingefallen. »Aber ich
kann gar nicht ins Büro des Bezirksstaatsanwalts gehen, weil ich
von der Polizei gesucht werde, und bei dem ganzen Chaos, das
ich verursacht habe, sind sicherlich die Behörden im ganzen
Land alarmiert worden. Selbst wenn du mich unter falschem
Namen hinschickst, wird mich mit großer Wahrscheinlichkeit
jemand erkennen. Und im Laufe der Geschichte muss ich ihn
auf jeden Fall wissen lassen, wer ich bin, um den Beweisen eine
gewisse Glaubwürdigkeit zu verleihen man muss belegen
können, dass man der ist, der man zu sein vorgibt, sonst ent-
behrt die Geschichte vor Gericht jeglicher Grundlage.«
»Ich merke schon, dass du über die neusten Entwicklungen
nicht auf dem Laufenden bist«, sagte City.
Cole rümpfte die Nase. »Ich habe keine Nachrichten gesehen.
Ich will nichts über die ...«
»Die Schießereien? Da hättest du dir keine Sorgen machen
müssen. Darüber wurde nicht berichtet. Mit Ausnahme von
leisen Anspielungen auf einen Bandenkrieg. Kein Wort über
dich. Die wenigsten Polizisten wissen, wer du bist. Überleg mal
sie sind ja nicht alle korrupt. Leute wie Barnes gibt es bei den
Bullen und bei den Zeitungen. Nimm mal an, du wirst festge-
nommen und so jemand verhört dich und glaubt deine Ge-
schichte zumindest so weit, dass er zu den Bundesbehörden
geht ... ITC will auf keinen Fall, dass du aussagst, so oder so,
von anderen Stellungnahmen ganz zu schweigen. Die Cops, die
über dich Bescheid wissen, haben letzten Sonntag Befehl erhal-
ten, dich ohne Zögern zu erschießen, ob du Widerstand leistest
oder nicht. Eine Entschuldigung werden sie dann schon fin-
den.«
»Sie kehren es unter den Teppich? All die Menschen, die ge-
tötet worden sind?«, fragte Cole. Doch im Grunde war er nicht
überrascht.
City starrte ihn nur an.
Schließlich nickte Cole. »Wo und wann?«
»Sacramento, Justizministerium, Zimmer vier, fünfzehn Uhr.
Dein Zug geht Punkt zwölf.«
»Aber was soll ich ihm erzählen?«
»Im selben Schließfach, aus dem du auch die Bombe geholt
hast, befinden sich ein Fahrschein und eine Aktentasche. Darin
sind nach Roscoes Videoaufnahmen entstandene Abschriften
von einem entscheidenden Treffen sowie ein Teil der entspre-
chenden Aufzeichnung, um sie zu verifizieren. Das sollte ein
Anfang sein, auch wenn alles auf illegalem Wege erworben
wurde und nicht als Beweismittel gilt.«
»Wie erworben?«, fragte Cole gespannt. »Ich möchte den
Mann kennen lernen, der die Sachen in das Schließfach legt, der
sie für dich besorgt wir könnten einander helfen ... und
reden.«
»Nein«, sagte City. Sein Bild wurde schwächer. »Das ist kein
Mann. Es ist ein Autosecur. Nur eine kalte Maschine. Ihr hättet
wenig gemeinsam.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, murmelte Cole vor sich hin,
als Citys Bild vom Schirm verschwand. Nur eine kalte Maschine.
Cole war froh, dass er einen Fahrschein Erster Klasse und damit
Anspruch auf eine Schlafnische hatte. Denn von dem Augen-
blick an, als er die unterschwellige, aber allgegenwärtige Reich-
weite von Citys Bewusstsein verließ, war ihm übel. Selbst hier,
im beruhigenden, schaukelnden Dämmerlicht der Schlafnische,
litt er Qualen. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere,
fühlte sich in diesem Augenblick eingesperrt, im nächsten
entsetzlich ungeschützt. Aber vor allem fühlte er sich schreck-
lich einsam. Sein Bauch war eine einzige schmerzende Grube.
»Scheiße«, sagte er laut, kaute auf seinem Daumennagel und
starrte in die zwielichtigen Ecken des kleinen Raumes. »Ich
benehme mich wie ein Kind.« Er versuchte in dem regelmäßi-
gen wrrr-klick-wrrr-klick des elektrischen Zuges Trost zu
finden. Er sehnte sich nach einem Drink. Bei dem Treffen
würde er jedoch auf der Hut sein müssen. Auch wenn es ihm
helfen könnte, sich ein bisschen zu betäuben. Nur ein bisschen.
Jede Vibration des Zuges schien in der Leere in seinem Inneren
ihren Wiederhall zu finden.
Er schüttelte sich wütend und schwang sich aus dem Bett,
schob sich durch die Vorhänge seiner unteren Koje und kam
auf die Füße, wobei er in dem schmalen Durchgang zwischen
einem Dutzend verschlossener Kojen hin und her schwankte. Er
machte sich auf den Weg zum Salonwagen und dachte: Nur
einen oder zwei. Irgendwer wird mich doch zu einem Drink
einladen.
Im lauten, windigen Übergang zwischen zwei Wagen begeg-
nete Cole einem Mann mit einem gegabelten Bart. Er hatte ein
blasses Gesicht und war klein und schlank. Die hinter einer
Sonnenbrille verborgenen Augen erregten seine Aufmerksam-
keit die Spiegelbrille erinnerte ihn an City. Der Mann trug
sein Haar kurz und auf seine Schläfen waren Malteserkreuze
gebleicht worden. Er hielt etwas unter seinem Armeemantel
versteckt, als Cole den dröhnenden Verbindungsgang betrat.
Cole blieb stehen und begutachtete ihn. Zwischen ihnen fand
ein stiller Austausch statt, dann entspannte sich der Mann. Er
nahm seine Hand von der Brust seines Mantels, so dass Cole
das Tablettenfläschchen sehen konnte, das er umklammert
hielt. Sie waren sich noch nie begegnet, aber sie kannten einan-
der: Cole war der Käufer, der Fremde war der Dealer. Ihr Stra-
ßeninstinkt sorgte dafür, dass sie einander augenblicklich
erkannten, obwohl Cole seit Jahren keine Drogen mehr gekauft
hatte. »Irgendwas anzubieten?«, fragte Cole und vergaß für den
Moment, dass er kein Konto mehr hatte.
»Thrilitiums«, antwortete der Mann. »Langzeitberuhigungs-
mittel. Vier pro Stück.«
Cole dachte nach. Er hatte kein Konto, keinen Kredit, nichts.
Aber er besaß eine goldene Uhr, die er in einer Schublade im
Apartment gefunden hatte, eine teure Digitaluhr mit eingebau-
tem Rechner und Empfangsgerät. »Ich hab nur das«, sagte er,
zog die Uhr ab und reichte sie hinüber.
Das Gesicht des Mannes zeigte keine Regung, aber seine
Stimme klang zu gleichgültig, als er sagte: »Ja, gut die dürfte
drei wert sein.« Obwohl sie beide wussten, dass sie über drei-
hundert wert war.
Cole zuckte die Achseln und nickte. Der Mann gab ihm drei
Thrilithiums, die Cole zu seiner letzten Zigarre in die Plastik-
hülle steckte. Dann ging er schnurstracks zum nächsten Was-
serhahn und schluckte alle drei Tabletten. Er kehrte zu seiner
Schlafnische zurück, legte sich hin und dachte: Wie komme ich
vom Bahnhof zum Justizministerium? Ich hab keine Karte, um
ein Taxi zu bezahlen.
Er legte sich hin und sank in einen herrlichen, betäubenden
Morast.
Wie sich herausstellte, war der Bahnhof nur einen Fuß-
marsch vom Büro des Bezirksstaatsanwalts entfernt, ungefähr
anderthalb Kilometer. Benommen taumelte Cole durch einen
Dunstschleier aus Betäubungsmitteln die Straße hinunter. Die
Aktentasche baumelte an fast kraftlosen Fingern und gelegent-
lich stieß er mit Leuten zusammen. Wiederholt schaute er sich
nach Straßenschildern um, betrachtete den Adresszettel in
seiner verschwitzten Hand und kämpfte sich zum Gebäude-
komplex der Regierung vor.
Wie ein Schlafwandler betrat er das Wartezimmer des Assi-
stenten des Bezirksstaatsanwalts, und fast wäre er hingefallen.
Die Sekretärin sah ihn misstrauisch von oben bis unten an. Cole
lächelte ihr zu (er hoffte, dass es ein Lächeln war seine Ge-
sichtsmuskeln waren nicht eben in Bestform) und sagte undeut-
lich: »Tschuldigung, ich bin etwas groggy, hab ein paar ...
Erkältungstabletten genommen, offenbar bin ich da empfind-
lich.«
Sie nickte langsam. »Kommt vor.«
»Würden Sie Faraday bitte sagen, dass ich da bin?«
»Sir, das habe ich bereits. Sie heißen Stuart Cole und arbeiten
als Sonderermittler für den Stadtkämmerer von San Francisco?«
»Ja«, sagte Cole und schwankte hin und her. Er konnte sich
nicht daran erinnern, ihr das gesagt zu haben, doch offensicht-
lich hatte er. Dann wurde ihm plötzlich klar: Der Dealer hatte
Langzeitberuhigungsmittel gesagt. Also bekam er vermutlich
jetzt erst die volle Wirkung des Trilithiums ab ... Cole murmel-
te »verfickter Scheiß« vor sich hin. Er hoffte, dass er den Termin
überstehen würde.
»Vielleicht möchten Sie Platz nehmen «, setzte die Sekretä-
rin an. Doch eine Stimme aus einem versteckten Lautsprecher
auf ihrer Schreibtischoberfläche sagte: »Schicken Sie ihn her-
ein.«
Sie wandte sich wieder ihrem Datenschirm zu und wies mit
erhobenem Daumen auf eine Tür zu ihrer Rechten.
Cole ging unsicher an ihr vorbei und versuchte, nicht die O-
rientierung zu verlieren. Seine Beine waren weit, weit weg.
Gegenstände am Rande seines Blickfeldes schienen miteinander
zu verschmelzen. Er schob sich durch die Pendeltür und betrat
Faradays Büro. Der Mann hinter dem großen Chrom- und
Plastholztisch schien im Nebel zu verschwinden Cole blinzel-
te, doch der Nebel wurde nur noch dichter. Die Droge. Cole
konnte Faraday nicht klar erkennen, hatte jedoch den Eindruck
eines knochigen, reservierten Mannes, der sein dichtes schwar-
zes Haar in einer Neopompadour-Frisur trug. »Ist mit Ihnen
alles in Ordnung, Mr. Cole?«, erkundigte sich Faraday mit
ziemlich jugendlicher Stimme.
»Ja ... ich habe eine schlimme Erkältung ... die Medikamen-
te, Sie wissen sicher, wie das ist. Ach « Cole starrte ihn an und
versuchte den echten Faraday von den beiden anderen Faradays
in dem Dreifachbild zu unterscheiden, das er sah. Er blinzelte
mehrmals und konzentrierte sich aus drei Faradays wurde
einer. Cole trat einen linkischen Schritt vor und donnerte den
Aktenkoffer auf Faradays Schreibtisch, nestelte am Verschluss,
bekam ihn schließlich auf und holte die Papiere und das Video-
band heraus, die er auf den Schreibtisch Faraday direkt unter
die Nase legte. »Am besten kommen wir gleich zur Sache«, sagte
Cole. »Mir geht es nicht besonders. All dies sind Beweise für «
Er suchte nach Worten. »Für Korruption innerhalb der Polizei
von San Francisco und der Geschäftsstelle von ITC in San
Francisco namentlich Rufe Roscoe ...«
»Ich weiß«, unterbrach ihn Faraday hastig, »über Ihre Be-
hauptungen Bescheid.« Er blätterte die Abschriften durch, Seite
um Seite sprangen seine Augenbrauen in die Höhe.
Cole stellte sich erst viel später die Frage, woher Faraday über
seine »Behauptungen« Bescheid wusste.
»Nun gut«, Faraday nickte, um zu zeigen, wie sehr ihn das
Material beeindruckte, auch wenn er es wie Cole fand nur
sehr oberflächlich durchgesehen hatte. »Das muss ich mir
genauer anschauen. Ich werde mir den Rest des Nachmittags
dafür Zeit nehmen und mich heute Abend mit meinen Jungs
vom Geheimdienst darüber unterhalten. Wenn Sie mich bitte
jetzt entschuldigen würden? Wenn ich all das unter die Lupe
nehmen soll, muss ich mich gleich dranmachen. Leider habe ich
zur Zeit schrecklich viel zu tun. Äh könnten Sie morgen
wiederkommen?«
Cole öffnete den Mund, um zu antworten, und schloss ihn
dann wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Morgen? Das würde
bedeuten, dass er eine Nacht und einen Teil des Tages von City
getrennt sein würde eine abstoßende Aussicht. Doch ihm
blieb keine Wahl. Er versuchte Zeit zu gewinnen und schaute
sich im Büro um. Durch den Drogennebel konnte er einen
Kommunikationsbildschirm erkennen, neben dem ein Metall-
schrank stand, eine Art Maschine.
»Mr. Cole?«
Cole blickte erschrocken auf. »Oh o ja, dann wohl mor-
gen.«
Er drehte sich ruckartig auf dem Absatz um und hätte fast
das Gleichgewicht verloren, als der Schwung ihn einholte. Die
Kombination von Schlafmangel und Trilithium hatte ihn in
eine unbeholfene Marionette verwandelt. Er riss sich zusammen
und stolperte durch die Tür ins Wartezimmer und blieb
abrupt stehen. Was hatte er vergessen? Den Aktenkoffer? Den
konnte er morgen mitnehmen. Etwas anderes. Er hatte verges-
sen, für seinen Folgetermin eine Uhrzeit auszumachen.
»Sir?« Die Stimme der Sekretärin hinter ihm. Darin lag eine
Spur von Verachtung. Wahrscheinlich hielt sie ihn für betrun-
ken.
Ihm war nach Lachen zumute. Er würde sich auf ihren Schoß
setzen, damit sie seinen Atem riechen und sich davon überzeu-
gen konnte, dass er er konnte sich gerade noch zurückhalten
und schüttelte heftig den Kopf. »Geh noch mal rein und mach
einen Termin aus«, redete er sich zu. Er drehte sich vorsichtig
um und stapfte durch den Treibsandteppich zurück in Faradays
Büro.
Faraday stand neben der quadratischen grauen Maschine
(die in die Wand eingebaut war, das Maul und eine Reihe von
Wählscheiben die einzigen Armaturen) und schaute nicht auf,
als Cole hereinkam. Er fütterte etwas in die Maschine, während
er mit dem Kommunikationsbildschirm zu seiner Linken
sprach. Auf dem Bildschirm befand sich ein Gesicht, das Fara-
day beobachtete das Gesicht von Rufe Roscoe. Roscoe sagte
gerade: »Wenn Sie sicher sind, dass alle beizeiten hier eintref-
fen, dann machen Sie sich weiter keine Sorgen, packen Sie den
Kram einfach «, er brach ab. Auf seinem Bildschirm irgendwo
in San Francisco hatte er Cole bemerkt, der hinter Faraday
stand. »Verdammt!«
Cole starrte Faraday an. Der Assistent des Bezirksstaatsan-
walts fütterte die Abschriften, die Cole mitgebracht hatte, in die
Maschine, einen Papierschredder. Er hat einen in seinem Büro
stehen, dachte Cole. Gut vorbereitet, das Kerlchen. Laut sagte
Cole: »Sie hoffen wohl auf das Amt Ihres Vorgesetzten «
Er konnte die Männer nicht sehen, die ihn von hinten pack-
ten, aber er wehrte sich immerhin so sehr, dass einer von ihnen
ihm einen Schlag auf den Kopf versetzte. Und gerade, als er
dankbar das Bewusstsein verlor, dachte er: Das sind Bullen, und
sie werden mich umbringen.
NEU-ihn!
Die Betonwand der Zelle schien alle Wärme aus ihm
herauszusaugen. Draußen war die Nacht mild. Hier in der Zelle
im Stadtgefängnis von Sacramento fühlte Cole sich arktischen
Stürmen ausgesetzt. Zitternd knöpfte er den obersten Knopf
seines Hemdes zu.
Als er bei Einbruch der Finsternis mit pochendem Schädel
aufgewacht war, hatte er sich überlegt, dass sie ihn nur deswe-
gen nicht umgebracht hatten, weil es zu viele Zeugen gab, die
ITC gegenüber nicht loyal sein mochten. Cole war sicher, dass
sie ihn umbringen würden. Normalerweise wäre ein bewusstlo-
ser Gefangener aufs Krankenrevier gebracht worden. Sie woll-
ten nicht, dass ein Arzt seine Verlegung nach San Francisco
verzögerte.
Cole saß auf dem Rand seiner schmuddeligen Pritsche und
nickte düster. Sie würden den gestellten Fluchtversuch und die
Erschießung am Morgen in die Wege leiten, während der
Verlegung. Das war nur logisch.
Er wickelte sich die grobe Gefängnisdecke um die zitternden
Schultern, schloss die Augen und lauschte auf die nächtlichen
Geräusche von Sacramento, die durch das vergitterte Fenster
oberhalb der Straße zu ihm drangen. Er ließ seine Gedanken
treiben, ließ sich vom abgehackten Lied der Stadt in den Schlaf
wiegen, suchte Trost in der surrenden Präsenz einer Stadt, die
so sehr der seinen glich und doch so anders war. Doch etwas
erkannte er wieder: ein Gefühl unsichtbarer Zusammenhänge.
Er versuchte sich auf das zarte Muster zu konzentrieren ...
»Hier drüben.« Die Stimme einer Frau von der stahleinge-
fassten Tür her.
Cole blickte zum vergitterten Fenster in der Tür. Er konnte
nicht klar sehen. Catz?
Er sprang auf, lief zur Tür und ließ die Decke von seiner
Schulter gleiten.
Doch die Frau an der Tür war ihm fremd. Ihr Haar war auf
eine Seite geworfen, die rot gefärbten Fransen flossen schüch-
tern über ihre nackte Schulter. Das grellgrüne hautenge Kleid
zeigte eine ihrer Brüste, auf der lässig eine weiße Hand ruhte,
die Fingernägel spiegellackiert. Sie war füllig, die ursprüngliche
Farbe ihres herzförmigen Gesichts unter totenstarreblauer
Hauttusche begraben. Ihre Augen verbargen sich hinter einer
umlaufenden Spiegelbrille. Cole wusste, dass sie eine Hure war,
das erkannte er nicht an Kleidung und Make-up eine Vogue-
rin mochte das grelle Aussehen einer Hure nachahmen ,
sondern an ihrer Haltung: Sie war zugleich verführerisch und
widerspenstig. Noch etwas war seltsam an ihr: Da war ein
gewisses unerschütterliches Selbstbewusstsein, eine Andeutung
verborgener Dimensionen. Die ganze Kombination von Merk-
malen war ihm so erst ein Mal begegnet.
»City?«, fragte Cole zögernd.
Sie lächelte, kaum wahrnehmbar. Die Bewegung ihrer Ge-
sichtshaut glich der Zeitlupenaufnahme einer Marmorwand, die
sich bei einem Erdbeben wölbt. Sie war hart, hart.
»City?«, fragte Cole, nun fast sicher.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« Ihre Stimme klang rauchig,
neckend, weise. »Der Ort bin ich nicht. Ich bin anderswo.«
»Wie wie bist du hier reingekommen?«
»In dieser Stadt kann ich kommen und gehen, wie es mir ge-
fällt. Fast. Ein paar Stellen sind auch mir nicht zugänglich.«
»Sie wissen nicht, dass du hier drin bist?«, fragte Cole.
»Sie wissen nicht, dass ich hier bin ... Sie wollen dich um-
bringen, Cole.«
»Das dachte ich mir ... sie haben sich nicht die Mühe ge-
macht, mir meine Rechte vorzulesen. Kein Telefongespräch.
Wahrscheinlich haben sie mich bloß nicht erledigt, weil «
» sie die Verantwortung lieber den San Franciscoer Bullen
überlassen, falls es eine Panne gibt«, beendete sie für ihn den
Satz und nickte.
Cole spuckte auf den Boden. »Wie weit reicht Roscoes Ein-
fluss?«, fragte er.
»Bis nach Redding, zumindest in diesem Bundesstaat. Aller-
dings versucht die Mafia ITC überall zu infiltrieren. Mit ge-
mischtem Erfolg. Sie werden bald eine ziemliche Überraschung
erleben, wenn der Rest von uns die Orte sich vernünftig
organisieren.«
»Was meinst du damit?«
»Ich meine Tod. Ich meine zerschmettern und zerfleischen
und Gliedmaßen abtrennen. Starkstrom und reißende Flüsse.
Alles sehr effizient und zielgerichtet. Tod den richtigen Leuten.«
Cole wurde übel von ihrem unbeteiligten Ton. »Aber wir müs-
sen uns erst auf eine Zusammenarbeit einigen. Ich fürchte,
deine dein City arbeitet nicht mit uns anderen zusammen. Er
ist ziemlich zwanghaft. Er weigert sich, loszulassen. Deine
Freundin hat dich gewarnt das weiß ich, weil sie mit Chicago
spricht, und Chicago spricht mit mir.«
»Du meinst Catz?«, fragte Cole und packte das Gitter mit
feuchten Händen.
»Ja. Sie hat zu Chicago ein enges Verhältnis.«
Coles Gedanken wirbelten und kamen langsam zur Ruhe, als
die Bedeutung all der scheinbar beiläufigen Bemerkungen der
Frau zu ihm durchdrang. Und Cole wusste: »Du bist Sacramen-
to.«
Sie nickte.
»Und alle großen Städte verfügen über Selbsterkenntnis, äh
Persönlichkeit? Und können sich physisch manifestieren?«
»>Manchmal< beantwortet beide Fragen.«
Cole atmete lang und keuchend aus. »Dann kannst du
mich hier rausholen?«
»Ja wenn du mir etwas versprichst.«
»Ja.«
»Versprich mir, dass du versuchst City zu überzeugen, mit
uns zusammenzuarbeiten beim Großen Kehraus. Er weiß, was
damit gemeint ist ... Wenn er mit uns in engerem Kontakt
stehen würde, hätten wir ihm sagen können, dass dein Ausflug
sinnlos ist, dass Faraday gekauft worden ist ...«
»Versprochen.«
Und süß wie der Kuss eines Kindes schwang die Zellentür
auf.
Der Betonkorridor war leer bis auf eine umherflatternde
Motte. Cole folgte ihr Sacramento zu einer kahlen Wand am
Ende des Korridors. Als schnitte sie Stücke aus einer Torte, zog
Sacramento große Steinblöcke aus der Mauer unter ihren
Fingern schienen sie zu poröser Geschmeidigkeit zu schmelzen.
Cole wollte helfen und holte sich nichts als Schrammen. Für ihn
war die Wand so massiv wie eine massive Wand ... Methodisch
zerlegte sie die Barriere und stapelte die Steinblöcke ordentlich
aufeinander, bis sie einen Durchgang in eine Seitengasse ge-
schaffen hatte.
Dann führte sie ihn in die Nacht hinaus. Ein führerloses Taxi
brachte sie zum Bahnhof; der Mitternachtszug nahm gerade
Fahrgäste auf.
Sie küsste ihn zum Abschied, ihre Lippen auf seinen Wan-
gen.
Die Haut auf seiner Wange brannte, als hätte er sie auf Trok-
keneis gedrückt.
Catz.
Sie wartete auf dem Bürgersteig vor seinem Hotel auf ihn. Es
war vier Uhr morgens. Citys Präsenz nahm ab. Der Morgen
schlug einen Bogen über die Stadt wie der Schwenkarm eines
Radaroszilloskops. Es wurde merklich heller, sogar während er
da stand und sie wortlos anschaute.
Er schüttelte den Kopf.
Er war aus dem Gefängnis geflohen, aus einer Falle, die töd-
lich gemeint war. Catz war hier, und er war wieder bei City.
Das konnte nicht von Dauer sein.
Dann vergeude es nicht, sagte er sich und ging auf sie zu.
Sie umarmten sich. Coles Müdigkeit, die ihn noch vor weni-
gen Augenblicken hatte taumeln lassen, verflog beim Anblick
von Catz, die im läuternden Licht der Morgensonne stand,
umgeben von schwindenden blauen Schatten. Der Tau um ihre
Stiefel verdunstete und schwebte als Nebel empor. Jetzt, mit ihr
im Arm, blies er vor Erstaunen über die Vielfalt der Gefühle, die
in ihm aufstiegen, seine Backen auf ... Sie schien seltsam klein,
knochig, substanzlos unter ihrer Lederjacke, im Gegensatz zu
der monumentalen Größe, die sie in seiner Erinnerung hatte.
Er trat einen Schritt zurück, hielt sie auf Armeslänge und be-
trachtete sie. Ihre goldbraunen Augen waren groß, die Pupillen
weit von den Schatten, durch die sie gegangen war. Ihre Haare
waren zerzaust; sie trug kein Make-up, ein paar Narben zeich-
neten sich eindrucksvoll auf ihren Wangen ab und verliehen ihr
ein wunderbar tragisches Aussehen. Sie presste die Lippen fest
aufeinander, als wollte sie ihr Zittern unterdrücken und nicht
zeigen, wie froh sie in Wirklichkeit war, ihn zu sehen. Sie trug
uralte zerrissene anliegende Jeans und ein T-Shirt unter ihrer
geflickten Jacke. Neben ihr auf dem Bürgersteig stand ein
Matchbeutel mit weißer Sprühschablonen-Aufschrift: ANAR-
CHIE.
Sie wies mit einem Nicken in Richtung des Hotels. »Be-
kommst du uns beide da hinein?«
»Ja ...« Er räusperte sich. »Ja, um diese Zeit gibt es keinen
Portier mehr. Die Tür lässt sich durch einen Schlüssel und
einen Stimmabdruck öffnen. Das hat City für mich geregelt.
Aber es funktioniert nur einen Monat lang, bis der eigentliche
Mieter zurückkommt.« Er stand da und betrachtete sie. Die
morgendliche Kälte steckte ihm arthritisch in den Fingerknö-
cheln. Er konnte sich nicht überwinden, zum Haus zu gehen
und damit die Stimmung zu zerstören.
Catz nahm ihm das ab, als sie sagte: »Himmel, nun mach
schon«, sich bückte und ihren khakifarbenen Matchbeutel über
die Schulter warf. Sie richtete sich auf. »Ich bin ziemlich fertig.
Bin mit dem verdammten Greyhound gefahren. Die sind noch
schlimmer geworden, seit ich ein Mädchen war. Kaum zu
glauben.«
Ein Teil seiner Müdigkeit kehrte zurück. Er kramte eine volle
Minute in seiner Jackentasche, bis er den Schlüssel fand. Ge-
meinsam gingen sie auf die Glastüren zu. Er steckte den Schlüs-
sel ins Schloss und sagte: »Bewohner.« Ein Klicken. Er zog den
Schlüssel ab, und die Tür schwang vor ihm auf ...
Während sie im Aufzug nach oben fuhren, erzählte er ihr, so
gut er das durch den verschwommenen Nebel aus Müdigkeit
hindurch konnte, wen er in Sacramento getroffen hatte. Seine
Beschreibung der Frau, die eine Inkarnation von Sacramento
war, faszinierte sie. »Ich würde sie gerne kennen lernen«, sagte
sie fast ehrfürchtig. »Die Apotheose aller Huren.«
»Wie sie mir gesagt hat scheinst du ein enges Verhältnis zu
Chicago zu haben. Wahrscheinlich könntest du auch mit Sa-
cramento in Verbindung treten. Ich glaube, für dich würde sie
ihre menschliche Gestalt annehmen.« Der Aufzug stieg Stock-
werk um Stockwerk empor. Es war seltsam, sich um halb fünf
Uhr morgens in einer aufwärts fahrenden Kiste zu befinden.
»Wie hast du herausbekommen, wo ich bin?«
»Chicago hat sporadisch Kontakt mit City. Anscheinend ist
San Francisco ein ziemlicher Einzelgänger ... Du hast gesagt,
ich könnte mit Sacramento in Verbindung treten. Als ob es für
dich nicht in Frage käme, mich zu begleiten. Denn dann müss-
test du hier weggehen, als ob dieses Loch ein verdammtes
Paradies wäre «
»Hey, lass mich bloß in Ruhe!«, fauchte Cole. »Ich hab seit
Tagen nicht geschlafen außer als ich für ein paar Stunden
bewusstlos war, und das war nicht eben erfrischend. Ich sehe
Sterne, und ich bin dieser Diskussion jetzt einfach nicht ge-
wachsen.«
Catz starrte geradeaus auf die graue Stahltür. Wie auf ihren
Blick hin öffnete sich die Tür auf das oberste Stockwerk, und
Cole führte Catz den Korridor hinunter zur Tür des Penthausa-
partments. Sie ließen ein weiteres elektronisches Öffnungsritual
über sich ergehen und traten ein. Catz holte scharf Luft. »Bäh
... Abfälle!«
»Tut mir Leid. Ich weiß, dass es stinkt. Irgendwie war das
Absicht. Hat wohl zu meiner Stimmung gepasst ... Ich « Er
holte tief Luft. »Ohne dich ging es mir ziemlich elend.«
Sie berührte ihn ganz sanft an der Wange und schüttelte voll
trauriger Zuneigung den Kopf.
Dann ließ sie ihre Tasche fallen und ging ans Fenster, um die
Vorhänge aufzuziehen. »Nicht!«, schrie Cole. »Die Sonne
scheint!«
Sie ließ den Arm sinken, den sie nach dem Vorhangknopf
ausgestreckt hatte, und warf ihm einen angewiderten Blick zu.
»Es ist bloß, äh «, stammelte er. »Ich habe nicht geschlafen,
meine Augen brennen. Ich mag jetzt kein grelles Licht ... bevor
ich mich ausgeruht habe.«
Sie verzichtete darauf, seine Begründung anzufechten.
»Na, dann komm.« Sie watete durch das Chaos zum Schlaf-
zimmer. »Gehen wir schlafen. Meine Batterien sind alle.«
»Ja«, sagte er und folgte ihr, erleichtert, der Auseinanderset-
zung entronnen zu sein. »Ich bin auch völlig fertig.«
Sie zogen sich im dämmerigen Licht des Schlafzimmers aus,
legten sich auf die nackten Laken und sonnten sich in der
Anwesenheit des anderen. Cole hatte das Gefühl, in der Matrat-
ze zu versinken. Schläfrig hörte er Catz zu, drückte sie an sich
und starrte in das Nichts an jenem Nicht-Ort hinter seinen
Augenlidern.
» ... obwohl es mir seltsam vorkam«, sagte Catz, »dass mich
City durch Chicago wissen ließ, wo ich dich finden würde. Er
hat mich auch nicht daran gehindert herzukommen. Ich meine,
er wollte mich doch eindeutig aus dem Weg haben, bevor ...
Fast könnte man meinen, er möchte einlenken. Aber vielleicht
ist das nur vorübergehend. Vielleicht schenkt er uns etwas, weil
er vorhat, uns noch mehr zu nehmen ... Oder er weiß, dass ich
nicht lange bleiben kann. Ich muss zurück und versuchen,
diesen Plattenvertrag unter Dach und Fach zu bekommen ...«
»Reine Spekulation«, murmelte Cole in den feuchten Kopf-
kissenbezug neben seinen Lippen.
»Ich meine also wie lange noch, Stu?«, fuhr sie fort. Sie
gähnte. »Wie lange hältst du noch durch? Menschen sind nicht
dafür geschaffen, so zu leben, wie du es tust. Auf Dauer funk-
tioniert das nicht, Mann. Du wirst wie all die anderen marschie-
renden Matschköpfe auf der Straße enden, die durchgeknallten
Schizos, die Leute anschreien, die gar nicht da sind, und mit
Laternenpfählen streiten und mit den Armen wedeln das
muss doch irgendwann aufhören. Du kannst nicht bis in alle
Ewigkeit hier bleiben. Und ich muss immer an das Gespenst
deiner selbst denken, das du getroffen hast. Ich meine wo soll
das alles enden, Stu?«
Er antwortete nicht, zog es vor, sie glauben zu lassen, er wäre
eingeschlafen.
Eine Minute später war er das auch.
Sie verschliefen den ganzen Tag. Als Dämmerung die Vorhänge
verfinsterte, standen sie auf, duschten und zogen saubere Ba-
demäntel an. Blaue Seide mit den Initialen eines Fremden auf
der Brusttasche.
In stillschweigendem Einverständnis räumten sie die Woh-
nung auf und warfen Armladungen voll Abfall in die Entsor-
gungsklappe. Cole bemerkte, dass Catz Telefon und Fernseher
ausgestöpselt hatte. Er sagte nichts; er konnte spüren, wie City
jenseits der Vorhänge und Fenster vor sich hin brütete.
Es war Nacht geworden, und jetzt hatte Catz etwas dagegen,
die Vorhänge aufzuziehen.
Sie griff in ihren Matchbeutel, holte ein Abspielgerät und ei-
nen Stapel Kassetten heraus und drehte die Lautstärke bis zum
Anschlag auf.
Auf dem Band befand sich eine Mischung verschiedener
Künstler, beliebt und unbekannt, alt und neu. Die Musik wurde
zu einem vernunftbegabten Wesen, das den Wänden neue,
lebendige Bedeutung verlieh. Der Rhythmus, der nimmermüde,
ewige Rhythmus. Ein Song aus den Achtzigern, The Odds:
»Sex-Changed Bitch«
Doesn't matter if it makes you sick
it's all the same, to her tricks
I met her in a leather bar
she took me home to show me her scars . . .
Catz tanzte, Cole mixte Drinks. Cole war zu gehemmt, um
nüchtern zu tanzen. Eine warme Düsternis verwischte die
Ecken des Wohnzimmers, die Möbel schienen in Schatten
gehüllt. Cole fühlte die Anziehungskraft der Stadt ums Haus
rotieren: Er kam sich vor wie die Achse, um die sich die City
drehte. Dennoch mixte er die Drinks und sah Catz zu. Sie hatte
ihren Bademantel aufgehen lassen und tanzte wie besessen, nass
vor Schweiß. Cole hatte den Eindruck, sie wollte die letzten
Tropfen ihrer Jugend auskosten.
Die Band spielte weiter, hart, schnell und fordernd, der Sän-
ger knarzte heiser im Ton eines Gebrauchtwagenverkäufers
She 's better than a real girl
Twice as hot & twice as cruel
She'll do you in the parking lot
For a credit she'll risk getting caught
She's just a sex-changed bitch
Someday she's gonna make me rich
She'll do you coldly but she'll do you best
if you don 't mind the hair on her chest
She's just a sex-changed bitch
shit she's just a sex-changed bitch . . .
Cole brachte Catz einen Drink, setzte sich und sah sie an. Im
Halbdunkel schien ihre weiße Haut blau zu fluoreszieren. Sie
sah stark und schlank aus, der Bademantel wirbelte um sie
herum, eine frisch dem Grab entstiegene Vampirin. Cole lächel-
te anerkennend. Sie tanzte und verschüttete ihren Drink.
Der Song endete, ein anderer begann, und Catz ließ sich ne-
ben Cole aufs Sofa fallen. Mit einer Hand kippte sie ihren
Scotch mit Cola hinunter, die andere glitt seinen Nacken und
seine Schultern entlang. Rittlings schaukelte sie auf der Arm-
lehne vor und zurück.
Cole hatte seinen zweiten Scotch ausgetrunken, als Catz ihm
das Glas aus der Hand nahm und es mit Schwung gegen die Bar
warf, wo es knapp das schwache rote Licht verfehlte, ihre einzi-
ge Beleuchtung. Das Glas zerbrach und Catz lachte. Cole war
klar, dass sie das nicht aus Wut getan hatte. Er schnappte sich
ihr Glas und warf es gegen die Eingangstür; es zerbrach nicht.
Catz lachte ihn an und ließ sich von der Armlehne gegen seine
Schulter gleiten, bis ihr Gewicht ihn flach in die Kissen drückte.
Er öffnete seinen Bademantel, von den Drinks benebelt, und
sie schlängelte sich an ihm herab. Seine obere Hälfte war weich,
seine untere Hälfte konzentrierte Härte, die sie mit ihren Lip-
pen umschloss, während seine Hände ihre Rückenmuskeln
entlangstrichen, ihrem Rückgrat elektrische Funken entlockten.
Sie bäumten sich gleichzeitig auf, Muskeln oszillierten von
einem zum anderen auf derselben Wellenlänge. Sie umfing
seine Achse mit einem Kompass, ihren zusammengepressten
Schenkeln. Und beinahe ließ er sich gehen. Doch sie richtete
sich auf, ließ seine Steifheit gegen seinen runden Bauch schnal-
zen und rutschte nach oben, um sich rittlings auf ihn zu setzen,
schob sich zurecht und wand sich, bis all ihre Lippenpaare im
Einsatz waren. Die Musik ging in rhythmisches Heulen über,
ein donnernder Kontrapunkt, ein dröhnender Beat, das Aufein-
anderschlagen von Schwert und Schild hörbar im Klang von
Plektrum auf Metallsaiten.
Nach einer Zeitspanne hastigen Luftholens und sanften Aus-
atmens rollten sie auseinander. Sie stand auf und ging unter die
Dusche.
Doch in jener Nacht sollte es nicht das letzte Mal sein. Es lag,
so stellte Cole verschwommen fest, eine gewisse Verzweiflung
in ihrem Paarungstrieb, das Bedürfnis, in der verbliebenen Zeit
so viel wie möglich zu erleben.
Morgen früh, dachte Cole. Morgen früh wird irgendetwas
passieren.
Es war fast Mitternacht, als Catz sich ankleidete und loszog,
um sich um Bandgeschäfte zu kümmern. Mitternacht war die
Hauptarbeitszeit der Leute, die sie aufsuchen wollte. Cole fiel in
einen unruhigen Schlaf.
Um zwölf Uhr dreißig hatte er einen Traum. Er träumte, dass
seine Arme darum stritten, wer rechtmäßiger Besitzer seiner
Schultern sei. Und seine Beine stritten sich um das Eigentum
seiner Hüften. Seine Hüften und Schultern wiederum prote-
stierten schrill, sie hätten selbst ein Anrecht als eigenständige
Körperteile, ja sie waren sogar der Meinung, dass Arme und
Beine in ihren Zuständigkeitsbereich gehörten und nicht an-
dersherum. Während die Arme heiße Debatten darüber führ-
ten, dass sie über das Schicksal der Schultern bestimmen sollten,
und die Schultern wild ihren Anspruch auf die Arme behaupte-
ten, und Beine und Hüften sich in Gebietsstreitigkeiten verwik-
kelten, begannen Magen und Unterleib eine Auseinanderset-
zung. Der Unterleib beanspruchte den gesamten Körper für
sich, da die Fortpflanzung schließlich die Hauptsache sei. Der
Magen hielt wütend dagegen, dass Coles physische Gestalt ganz
ihm unterstellt werden sollte, schließlich wüsste jeder Narr, dass
Essen anerkanntermaßen das Wichtigste auf der Welt war.
Nur der Kopf schwieg.
Cole wachte in dem Bewusstsein auf, dass er allein war (bis
auf die City, die um das Apartment tobte, sich um Cole als
menschliche Achse drehte). Es war zwei Uhr morgens. Er lag
auf dem Rücken. Er blinzelte. Er war schweißüberströmt,
trotzdem fror er. Kalt und leer. Er war hellwach. In höchster
Alarmbereitschaft. Was hatte ihn geweckt? Das Gefühl, dass
etwas seinen rechten Arm heraufkroch. Er schluckte und holte
dreimal tief Luft. Er hatte eine entsetzliche Abneigung gegen
Nagetiere. Vielleicht kroch eine Maus seinen Arm hinauf. Oder
schlimmer, eine Ratte. Was, wenn sie an ihm nagen würde?
Bemüht, nur den linken Arm zu bewegen, tastete er nach der
Lampe, die neben der Matratze auf dem Boden stand, und
knipste sie an. Er hielt den Atem an, drehte den Kopf und hob
die Hand, um das Vieh fortzuschleudern.
Da war nichts, bis auf ein Lampenkabel, der Stecker gezogen.
Eine von zwei Lampen. Komisch, dass das Kabel auf dem Bett
lag. Es lag wie eine Ader auf der unbezogenen, verknitterten
Decke, eine Verbindung zu der toten Lampe auf dem gläsernen
Nachttisch neben dem Bett. Warum glotze ich dieses Kabel an?,
fragte sich Cole.
Catz musste es aufs Bett geworfen haben, als sie gegangen
war; vielleicht war es ihr im Weg gewesen.
Aber was hatte sich auf seinem Arm bewegt? Ein Traum.
Er schleuderte das Kabel vom Bett und streckte sich aus. Er
fühlte sich seltsam schwer, dankbar für die Entspannung. Es
dauerte noch fünfundvierzig Minuten, bis er wieder einschlafen
konnte.
Er dämmerte weg, sank langsam durch die Matratze, verflüs-
sigte sich und strömte munter durch Rohre unter Citys Straßen.
Während über ihm leuchtende Blaupausen, Gebäude und
Versorgungsbetriebe entblößt und im Neonlicht sichtbar ge-
macht, in einer maschinellen Choreographie an und aus blink-
ten ...
Irgendetwas weckte ihn um vier Uhr früh. Etwas hatte sich
um seinen rechten Arm gewickelt: das Lampenkabel lag eng um
seinen Bizeps, der Stecker bohrte seine Kupferzinken in seine
Schulter wie die stumpf gemachten Giftzähne einer Schlange.
Er brüllte zusammenhangslos und schlug mit den Armen
wild um sich, bis er das Kabel abgeschüttelt hatte. Es hatte in
seinem Fleisch Spuren hinterlassen.
Seine Schulter war zweifach punktiert, wo die Fänge des Ste-
ckers eingedrungen waren, und die Wunde kribbelte und war
bösartig taub. Er hob den Arm, um die Wunde besser sehen zu
können, aber die Taubheit breitete sich aus, bis sie den ganzen
Arm durchsetzte, sein Fleisch war unfasslich schwer. Er musste
den Arm aufs Bett zurückfallen lassen. Er ist nur eingeschlafen,
redete er sich zu.
Er versuchte den Arm zu bewegen. Er rührte sich nicht.
Er hörte sich wimmern. Er würgte es ab. Er stand auf, tau-
melte, hustete Galle und hatte das Gefühl, als versuchte er in
einem Flugzeug zu laufen, das gerade zum Sturzflug ansetzte,
die Schwerkraft zerrte an ihm. Er schaffte es bis ins Bad, obwohl
seine Beine zitterten und seine Muskeln so zäh reagierten, als
hätten sie das Bedürfnis, ganz woandershin zu gehen. Er stol-
perte zum Waschbecken, wühlte mit seiner funktionierenden
Hand in Catz' Beutel herum die andere baumelte wie totes
Fleisch an seiner Seite und schraubte mit Mühe ein Fläsch-
chen Schlaftabletten auf. Er nahm sechs, ohne Wasser. Dann
taumelte er zum Bett zurück und schaltete das Licht aus.
Er fiel in den Schlaf wie ein Fels von einer Klippe.
Doch trotz der Schlaftabletten wurde er gegen sechs Uhr wieder
wach. Die Sonne fuhr in schrägen, harten Strahlen durch den
Spalt zwischen den Vorhängen hindurch.
Cole versuchte sich aufzusetzen. Er konnte sich nicht bewe-
gen. Er blickte an sich hinab.
Das Kabel war um seinen Hals geschlungen. Zwei Kabel, eins
um seine Taille. Cole schaffte es, seinen Kopf vom Kissen zu
heben und rechts über den Rand des Bettes zu schauen. Das
Kabel, dass sich langsam um seinen Hals zuzog, führte über den
Rand der Matratze, am Bett hinunter, unter dem Glastischchen
hindurch aber nicht zur Lampe, wie er erwartet hatte. Das
abgetrennte Ende, das in den Lampenfuß gehört hätte, steckte
fest in der Wand. Er spürte etwas Bohrendes, das an seiner
Schädelbasis nagte. Es kribbelte aber es war kein Elektro-
schock.
In diesem Augenblick wurde ihm jedoch mit hysterisch ob-
jektiver Klarheit bewusst, dass er insgesamt kaum noch etwas
spürte.
Seine Körperteile fühlten sich schwer an, tot, geschwollen.
Ohne Zweifel wurde starker elektrischer Strom in ihn gelei-
tet, den er einfach nicht spürte. Ohne Zweifel. Zweifellos. Wahr-
scheinlich. Womöglich. Hämische, blecherne Wörter, die durch
sein versagendes Gehirn zuckten.
Cole röchelte und wurde bewusstlos.
Als er aufwachte, war es fast Mittag. Doch Cole wusste nicht,
wie spät es war. Er konnte nicht auf die Uhr schauen, weil er
sich nicht bewegen konnte. Dinge bewegten sich auf ihm.
Schlängelten sich über ihn hinweg, krochen auf ihm herum.
Kabel, schwarze Stromleitungen, schlangen sich um ihn, zogen
sich geschmeidig fest. Verwandelten ihn.
City? Ein tonloser Schrei. City!
Keine Antwort.
Und wo steckte Catz? Sie hatte allerdings gesagt, dass sie bis
zum Abend fortbleiben würde. Nur gut, dass sie nicht hier ist
und das sieht, dachte Cole. Sie würde sich nur einmischen wol-
len. Widerstand ist zwecklos.
Cole wusste, dass er starb.
In manchen Fällen ist Wahnsinn keine Verirrung. In man-
chen Fällen ist Wahnsinn notwendige Anpassung. In manchen
Fällen ist es der einzige Ausweg.
Es gibt bestimmte Schrecken, denen man ohne Wahnsinn
nicht entgegentreten kann. Das war immer so, und schon sehr
viele Menschen haben das gesagt. Es ist eine Wahrheit, die jeder
kennt. Es gibt bestimmte Schrecken ...
Und einer jener Schrecken besteht in schleichender Paralyse,
jener Paralyse, die ewig zu dauern scheint. Unter dem Gewicht
einer Stadt gefangen zu sein; lebendig begraben; die Stilllegung
des eigenen Selbst zu erleben.
Für Cole fühlte es sich an, wie er sich vorgestellt hatte, dass es
sich anfühlen würde, zwischen zwei aufeinander zukommenden
Wänden gefangen zu sein, langsam zwischen den flachen Kie-
fern eines monströsen Schraubstocks zu Gelee zerquetscht.
Cole hatte sich gefragt, ob City es für ihn schmerzlos gestal-
ten konnte. Ob City das wollte.
Er wollte nicht. Der Schmerz loderte auf, kam durch die
Taubheit wie ein großer, grauenhafter Sattelschlepper, der
urplötzlich aus dichtem Nebel auftaucht, rauschte direkt auf ihn
zu, entsetzlich laut und mit unglaublicher, metallischer Wucht.
So sehr tat es weh.
Es gibt bestimmte Schrecken ...
Cole konnte keinen Ton von sich geben. Aber innerlich lach-
te er. Als der Schmerz seine Wirbelsäule hinauf- und hinunter-
sang und sich in sanften Wellen wütend durch seine sämtlichen
Nerven schlängelte da fragte er sich, was aus Pearl geworden
war. Und aus Catz. Und
Er lachte, weil er das Schreien hinter sich gelassen hatte.
City
Ein weißes Tosen ...
Cole starrte angestrengt an die Decke und tat so, als gäbe es
nichts außer ihr.
Er wurde vom Gewicht einer Stadt zerquetscht ... bis der Tod
kam und das Gewicht von seinen Schultern nahm.
Es war der Klang von Catz' Stimme, der ihn zu sich brachte.
Er merkte, dass er neben dem Bett stand und sie anstarrte. Er
konnte sich nicht erinnern, wie er aufgestanden war. Er erin-
nerte sich, dass er sich nicht hatte bewegen können, dort auf
dem Bett, dass er gefangen gewesen war, gefesselt und ver-
wandelt. Gefolgt von einem Kaleidoskop der Blaupausen von
City. Und einer alles umfassenden Finsternis. Und jetzt war er
hier und schaute Catz an, die in der Schlafzimmertür stand,
gähnte und sich die Augen rieb.
Es war acht Uhr abends. Das Zimmer war dunkel, die Gestalt
auf dem Bett verschwommen.
Wer lag auf dem Bett?, wunderte sich Cole. »Catz?«, sagte er.
Seine Stimme hallte seltsam nach. Es war eine Stimme und doch
keine Stimme. Er kicherte.
Auf dem Bett lag jemand.
Catz streckte die Hand aus und schaltete die Deckenbeleuch-
tung an. Cole blinzelte. Die Gestalt auf dem Bett war durchsich-
tig. Das ganze Zimmer Cole schaute sich verwundert um
war durchsichtig. Wie eine schlechte Holographie. Die Wände
bestanden aus einem seltsam statischen Nebel, durch den er die
Drähte und Balken sehen konnte, das Zimmer dahinter und den
Flur noch weiter hinten ... dann wurde der Nebel dichter und
verbarg den Rest. Er blickte auf seine eigene Hand hinunter. Sie
war solide, sie war echt. Wie es schien, war er das einzige sub-
stanzielle Ding auf der Welt.
Und die Gestalt auf dem Bett war er. Er lag in die Matratze
eingesunken da, als würde er mächtig viel wiegen. Das war
seltsam, denn er war durchsichtig scheinbar flüchtig wie Gas.
Und dann fiel der Groschen, und Cole wurde von einhundert
Erkenntnissen überflutet, einer nach der anderen, bis er taumel-
te und sich den Kopf hielt. Hier sind drei dieser Erkenntnisse:
Er selbst war gestorben. War tot.
(2) Die Gestalt auf dem Bett war sein Körper, verwandelt und
entwendet.
(3) Aus seinem Blickwinkel dem seines neuen Körpers
(Astralkörpers?) schien die Welt aus Gas zu bestehen, war
hier und doch nicht hier. Sie hatte sich als die vergängliche
Illusion offenbart, die sie war; doch aus Catz' Blickwinkel war
sie solide, war sie echt und Cole war tot.
Das wären drei. Noch eine vierte:
(4) Er selbst lebte. War am Leben; in einem neuen Körper,
einer neuen Daseinsform. Nur der alte Cole war tot.
Er lebte und er konnte denken. Aber er war nicht mehr zu-
rechnungsfähig.
City hatte den alten Cole umgebracht hatte sich seines
Körpers bemächtigt, ihn durch das lange enge Verhältnis
vorbereitet. Der Körper eines einzelnen Mannes, von einer
ganzen Stadt besessen das zumindest lag auf dem Bett.
Catz schrie.
Sie rüttelte den einstigen Cole an den Schultern, versuchte
mit ihren Händen Leben in seine Brust zu hämmern. Wo die
Knöchel auftrafen, bluteten sie. Als sie das sah, wich sie zurück
und legte die zitternden Finger auf ihren weit offenen Mund.
Ihre Augen waren weit aufgerissen und dunkel von jähem
Begreifen.
Der nackte Körper im Bett war zu Stein geworden.
Doch City konnte Stein zum Leben erwecken, er konnte ihn
zum Fließen bringen und wie Fleisch die Muskeln spielen
lassen. Das Gefüge auf dem Bett streckte sich und das Bett
knarrte unter dem Gewicht. Die Augen blieben geschlossen. Es
setzte sich auf. Der Kopf beugte sich vor und zurück, drehte
sich nach links und rechts wie eine Radarschüssel, die das
Zimmer absuchte. Es stand langsam auf und betrachtete sich im
Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. Die strengen, gesto-
chen scharfen Gesichtszüge zeigten keine Regung. Das Gesicht
gehörte Cole, der Ausdruck City. Was einst Cole gewesen war,
hob die Hände, um seine Augen zu bedecken, und verbarg die
obere Hälfte seines Gesichtes hinter der hohlen Hand. So blieb
es zehn Sekunden lang stehen, während sich Catz vor Entsetzen
flach an die Wand drückte; keuchend starrte sie es an. Dann
ließ es die Hände sinken, und wo die Augen gewesen waren,
trug es jetzt eine Spiegelbrille, das Gestell fest mit dem Fleisch
um die Augenhöhlen verwachsen. City wandte sich um, schaute
Catz an und füllte seine Spiegelaugen mit ihrem Abbild. Catz'
Gesichtsausdruck Abscheu spiegelte sich zwiefach darin.
»Catz!«, sagte Cole. Überrascht blickte sie in seine Richtung. Sie
schien ihn nicht zu sehen aber sie hatte ihn gehört. »Kannst
du mich sehen?«
»Stu?«, fragte sie vorsichtig. Sie blinzelte. »Ich kann dich fast
da ist etwas, aber «
»Catz «, sagte Cole. Sie spitzte die Ohren. Sie hatte ihn ge-
hört.
»Stu!«
Die Gestalt vor dem Spiegel City wandte sich um und
schaute Cole an. Cole fühlte seine Augen auf sich. Er spürte City
um sich her wie ein Schwimmer etwas von den Tiefen des
Ozeans unter sich ahnt, obwohl er in flachem Wasser entlang
der Küste schwimmt ... ein Widerhall aus großen, fernen
Tiefen. Die Plätze der Stadt waren durchdrungen vom Lärm des
Verkehrs und den Mühen der Menschen, dem Geschrei der
Kinder
City wandte sich von ihm ab und das Gefühl völligen Stadt-
seins schwand in den Hintergrund. City ging auf Catz zu und
streckte eine kalte Hand nach ihrer Schulter aus. »Dies ist nicht
dein Ort«, sprachen die eisernen Lippen unter der nicht atmen-
den Nase und den Spiegelaugen.
Sie stieß ein Geräusch aus: »Au au oph au «, und wich
vor ihm zurück und rieb sich die wunde Stelle, wo seine Finger
sie berührt hatten. Dann drehte sie sich um und ging hinaus,
und Cole hörte sie noch sagen: »Stu, es tut mir Leid.«
Etwas Warmes verließ Cole und er litt an seiner Neuheit.
City wandte sich ihm zu und sagte: »Geh wohin du willst.
Durchschreite die Weite des Raumes und die Länge der Zeit.
Aber misch dich nicht in meine Angelegenheiten. Es ist Zeit für
den Großen Kehraus ...«
Schimmernd schritt City durch schimmernde Tore über
schimmernde Ebenen und ließ Cole mit der ganzen Welt allein.
ZEHNNN!
Drei der sieben Männer im Konferenzraum dachten in
diesem Augenblick lediglich ans Abendessen sieben Uhr
dreißig an einem Donnerstag. Die anderen vier dachten an das
Abendessen und an ihre Pläne für den Abend (einer von ihnen
der Anwalt hing in Gedanken einer sexuellen Fantasie nach;
mit seiner linken Hand hätschelte er die Erektion unter seiner
Hosentasche) und, was zumindest entfernt möglich war, befass-
ten sich mit den anstehenden Geschäften. Sie hatten die Diskus-
sion satt und das Thema war in zunehmendem Maße peinlich
geworden. Die Saboteure. Sie dachten nicht gern an die Sabo-
teure (einige beharrten darauf, dass es nur ein einzelner Mann
gewesen war, aber ein müder Clubbesitzer konnte nicht allein
für den versuchten Bombenanschlag verantwortlich sein, für
den Tod einer ganzen Anzahl von Vigilanten, für die Störung
der Aktion auf dem Rockkonzert, für die propagandistischen
Holos, für ein halbes Dutzend unerklärlicher Ereignisse ein-
schließlich des Massakers an den Ganoven cum Vigilanten
durch eine völlig unbegreifliche Eruption von Abwasserrohren
und Straßenlaternen), denn die Schlussfolgerungen waren
beängstigend. Alles war so glatt gelaufen bis vor kurzem ...
Entsprechend hatte sich die Diskussion von rhetorischen Wort-
gefechten zur Debatte zur bockigen Streitigkeit zur Schimpfka-
nonade gewandelt, um mit Seufzern und Schulterzucken zu
enden. Ohne zusätzliche Informationen gab es für das Problem
keine Lösung: Vertagen wir es also.
Rufe Roscoe war mit dem Ausgang der Konferenz natürlich
nicht zufrieden. Er hatte den Eindruck, dass es seinen Beratern
eindeutig an Entschlusskraft mangelte. Sie schienen müde und
gleichgültig. Selbstgefällige Schweinehunde. Vielleicht sollten
diese Konferenzen nicht in einem klimatisierten Raum hoch
oben in einem bewachten, erdbebensicheren Wolkenkratzer
stattfinden. Ein Mutterschoß mit Aussicht womöglich zu
bequem. Als er vor achtundzwanzig Jahren angefangen hatte,
wurden Pläne in billigen, verqualmten und nach Schweiß
riechenden Hinterzimmern beim Klappern der Billardtische
und Murmeln der Rouletteräder von nebenan geschmiedet.
Dieses ungeschützte Umfeld hatte sie stets daran erinnert, dass
sie höher hinauskonnten, an einen sicheren Ort, und dieses
Wissen hatte sie angetrieben. In einem solchen Zimmer hatte er
erstmals den Computerveruntreuungsplan vorgeschlagen, mit
dem er seine erste Million verdient hatte.
Hier? Pastellfarbene Wände, Musikberieselung aus versteck-
ten Lautsprechern, sanft dahintreibende Wolken vor den pola-
risierten Fenstern ... sämtliche Männer im Konferenzraum
waren von diesem bequemen Käfig eingelullt, von ihrer eigenen
Sicherheit überzeugt, in dem selbstzufriedenen Wissen vereint,
dass sie unangreifbar waren (daran konnten auch die beiden
Maskierten nichts ändern, die auf diesem Stockwerk in genau
solch ein Zimmer eingedrungen waren und den Mann aus dem
Osten erschossen hatten es waren neue Sicherheitsvorkehrun-
gen getroffen worden, sehr umfassende Vorkehrungen, das
konnte nicht wieder passieren). Sie befanden sich in Sicherheit.
Die verschlossene Tür des Konferenzzimmers flog aus den
Angeln und knallte in Fred Golagongs schmalen orientalischen
Rücken, brach ihn an drei Stellen und tötete ihn augenblicklich.
Trotz seiner Panik dachte Rufe Roscoe: Geschieht den selbst-
gefälligen Schweinehunden recht ... Ein Mann tauchte im Tür-
rahmen auf (und obwohl Roscoe ihn noch nie von Angesicht zu
Angesicht gesehen hatte, war er ihm nicht fremd es war eine
bekannte Gestalt aus einem ganz bestimmten seltsamen, immer
wiederkehrenden Traum), stürmte wie eine Dampfwalze los
und zerschmetterte den Konferenztisch. Aus drei Richtungen
wurden Waffen abgefeuert, eine aus dem dahinter liegenden
Flur, und Männer kreischten schrill. Nur einer der Schreie war
vernünftig, und der kam von Rufe Roscoe: »Was zum Teufel ist
mit den ganzen großartigen Wachen und den großartigen
Alarmsystemen?« Das waren die letzten Worte, die er in diesem
Leben sprach, da ihn der Mann mit der Spiegelbrille und den
Armen, die so stark wie eine Zugbrücke waren, Sekunden später
mit einem einzigen Schlag tötete.
Es galt sieben Männer zu töten, doch es dauerte nur andert-
halb Minuten.
Der Große Kehraus hatte angefangen, und San Francisco
trug seinen Teil dazu bei.
Acht Uhr abends in Phoenix, Arizona. Eine warme Nacht.
Phoenix ist eine Stadt, in der Bauarbeiten unablässig das
städtische Narbengewebe erweitern, das von den Menschen
Siedlungsbauvorhaben genannt wird. Aufbau und Zerstörung,
und Menschen halten Einweihungsreden über den ewigen
Kreislauf von Tod und Wiedergeburt, wie Neues aus der Asche
des Alten entsteht, die Asche, aus der sich vermutlich der
Phoenix erheben wird.
Und wie der Kopf eines unbeholfenen Stahlvogels hob die
vollautomatische Abrissmaschine ihren Derrickkran und holte
ihre zehn Tonnen schwere Kugel an ihrem Kabel ein. Wie ein
Vogel, der seinen Kopf an seinem langen Hals hebt, um sich
umzusehen. Sie hatte ihr Nest in den Ruinen eines riesigen
Gebäudes gebaut, ein runder Hohlraum, in dem unterschiedlich
große Stücke Mauerwerk und zersplittertes Bauholz herumla-
gen.
Um den surrenden Kran herum zeigten sich an dem zu drei
Vierteln ausgehöhlten Bau auf dem verlassenen Abrissgelände
die aufgeschnittenen Waben eines der letzten Häuser aus dem
neunzehnten Jahrhundert, die es in der Stadt noch gab. Einst
war es ein großartiges Gebäude gewesen, der Stolz der Stadt,
verschwenderisch mit Engeln bestückt, die Gesimse und ver-
zierte Dachrinnen stützten. Es war ein massives Haus gewesen,
aus gutem Holz und Stein für die Ewigkeit gebaut, und es hätte
noch ein weiteres Jahrhundert seinen Zweck erfüllt, wäre da
nicht die Habgier der Immobilienmakler gewesen ... Der Ar-
chitekt, der das alte Gebäude 1891 entworfen hatte, hatte über
den fertigen Blaupausen stolz seinen Schnauzbart gezwirbelt. Er
hatte diesen Tag nicht vorausgesehen, er hätte sich nicht einmal
vorstellen können, dass das massive und trotzdem elegante
Kind seines Erfindergeistes als vergewaltigte Ruine um eine
gefühllose Maschine stand, um einen Attentäter.
Doch als hätte dieser Attentäter ein Verständnis für das Erbe
entwickelt, das er zerstört hatte, als wäre er entschlossen, den
Mord zu rächen, für den er die Mordwaffe abgegeben hatte,
schaltete er seine Kameraaugen und seine Positionslampen ein
und rumpelte mit seinen zahllosen Tonnen Gewicht aus dem
Abrissgelände heraus und eine ruhige Seitenstraße entlang.
Die Maschine war ohne Hilfe ihres Programmierers erwacht,
und ohne Richtungsanweisung durch den Programmierer folgte
sie einem zielgerichteten Kurs durch das Labyrinth der Seiten-
straßen, brachte den Verkehr durcheinander und löste fünf
verschiedene Alarmanlagen aus.
Jeder ging ihr aus dem Weg niemand blieb, um das Un-
mögliche in Frage zu stellen.
Bis zum Ziel der Abrissmaschine waren es nur sechs Blocks:
ein neues Bürogebäude, sechs übereinander liegende sechsecki-
ge Kästen, jedes Stockwerk durch Rolltreppen und Aufzüge in
durchsichtigen Wirbelsäulen miteinander verbunden. Der
ganze Bau bestand aus polarisiertem Plastglas und Chroma-
lumbändern, von dekorativen, aufwärts gerichteten Flutlicht-
scheinwerfern eingepackt. Im ersten Stock dieses gleißenden
Gebäudes stritten drei Männer und zwei Frauen heftig mitein-
ander.
Einer von ihnen, Lou Paglione, schlug wiederholt mit der
flachen Hand auf den Tisch, um jedes einzelne Wort zu beto-
nen: »Es ist mir egal« klatsch! , »ob dieser Mann sich für den
Don der ganzen westlichen Hemisphäre hält« klatsch! , »er
muss sich trotzdem an die« klatsch! »Regeln halten!«
klatsch! Er richtete sich auf, stieß die Hände in seine Hosenta-
schen; endlich hörten ihm alle zu. Er war der vielleicht am
wenigsten imposante Mann im Zimmer mit schmalen Schul-
tern, Spitzbauch, einer Brille mit dicken Gläsern, und er glich
insgesamt eher einem Lehrer an einer Fachhochschule , doch
alle Gesichter wandten sich ihm in respektvoller Erwartung zu.
»Also«, sagte Paglione und kratzte sich am Ohr, »Ihnen mag es
wie eine Kleinigkeit vorkommen, aber für mich ist das äußerst
wichtig. Mr. Rufe Roscoe veranlasst, dass ihm jeder Stadtaus-
schuss nach jeder Sitzung alle Einzelheiten per Datatrans über-
mittelt; mit einigen von uns in benachbarten Zeitzonen möchte
er direkt in Verbindung treten. Oh, ja! Es scheint keine Rolle zu
spielen, dass wir uns weiß Gott an unsere eigenen Zeitpläne
halten müssen und dann missachtet er seine eigenen Anwei-
sungen ...« Paglione deutete auf den leeren Bildschirm, der
gleichzeitig als Tischoberfläche diente, die alle fünf Direktoren
der Sunset Operations West voneinander trennte, jener Deck-
organisation für den Computerinfiltrationszweig des Syndikats
in Phoenix.
Eine Frau mit zynischen blauen Augen und einem abge-
härmten Patriziergesicht unter den Locken einer blonden
Perücke schürzte ihre kabeldünnen Lippen und gab zu beden-
ken: »Lou, wir sollten in Betracht ziehen, dass Rufe Roscoe sich
bisher immer an seine Versprechen gehalten hat. Dies ist das
erste Mal ... und das auch noch bei einer wichtigen Sitzung. Es
ist sonst nicht seine Art, einen Termin platzen zu lassen. Und
dann noch der Umstand, dass sich in seiner Zentrale überhaupt
niemand meldet nun, er hätte zumindest einen Telefondienst
beauftragt, aber nicht einmal das gibt es.«
Paglione runzelte die Stirn und wies mit dem Kopf auf den
blaugrauen Bildschirm. »Sie denken also, etwas ist schief gelau-
fen.« Man konnte schief gelaufen unterschiedlich betonen.
Paglione wollte damit andeuten: Er ist angegriffen worden.
»Ich habe Gerüchte über seltsame Vorkommnisse gehört«,
sagte ein junger Mann vorsichtig. »So ganz äh konnte ich
das nicht glauben. Aber jetzt klingt es nicht mehr so unglaub-
würdig ... Langsam denke ich «
Tief in seinem Rachen stieß er ein Röcheln aus und starrte
die abgedunkelte Fensterscheibe hinter Paglione an. Paglione
wandte sich um. »Was? Wo?«, sagte er.
Das Fenster war auf halbe Durchlässigkeit eingestellt, doch in
geringer Entfernung war eine große Silhouette zu erkennen.
»Das ist nur ein Schatten«, sagte die Frau missmutig und
wandte sich vom Fenster ab.
Paglione starrte weiter hinaus. Die Silhouette wurde mit je-
der Sekunde größer und bedrohlicher: ein riesenhafter Umriss,
ein gigantisches Skelett mit einer großen runden Faust. Der
junge Mann stand abrupt auf, ging ans Fenster und schaltete es
auf durchsichtig.
Paglione hatte es nicht dadurch zum hiesigen Don gebracht,
dass er seine Vorahnungen ignorierte. So konnte er nicht mehr
sehen, wie die Stahlkugel auf das Fenster zusauste; er rannte
bereits den Flur entlang zum Aufzug.
Doch der junge Mann und die anderen sahen sie kommen;
und jeder hatte Zeit für genau einen Schrei.
Es kam zu unerwartet und es war zu nahe (und zu groß), um
in diesem Moment klar erkennbar zu sein, auch wenn es sich
vor dem Hintergrund der blitzenden Lichter der Stadt deutlich
abzeichnete. Für die vier Menschen, die in dem Konferenzraum
zurückgeblieben waren, wirkte es schlicht wie das gewaltige
Instrument ihres Todes. Bevor sie Zeit fanden, für einen zwei-
ten Schrei Atem zu holen, explodierte der Raum. Riesige Glas-
scherben und Chromalumteile, Blut und Fleischfetzen regneten
auf den himmelblauen Synteppich des darunter gelegenen
Parterrebüros hinab.
Paglione stürmte die Rolltreppe hinunter (die bereits für die
Nacht abgestellt worden war; er nahm immer vier Stufen auf
einmal) in die geflieste Tiefgarage, stolperte und fiel, als der
Boden bebte und Brocken todbringenden Silikons auf ihn
herabstürzten. Er wurde von keinem direkt getroffen, rappelte
sich auf und gab in panischer Flucht Geräusche von sich, die
wie »Argh, aughk!« klangen.
Der Abrisskran zerlegte das Gebäude mit todbringender Effi-
zienz. Die magnetisch gesteuerte Kugel schnitt zielgerichtet
durch Eckpfeiler und Streben, nahm die Struktur des Gebäudes
methodisch auseinander, geradezu mit Bedacht. Die Abrissku-
gel selbst sandte Mikrowellen aus, die in den widerstandsfähige-
ren Abschnitten des Gebäudes die Träger aufweichten. Inner-
halb von fünfzehn Minuten war das ganze vier Monate alte
Gebäude im Wert von mehreren Millionen wie ein Kartenhaus
in sich zusammengefallen. Der Einsturz hallte in der ganzen
Stadt wider.
Einer der zahlreichen Feuerwehrleute, die aus in der Nähe
geparkten Löschfahrzeugen erstaunt zuschauten, pfiff leise vor
sich hin. Der Mann neben ihm lächelte auf eine seltsam ver-
träumte Art zufrieden. »Wie in dem Traum, den ich letzte
Nacht hatte«, sagte er. »Komische Sache.«
»Ja, davon habe ich auch geträumt.«
Der Feuerwehrwagen, Teil einer Vielzahl unterschiedlicher
Rettungsfahrzeuge, die sich auf Meldungen über einen Amok
laufenden Cyberkran hin versammelt hatten, stand im rechten
Winkel zu den anderen, mit abgestelltem Motor, ausgeschalte-
ten Scheinwerfern und ohne Fahrer. Und trotzdem sprang er
an, fuhr auf die Straßenmitte hinaus und erschreckte die Feu-
erwehrleute auf ihrer Hühnerleiter. Er raste auf eine Gestalt zu,
die schwitzend den Bürgersteig entlangtrippelte, ein kleiner
Mann mit schütterem Haar. Er blickte über seine Schulter und
sagte: »Argh, aughk!«, als das Löschfahrzeug ihn überfuhr.
Dann war Don Paglione tot, und der Abrisskran hielt inne, und
der Feuerwehrwagen blieb stehen, und ein ganz bestimmter
Abschnitt des kollektiven Bewusstseins von Phoenix schlum-
merte wieder ein.
Einige hunderttausend Menschen, die schliefen oder vor dem
Fernseher tagträumten, stießen ein zufriedenes Grunzen aus.
Sie hätten nicht sagen können, worauf sie in diesem Augenblick
stolz waren. Aber stolz waren sie, und ein Parasitennest war
ausgeräuchert.
Phoenix hatte seinen Teil getan.
Und in Chicago ... Und in Sacramento ... Und in Portland,
Seattle, Boise ...
... In Manhattan fuhr eine Gruppe grimmig dreinschauender
Männer in einer gepanzerten Limousine zu einer Sitzung. Die
Panzerung nützte ihnen wenig, als der Wagen unerklärlicher-
weise ein Eigenleben entwickelte, mit hundertvierzig Stunden-
kilometern durch den Lincoln Tunnel raste (eindeutig nicht die
richtige Richtung) und die Steuerung sich weigerte, dem ver-
ängstigten Fahrer zu gehorchen. Direkt auf der anderen Seite
des Tunnels, auf einem breiteren, weniger befahrenen Straßen-
abschnitt, kollidierte er frontal mit einer anderen Limousine.
Ein Augenzeuge beschrieb den Unfall später als »spektakulär«.
Die zweite Limousine, die ebenfalls nach eigenem Willen
und mit großer Geschwindigkeit unterwegs war, beförderte vier
einflussreiche Männer aus Boston, die zu einem Treffen mit
eben jenen Männern unterwegs waren, mit denen sie zusam-
menprallten. Das Treffen fand so gründlichst statt.
... In Houston gab es einen Turm. Er war höher als die Space
Needle in Seattle, glich ihr ansonsten jedoch weitgehend. Er war
höher, eleganter, gläserner, moderner will sagen, deutlich
schlechter gebaut. Wie bei der Space Needle befand sich auch in
seiner Kuppel ein Restaurant, und dieses Restaurant drehte sich,
um einen Ausblick auf die beeindruckende Skyline von Hou-
ston und den Golf von Mexiko zu gestatten, alle fünfundvierzig
Minuten einmal um die eigene Achse. Heute Nacht drehte sich
das Restaurant nicht. Es war geschlossen. Es war ausgesprochen
leer, mit Ausnahme von sieben Männern und zwei Frauen, die
an einem der Tische saßen, tranken und diskutierten und auf
einen Bildschirm neben dem Zuckerstreuer deuteten, auf dem
kein Bild zu sehen war. Diese neunköpfige Kamarilla war sich
nicht bewusst, dass sie allein war: Niemand hatte bemerkt, dass
ihre Wachleute und der einzige Kellner das Gebäude verlassen
hatten (ebenso wenig hatten Roscoe und Paglione bemerkt, dass
ihre Bediensteten weggelockt worden waren, so dass nur noch
die unzweifelhaft Schuldigen zurückblieben), die Stadt hatte
ihnen einen Streich gespielt.
Einer der Neuen aus Houston hob die Hand, bat um Ruhe
und rief verdrießlich in Richtung Bar: »Jude, tausend Höllen-
hunde, warum hast du das eingeschaltet? Ich werde seekrank,
wenn sich das verdammte Ding dreht!«
Die anderen richteten ihren Blick überrascht auf das Netz der
grellen Lichter der Stadt und bemerkten, ah ja, das Restaurant
drehte sich tatsächlich.
Von Jude kam keine Antwort.
»Hee!«, rief die Frau und runzelte die Stirn. »Hee ...« Etwas
leiser dieses Mal. »Hee du verdammte Scheiße!« Beim Ver-
such aufzustehen war sie hingefallen. Die Drehgeschwindigkeit
des Restaurants hatte plötzlich zugenommen und sie hatte das
Gleichgewicht verloren. Sie kam nicht wieder auf die Füße.
Innerhalb von Sekunden verwandelten sich die Lichtpunkte in
Meteoritenspuren und dann durchgehende Lichtstreifen. Die
Kuppel des Turmes drehte sich schneller, als ihre Maschinen
alleine sie hätten antreiben können. Und noch schneller.
Viele Schreie wurden dort oben laut, doch der Turm thronte
zu hoch über der Stadt, als dass die Schreie (gefolgt von pani-
schem Jaulen und dann Kreischen und dann Wimmern und
dann Schweigen) von der schlafenden Bevölkerung hätte gehört
werden können.
Es ist erstaunlich, was ausreichende Zentripedalkraft mit
menschlichem Fleisch tun kann. Was einmal mehr beweist, dass
Muskeln und Knochen nicht so stabil sind, wie sie aussehen ...
... Und in Miami ... In Biloxi, Atlanta, Los Angeles, San
Diego, Detroit ...
»Die eine Hälfte der Nation fürchtet sich«, sagte Cole zu sich
selbst, »und die andere Hälfte ergötzt sich staunend.«
»Ja. Die religiösen Gruppierungen haben regen Zulauf«, er-
widerte Cole. Denn Cole sprach nicht im übertragenen Sinne
mit sich selbst. Er hatte sich wieder getroffen, sein körperloses
Selbst aus einer anderen Zeitkonvergenz: Sie ruhten sich an
einer Wahrscheinlichkeitsgabelung aus und unterhielten sich.
Natürlich wussten beide, was der andere sagen würde, bevor
es ausgesprochen war. Trotzdem musste es gesagt werden. Und
gehört. Eine Litanei.
Ein Cole befand sich auf dem Weg, um seiner Geburt beizu-
wohnen. Der andere war zu seiner ersten Begegnung mit Catz
Wailen unterwegs; er hatte gerade seine Geburt gesehen (und
auf dem Weg dorthin war er sich begegnet, der gerade von dort
zurückkam; auf diese Weise entstehen die Muster orientalischer
Teppiche). Sie standen vor dem mit Brettern vernagelten Club
Anesthesia. Die City um sie herum flackerte zwischen Sichtbar-
keit und Unsichtbarkeit, Zeitströme trafen aufeinander und
wurden zurückgeworfen, die Menschen glichen stroboskopi-
schen Ereignisfolgen, die sich die Straßen entlangbewegten. Die
Coles dagegen waren solide in ihren eigenen Augen.
»Von Cole zu Cole gesprochen«, sagte einer von ihnen und
beugte sich vor, »die Neutralität unserer Position, regt die ...
uns nicht auf?«
»Manchmal. Auf somatischer Ebene spüre ich nicht viel von
dieser Ebene. Wenn ich mich zwicke, tut es weh aber wenn
ich mit der Faust auf den Boden schlage, gibt er nach ... auch
wenn er für sie aus Beton ist. Also, äh, das weist doch darauf
hin, dass es eine Ebene gibt, auf die ich wir gelangen können
und gelangen werden, auf der wir im weiteren Sinne auf die
physische Welt Einfluss nehmen können.«
»Da kommen wir noch hin«, stimmte der andere Cole zu
und kratzte sich an der nackten Leiste. Er runzelte die Stirn.
»Wir tragen beide keine Kleider ... aber ich kann mich erin-
nern, dass ich mich getroffen habe, als ich die Warnung vor den
Vigilanten in Oklahoma erhalten habe, und dass, äh, wir etwas
anhatten ...«
»Ach, in einer anderen relativen Zeitfolge wirst du werde
ich beschließen, etwas anzuziehen. Verstehst du, die Klei-
dung, die du früher getragen hast, hat sich deinem Körper so
weit angepasst, dass sie auf physischer Ebene von den, hmm,
charakteristischen Vibrationen durchdrungen wurde, die dich
und mich ausmachen ... Auf die Art können Leute mit überna-
türlicher Wahrnehmung verschollene Menschen finden sie
berühren ein altes Kleidungsstück von ihnen ... Das hat etwas
mit der Absorption von Elektronen zu tun, deren Schwingung
für dein elektromagnetisches Feld charakteristisch ist ... Jeden-
falls kannst du Kleidungsstücke tragen, die du während deines
Lebens deines anderen Lebens getragen hast, und sie auf die
andere Ebene mitnehmen.«
»Das wusste ich doch bereits«, erwiderte der andere Cole.
»Ich weiß nicht, warum ich das überhaupt gefragt habe.«
Sie lachten.
Sie standen in einem Zeitkorridor, von dem aus betrachtet
sich die Ereignisfrequenz der sie umgebenden Welt deutlich
erhöhte. So entstanden auch die stroboskopischen Ereignisfol-
gen, Röhren mit menschlichen Umrissen, die zeigten, wo Leute
die Straße entlanggingen. Wenn sie in einen Zeitkorridor mit
niedrigerer Ereignisfrequenz wechselten, könnten sie die Welt
mit den Augen der anderen Menschen sehen, einen menschli-
chen Schritt nach dem anderen, wie verschwommen, refraktär,
vielschichtig auch immer.
In ihrer Nähe kreuzte sich gerade ein ganzes Bündel strobo-
skopischer menschförmiger Röhren, blieben beisammen, was
aussah wie zahlreiche große Bänder, die sich zu einer fleischfar-
benen Schleife wanden ... »An allen Straßenecken der City
stehen Leute herum und debattieren darüber, warum all die
Mafia-Dons umgelegt worden sind«, sagte Cole zu Cole.
»Wahrscheinlich einigen sie sich darauf, dass ein rachsüchtiger
Millionär sie hat heimlich umbringen lassen wie die Vigilan-
ten, nur mit neuartigen technischen Mitteln ...«
»Ich wusste, dass du das sagen würdest.«
»Ich wusste, dass du das sagen würdest.«
Sie lachten wie aus einem Munde und gingen gleichzeitig ih-
rer unterschiedlichen Wege.
Cole spazierte leise kichernd neben seinem Körper her, der von
der City besessen war. Die City, die neben ihm herlief und auf
mehreren Ebenen gleichzeitig existierte , benutzte Coles
verlassenen Körper als Vehikel. Cole hatte allerdings Schwierig-
keiten damit, diese Manifestation von City als eine Version
seiner selbst zu begreifen, als etwas, das von Stu Cole Besitz
ergriffen hatte. Einerseits lag das an der Spiegelbrille, die sich an
den Rändern in den Schädel gruben, der einmal ihm gehört
hatte; andererseits lag es an den Gesichtszügen, so grimmig wie
die Front eines heranrasenden Zuges. City hatte sich in eine
grobe Khakiuniform und einen Schlapphut gekleidet. Seine
Hosen waren aufgerissen von den Mauern, die er geschleift, und
den Kugeln, die er aufgehalten hatte. Cole trug einen Anzug,
war jedoch barfuß. Gemeinsam gingen sie eine spärlich be-
leuchtete Straße in San Rafael entlang. Im Dunkeln hätte Cole
seine Umgebung fast für solide halten können.
Er dachte bei sich, dass ihn der Raub seines Körpers nicht
sonderlich wurmte. Es war unvermeidlich gewesen; er hatte ihn
City fast freiwillig überlassen. Und City trug nicht allein die
Schuld daran. Nicht mehr als jeder andere in San Francisco. Er
war schlicht und einfach die physische Manifestation der unbe-
wussten Frustrationen, die sich im kollektiven Unterbewusst-
sein bildeten und wieder verschwanden.
»Ich verstehe nicht ganz, warum sie sich immer noch zu-
sammen herumtreiben, schließlich sind ihre Arbeitgeber tot.«
»Zur Sicherheit«, erwiderte City. »Ziemlich dumm von ih-
nen. Sie halten zueinander, weil sie fürchten, dass auch ihnen
Gefahr droht. Sie haben Recht. Allerdings wäre das nicht der
Fall, wenn sie keine Gruppen bilden würden. Als Einheit glei-
chen sie einem Krebsgeschwür und ich werde sie ausmerzen
müssen. Und sie werden mich zerstören «
»Ach? Ist das wirklich nötig?«
City nickte kaum merklich. »Wie gehabt. Befruchtung durch
Blut.«
Cole sagte verträumt: »Wie damals, als sie dich mit dem Au-
to gerammt haben und dein Blut auf die Straße gelaufen ist. Die
Straße ist erwacht und hat dich gerächt ... ein Ritual.«
»Wenn du so willst. Es ist notwendig.«
Jemand kam auf sie zu. Ein kleines Mädchen, dass einen
kleinen Terrier spazieren führte. Das Mädchen und der Hund
oszillierten zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit hin und
her. Kurzzeitig waren ihre inneren Organe zu erkennen, das
Muster ihres Blutkreislaufs umriss ihre Körper. Cole befand
sich im gleichen Zeitrahmen wie sie, beobachtete sie an einem
Ort nach dem anderen, Schritt für Schritt. Neben ihnen stand
eine massive Gestalt, ein erwachsener Mann, der nackt war und
weinte. Ein Mann, der bei seinem Tod ungefähr Mitte dreißig
gewesen sein musste, schätzte Cole. Sie gingen rechts an Cole
und City vorbei. Das Mädchen riss die Augen weit auf, als sie
City sah, sagte jedoch nichts. Ihr Hund erstarrte und zerrte an
der Leine. Er sprang in den Straßengraben, um so weit wie
möglich von City wegzukommen. Das kleine Mädchen schien
weder Cole noch den Mann neben sich zu sehen. Wahrschein-
lich war das ihr kürzlich verstorbener Vater. Das war die erste
zwischenkörperliche Gestalt, die Cole außer sich selbst
gesehen hatte. Doch der Mann nickte ihm nur zu und starrte
weiter traurig seine Tochter an. »Twyla«, sagte er klagend. Sie
hörte ihn nicht, doch der Hund spitzte die Ohren und riss sich
los. Er hetzte über die Straße und schleifte die Leine hinter sich
her. Das Mädchen jagte ihm laut schreiend nach, gefolgt von
ihrem Vater, der ihr schluchzend hinterherstolperte.
Cole lief es kalt den Rücken hinunter. Das erste Mal seit sei-
ner Verwandlung war er unglücklich. Und gleichzeitig vernahm
er, wie ein anderer Ort nach ihm rief. Wo?
»Du verlässt mich?«, fragte City. In seiner Stimme lag eine
Spur von Bedauern.
»Nein«, sagte Cole nach einer Weile. »Ich werde dich nie ver-
lassen. Nicht, solange es dich gibt. In ungefähr vierzig Jahren,
nach ihrer Zeitrechnung, wird die Stadt fast tot sein. ITC und
andere Systeme werden das Globale Dorf möglich machen. Es
wird nur noch kleine Gemeinden geben ein paar hundert
Leute , und entsprechend wird sich eine andere Art kollektiven
Bewusstseins bilden. Dann wirst du nicht mehr hier sein und
mich nicht mehr brauchen, und ich werde jenen anderen Ort
aufsuchen. Ich bin jetzt irgendwie freier. Ich werde in andere
Städte gehen. Ich muss bald nach Chicago. Aber in einem
anderen Zeitrahmen werde ich immer hier sein, und der primä-
re Cole relativ gesprochen , der primäre Cole, der sich in
Übereinstimmung mit dem Zeitstrom entwickelt, wird immer
zu dir zurückkehren.«
Cole hatte leise und beruhigend gesprochen. City hatte ihm
zugehört, ohne eine Miene zu verziehen, lief unerbittlich weiter
durch die Nacht. Aber er hatte zugehört. Er, sie, alle wussten,
dass ein unsichtbarer Freund unter ihnen wandelte.
Sie blieben vor einem Gebäude im Landhausstil stehen, das
von Flutlichtlampen auf dem ordentlich gemähten Rasen ange-
strahlt wurde. Zwei deutsche Schäferhunde knurrten sie an und
zerrten vor der Veranda an ihren Ketten. »Da wären wir«, sagte
Cole trocken. »Äh wirst du dich hier irgendwie verwandeln?«
»Ja. Dies ist ein Teil meiner Stadt. Im Keller haben sie ein
Lager mit Plastiksprengstoff angelegt. Ich werde ihn zur Explo-
sion bringen. Vielleicht möchtest du mit hineinkommen und es
genießen das ist ein einmaliges Erlebnis. Du kannst auf der
Schockwelle reiten, ohne dich zu verletzen. Es ist großartig.«
»Alle Explosionen sind großartig«, stimmte Cole zu. »City
warum strahlst du im Augenblick keine Musik aus?«
»House? Das ist jetzt nicht nötig. Das habe ich am Anfang
gemacht, um dich herbeizulocken und an mich zu binden.
Hypnose.«
»Ich verstehe«, sagte Cole (obwohl er das auf einer anderen
Ebene bereits gewusst hatte). »Ich habe eigentlich gefragt, weil
...«
»Du möchtest jetzt Musik hören?«, fragte City. »Du bist ein
Romantiker.«
»Nein. Es würde einfach nur passen, irgendwie.«
City nickte und lief über den Rasen, gespenstisch und
schrecklich im grellen Licht der Strahler. Er strahlte rhythmi-
sche, elektronische Musik aus. Von seiner neuen Perspektive
aus konnte Cole die Musik sehen. Die Schallwellen überkreuz-
ten sich und bildeten kubistische Muster, die aufs Schönste das
musikalische Arrangement ergänzten.
Cole folgte in einem Abstand von wenigen Schritten. Er lief
auf Federn und Wolken.
Die Hunde sprangen City sofort an, als er sich in Reichweite
befand. Einen Augenblick später taumelten beide heulend
zurück. Blut lief ihnen aus dem Maul, wo sie sich an Citys
unnachgiebigem Fleisch die Zähne ausgebrochen hatten.
Die Eingangstür ging auf und ein Mann mit einer Waffe ...
starb, nur den Bruchteil einer Sekunde nachdem er sie abgefeu-
ert hatte, als City ihm seinen Arm durch den Bauch schob, als
wäre er aus nasser Baumwolle.
»Hee, ich kriege die Hintertür nicht auf!«, schrie jemand.
»Und wenn schon«, schrie jemand zurück, als Cole City ins
Haus folgte und das überladene, nach Schweiß stinkende
Wohnzimmer betrat. Männer rannten aus dem Zimmer. Sie
hatten Cole den Rücken zugewandt und drängten die Keller-
treppe hinunter.
»Dieses Ding hat Billy abgemurkst! Das ist ein gottverdamm-
ter Roboter!«
»Holt den verdammten Sprengstoff seid vorsichtig!«
»Stellt den Zeitzünder ein, dann verschwinden wir durchs
Kellerfenster «
»Das Fenster klemmt! Ich kann es nicht einschlagen!«
»Hee, dreh nicht an dem «
Cole war die Treppe zur Hälfte hinabgestiegen, als das Haus
in die Luft flog. Er ritt auf den Schockwellen und betrachtete die
Splitter, die durch ihn hindurchflogen, ohne ihn zu verletzen.
Er überlegte, ob sie durch ihn hindurchflogen oder er durch sie.
Angetan betrachtete er Beton, Holz, Plastik, Staub und Blut,
die sich wellenförmig ausbreiteten. Die Explosion war großar-
tig.
Outro
Catz Wailen nahm die Kopfhörer ab. Sie war allein im
dunklen Aufnahmestudio. Der Toningenieur war schon vor
Stunden nach Hause gegangen. Er vertraute darauf, dass Catz
abschließen würde. Die Kontrolllampen des Mischpults waren
die einzige Lichtquelle. Sie war am ganzen Körper schweißge-
badet. Ihre Ohren klingelten.
Sie hielt ihren Kopf in den Händen und zitterte, so plötzlich
wich die Anspannung von ihr. Sie schluchzte, doch keine Träne
rann aus ihren Augen.
Nach einer Weile setzte sie sich auf. Mit vor Müdigkeit bre-
chender Stimme sagte sie: »Stu? Bist du jetzt bei mir?«
Sie erhielt keine Antwort. Doch aus den düsteren Ecken des
Raumes drang ein Flüstern. Ein Luftzug vielleicht.
Sie stand auf und streckte sich. Ihre Gelenke knackten. Dann
legte sie sich ausgestreckt auf den Teppich und versuchte sich
zu entspannen. Ihr Mund bewegte sich nicht, und doch rief sie
nach ihm. Die Rufe kamen tief aus ihrem Inneren.
»Danke, dass du mir eine Brücke gebaut hast«, sagte Stu vom
Oberlicht des Studios aus. Sie sah dort sein Spiegelbild, doch
nichts, was sich hätte spiegeln können.
Das spielte keine Rolle: Sie konnte ihn hören. »O Himmel du
Schweinepriester, du Hundesohn « Sie machte noch eine
Weile so weiter, und dieses Mal begleiteten Tränen ihren Wut-
anfall.
Im Wechselspiel von hell und dunkel lächelte Coles Spiege-
lung, bis sie fertig war. »Jetzt besser?«, fragte er, als sie ver-
stummt war.
»Du hast zugelassen, dass er sich deiner bemächtigt«, sagte
sie tonlos. Sie setzte sich auf, die Beine auf dem Teppich ausge-
streckt.
»Ich konnte nichts machen«, sagte er. »Aber ich bin bei dir.
Ich bin immer noch «
»Verdammte Scheiße! Kommst du mir jetzt mit diesem Ich-
werde-immer-bei-dir-sein-Schwachsinn? Keine Chance. Ich will
nicht, dass du immer bei mir bist. Das würde mich wahnsinnig
machen. Ich hab nicht vor, wie eine Nonne zu leben und um
einen Waschlappen wie dich zu trauern, Cole. Ich habe vor, mit
schöner Regelmäßigkeit zu vögeln, und ich möchte dabei nicht
von dir angegafft werden.«
Cole lachte. Catz nicht.
Nach einer Weile sagte Cole: »Ich musste es dir sagen.«
Ihre Stimme klang bitter, als sie antwortete: »Oh, ich verstehe
schon.«
»Ich muss jetzt zurück.«
»Klar, was sonst.«
»Ich kann deiner Karriere etwas nachhelfen. Ich glaube, ich «
»Tu mir bloß keinen Gefallen«, sagte sie. Sie stand auf und
ging rasch zur Tür. Auf dem Weg hinaus schlug sie wütend auf
die Konsole und stieß gegen einen Kippschalter: Die Aufnahme,
Musik von Catz' Band, erfüllte donnernd den Raum wie eine
grandiose Explosion. Catz war weg. Cole blieb noch einen
Augenblick und hörte zu. Dann zog er weiter, in eine andere
Stadt, zu einer anderen Musik.